Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

Nervenverletzungen
hat 7 Fälle der letzteren Art beobachtet; sie lassen natürlich niemals Heilung
oder Besserung zu.

Neben den Kopfverletzungen mag als eine, indessen seltene Ursache die
Insolation erwähnt werden, die ohne Zweifel durch Entstehung starker Gehirn-
hyperämie (und Oedem?), vielleicht mit Beihülfe der nervösen Ueberreizung des
Gehirns durch lange ausgehaltenes, grelles Sonnenlicht wirkt. Ellis *) erzählt
2 Fälle von Geisteskrankheit durch Insolation, deren einer mit Genesung, der
andere mit Blödsinn endigte.

Von ausgezeichnetem pathologischen Interesse sind die Fälle, wo
das Irresein nach (und ohne Zweifel in Folge) einer, verhältniss-
mässig unbedeutenden peripherischen Nervenverletzung (über-
haupt Verletzung der Weichtheile) oder peripherisch entstandener
Erkrankung der (Sinnes-) Nerven, z. B. peripherischer Taubheit, ent-
stand. So haben wir bei einer hysterischen Frau nach einer, ganz
ungefährlichen Verletzung des Augs durch einen hingeflogenen Holz-
splitter, tiefe Melancholie entstehen sehen; so hat man (Herzog) einen
Fall von Irresein nach der Operation des Strabismus **) beobachtet;
so berichtet Foville ***) von zahlreichen Fällen oberflächlicher Er-
krankung des cerebellum bei Irren, entstanden nach peripherischen
Störungen im Quintus und Acusticus; es gehört ferner hierher der
(schon p. 108) angeführte Fall von Jördens +), wo ein Knabe durch
kleine, in die Fusssohle eingedrungene Glassplitter tobsüchtig ward,
und es bis zu ihrer Entfernung blieb, und es sind unzweifelhaft die
von Zeller ++) erwähnten Erkrankungen nach bloss äusserlichen Kopf-
wunden zu dieser pathogenetischen Categorie zu rechnen +++). Indem
diese Fälle allerdings an das Delirium nervosum nach und während
der Operationen lebhaft erinnern, schliessen sie sich als identisch
entstandenes Gehirnleiden, dem traumatisch-tetanischen Rückenmarks-
leiden an, ihrerseits die Gleichheit der Wege der Erkrankung für die
verschiedenen, eben in ihrer eigenthümlichen Energie reagirenden,
Abschnitte des Central-Nervensystems beurkundend.

Zunächst hierher gehören weiter jene heftigen oder anhaltend
fortdauernden Nervenreizungen von der Peripherie des Organismus;

*) Traite de l'alienation etc. p. Archambault. 1840. p. 81.
**) Oppenheims Zeitschr. XXI. 1842. p. 101. Aus den Petersburger Abhand-
lungen, wo ich leider den Fall nicht im Originale vergleichen konnte.
***) Note an die Academie. L'Institut. 16. Janv. 1843.
+) Hufelands Journal Bd. IV. p. 224.
++) Damerow und Roller, Journal I. 1. p. 49.
+++) Vergl. weiter die von Hirsch (Spinalneurosen. p. 131 seqq.) angeführ-
ten Fälle.

Nervenverletzungen
hat 7 Fälle der letzteren Art beobachtet; sie lassen natürlich niemals Heilung
oder Besserung zu.

Neben den Kopfverletzungen mag als eine, indessen seltene Ursache die
Insolation erwähnt werden, die ohne Zweifel durch Entstehung starker Gehirn-
hyperämie (und Oedem?), vielleicht mit Beihülfe der nervösen Ueberreizung des
Gehirns durch lange ausgehaltenes, grelles Sonnenlicht wirkt. Ellis *) erzählt
2 Fälle von Geisteskrankheit durch Insolation, deren einer mit Genesung, der
andere mit Blödsinn endigte.

