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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Elend und Entbehrungen.
Ermunterung durch dss Beispiel Vieler, in der Macht der öffentlichen Sittlichkeit
und des erwachten öffentlichen Gewissens Kraft und Stütze findet. *)

Die Trunksucht ist natürlich beim männlichen Geschlechte eine viel wichtigere
und häufigere Ursache des Irreseins, als bei den Weibern; doch kommen auch
hier, nicht nur unter dem Pöbel oder in der Classe der Prostituirten -- wo ohne-
diess der Säufer-Wahnsinn nicht eben selten ist,-- sondern auch in den höheren
Ständen bei hysterischen Weibern, namentlich in den climacterischen Jahren,
Beispiele von Trunksucht und daraus entstandenem Irresein vor. Sutton erzählt
einen Fall, wo bei einer Frau nach einem übermässigem Gebrauch von Lavendel-
tinctur gegen Schlaflosigkeit das Delirium tremeus ausbrach.

Die eigentliche sogenannte Dipsomanie oder periodische, intermittirende
Trunksucht, gehört nicht zu den Ursachen, sondern ist vielmehr selbst Symptom eines
periodischen Irreseins. Man hat nemlich einzelne Fälle beobachtet -- und auch wir
kennen einen solchen -- wo von Zeit zu Zeit anfangs unter allerlei nervösen Symp-
tomen, Kopfschmerz, grosser Abgeschlagenheit, Schlaflosigkeit, Ekel, nagenden
Empfindungen in der Magengegend sich grosse, geistige Verstimmung, allgemeines
Missbehagen, ein Zustand mässiger Schwermuth einstellen, wo dann nach kurzer
Zeit der Kranke unruhig wird, anfängt in Wirthshäusern herumzulaufen, und sich,
meist mehrere Tage anhaltend fort, stark betrinkt. Der Rausch steigert sich
nun gewöhnlich zu einem maniacalischen Anfall, aus dem dann der Kranke bald
schnell bald erst später in tiefer Apathie erwacht und nun oft lange einen wahren
Abscheu gegen Spirituosa zeigt. Gewöhnlich wiederholen sich solche Anfälle.
Bei ihrer Beurtheilung ist namentlich auf die An- oder Abwesenheit eines vor-
ausgegangenen Stadium melancholicum und auf den Umstand zu achten, ob der
Kranke sonst durchaus mässig lebt oder auch Neigung zum Trunke zeigt. Im
letztern Falle ist die Entstehung des Sauf-Raptus aus Krankheit immer im
höchsten Grade problematisch. **)

§. 80.

2) Eine in ähnlicher Weise complicirte, zugleich direct psychische
und somatische Wirkung, wie die Trunksucht, übt überhaupt das in
äusserer Unruhe und Sturm, in Unordnung und Liederlichkeit
hingebrachte Leben aus, und Elend und Entbehrungen schliessen
sich hieran als höchst wichtige und häufig allein nachweisbare Ur-
sachen an. Wie häufig ergibt sich bei Betrachtung der Antecedentien
der Irren, ein regelloses, in wechselnden Abentheuern, unstetem Treiben
und sonderbaren Verwicklungen hingegangenes Leben, voll Glücks-
wechsel, Strapazen, Elend und Ausschweifungen, voll von Verhältnissen,
die eine reiche Quelle von Conflicten mit der Welt, von