Von ausgezeichnetem pathologischen Interesse sind die Fälle, wo
das Irresein nach (und ohne Zweifel in Folge) einer, verhältniss-
mässig unbedeutenden peripherischen Nervenverletzung (über-
haupt Verletzung der Weichtheile) oder peripherisch entstandener
Erkrankung der (Sinnes-) Nerven, z. B. peripherischer Taubheit, ent-
stand. So haben wir bei einer hysterischen Frau nach einer, ganz
ungefährlichen Verletzung des Augs durch einen hingeflogenen Holz-
splitter, tiefe Melancholie entstehen sehen; so hat man (Herzog) einen
Fall von Irresein nach der Operation des Strabismus **) beobachtet;
so berichtet Foville ***) von zahlreichen Fällen oberflächlicher Er-
krankung des cerebellum bei Irren, entstanden nach peripherischen
Störungen im Quintus und Acusticus; es gehört ferner hierher der
(schon p. 108) angeführte Fall von Jördens †), wo ein Knabe durch
kleine, in die Fusssohle eingedrungene Glassplitter tobsüchtig ward,
und es bis zu ihrer Entfernung blieb, und es sind unzweifelhaft die
von Zeller ††) erwähnten Erkrankungen nach bloss äusserlichen Kopf-
wunden zu dieser pathogenetischen Categorie zu rechnen †††). Indem
diese Fälle allerdings an das Delirium nervosum nach und während
der Operationen lebhaft erinnern, schliessen sie sich als identisch
entstandenes Gehirnleiden, dem traumatisch-tetanischen Rückenmarks-
leiden an, ihrerseits die Gleichheit der Wege der Erkrankung für die
verschiedenen, eben in ihrer eigenthümlichen Energie reagirenden,
Abschnitte des Central-Nervensystems beurkundend.

Zunächst hierher gehören weiter jene heftigen oder anhaltend
fortdauernden Nervenreizungen von der Peripherie des Organismus;

*) Traité de l’aliénation etc. p. Archambault. 1840. p. 81.
**) Oppenheims Zeitschr. XXI. 1842. p. 101. Aus den Petersburger Abhand-
lungen, wo ich leider den Fall nicht im Originale vergleichen konnte.
***) Note an die Académie. L’Institut. 16. Janv. 1843.
†) Hufelands Journal Bd. IV. p. 224.
††) Damerow und Roller, Journal I. 1. p. 49.
†††) Vergl. weiter die von Hirsch (Spinalneurosen. p. 131 seqq.) angeführ-
ten Fälle.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0151" n="137"/><fw place="top" type="header">Nervenverletzungen</fw><lb/>
hat 7 Fälle der letzteren Art beobachtet; sie lassen natürlich niemals Heilung<lb/>
oder Besserung zu.</p><lb/>
              <p>Neben den Kopfverletzungen mag als eine, indessen seltene Ursache die<lb/><hi rendition="#g">Insolation</hi> erwähnt werden, die ohne Zweifel durch Entstehung starker Gehirn-<lb/>
hyperämie (und Oedem?), vielleicht mit Beihülfe der nervösen Ueberreizung des<lb/>
Gehirns durch lange ausgehaltenes, grelles Sonnenlicht wirkt. Ellis <note place="foot" n="*)">Traité de l&#x2019;aliénation etc. p. Archambault. 1840. p. 81.</note> erzählt<lb/>
2 Fälle von Geisteskrankheit durch Insolation, deren einer mit Genesung, der<lb/>
andere mit Blödsinn endigte.</p><lb/>
              <p>Von ausgezeichnetem pathologischen Interesse sind die Fälle, wo<lb/>
das Irresein nach (und ohne Zweifel in Folge) einer, verhältniss-<lb/>
mässig unbedeutenden <hi rendition="#g">peripherischen Nervenverletzung</hi> (über-<lb/>
haupt Verletzung der Weichtheile) oder peripherisch entstandener<lb/>
Erkrankung der (Sinnes-) Nerven, z. B. peripherischer Taubheit, ent-<lb/>
stand. So haben wir bei einer hysterischen Frau nach einer, ganz<lb/>
ungefährlichen Verletzung des Augs durch einen hingeflogenen Holz-<lb/>
splitter, tiefe Melancholie entstehen sehen; so hat man (Herzog) einen<lb/>
Fall von Irresein nach der Operation des Strabismus <note place="foot" n="**)">Oppenheims Zeitschr. XXI. 1842. p. 101. Aus den Petersburger Abhand-<lb/>
lungen, wo ich leider den Fall nicht im Originale vergleichen konnte.</note> beobachtet;<lb/>
so berichtet Foville <note place="foot" n="***)">Note an die Académie. L&#x2019;Institut. 16. Janv. 1843.</note> von zahlreichen Fällen oberflächlicher Er-<lb/>
krankung des cerebellum bei Irren, entstanden nach peripherischen<lb/>
Störungen im Quintus und Acusticus; es gehört ferner hierher der<lb/>
(schon p. 108) angeführte Fall von Jördens <note place="foot" n="&#x2020;)">Hufelands Journal Bd. IV. p. 224.</note>, wo ein Knabe durch<lb/>
kleine, in die Fusssohle eingedrungene Glassplitter tobsüchtig ward,<lb/>
und es bis zu ihrer Entfernung blieb, und es sind unzweifelhaft die<lb/>
von Zeller <note place="foot" n="&#x2020;&#x2020;)">Damerow und Roller, Journal I. 1. p. 49.</note> erwähnten Erkrankungen nach bloss äusserlichen Kopf-<lb/>
wunden zu dieser pathogenetischen Categorie zu rechnen <note place="foot" n="&#x2020;&#x2020;&#x2020;)">Vergl. weiter die von Hirsch (Spinalneurosen. p. 131 seqq.) angeführ-<lb/>
ten Fälle.</note>. Indem<lb/>
diese Fälle allerdings an das Delirium nervosum nach und während<lb/>
der Operationen lebhaft erinnern, schliessen sie sich als identisch<lb/>
entstandenes Gehirnleiden, dem traumatisch-tetanischen Rückenmarks-<lb/>
leiden an, ihrerseits die Gleichheit der Wege der Erkrankung für die<lb/>
verschiedenen, eben in ihrer eigenthümlichen Energie reagirenden,<lb/>
Abschnitte des Central-Nervensystems beurkundend.</p><lb/>
              <p>Zunächst hierher gehören weiter jene heftigen oder anhaltend<lb/>
fortdauernden Nervenreizungen von der Peripherie des Organismus;<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[137/0151] Nervenverletzungen hat 7 Fälle der letzteren Art beobachtet; sie lassen natürlich niemals Heilung oder Besserung zu. Neben den Kopfverletzungen mag als eine, indessen seltene Ursache die Insolation erwähnt werden, die ohne Zweifel durch Entstehung starker Gehirn- hyperämie (und Oedem?), vielleicht mit Beihülfe der nervösen Ueberreizung des Gehirns durch lange ausgehaltenes, grelles Sonnenlicht wirkt. Ellis *) erzählt 2 Fälle von Geisteskrankheit durch Insolation, deren einer mit Genesung, der andere mit Blödsinn endigte. Von ausgezeichnetem pathologischen Interesse sind die Fälle, wo das Irresein nach (und ohne Zweifel in Folge) einer, verhältniss- mässig unbedeutenden peripherischen Nervenverletzung (über- haupt Verletzung der Weichtheile) oder peripherisch entstandener Erkrankung der (Sinnes-) Nerven, z. B. peripherischer Taubheit, ent- stand. So haben wir bei einer hysterischen Frau nach einer, ganz ungefährlichen Verletzung des Augs durch einen hingeflogenen Holz- splitter, tiefe Melancholie entstehen sehen; so hat man (Herzog) einen Fall von Irresein nach der Operation des Strabismus **) beobachtet; so berichtet Foville ***) von zahlreichen Fällen oberflächlicher Er- krankung des cerebellum bei Irren, entstanden nach peripherischen Störungen im Quintus und Acusticus; es gehört ferner hierher der (schon p. 108) angeführte Fall von Jördens †), wo ein Knabe durch kleine, in die Fusssohle eingedrungene Glassplitter tobsüchtig ward, und es bis zu ihrer Entfernung blieb, und es sind unzweifelhaft die von Zeller ††) erwähnten Erkrankungen nach bloss äusserlichen Kopf- wunden zu dieser pathogenetischen Categorie zu rechnen †††). Indem diese Fälle allerdings an das Delirium nervosum nach und während der Operationen lebhaft erinnern, schliessen sie sich als identisch entstandenes Gehirnleiden, dem traumatisch-tetanischen Rückenmarks- leiden an, ihrerseits die Gleichheit der Wege der Erkrankung für die verschiedenen, eben in ihrer eigenthümlichen Energie reagirenden, Abschnitte des Central-Nervensystems beurkundend. Zunächst hierher gehören weiter jene heftigen oder anhaltend fortdauernden Nervenreizungen von der Peripherie des Organismus; *) Traité de l’aliénation etc. p. Archambault. 1840. p. 81. **) Oppenheims Zeitschr. XXI. 1842. p. 101. Aus den Petersburger Abhand- lungen, wo ich leider den Fall nicht im Originale vergleichen konnte. ***) Note an die Académie. L’Institut. 16. Janv. 1843. †) Hufelands Journal Bd. IV. p. 224. ††) Damerow und Roller, Journal I. 1. p. 49. †††) Vergl. weiter die von Hirsch (Spinalneurosen. p. 131 seqq.) angeführ- ten Fälle.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/151
Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/151>, abgerufen am 24.11.2024.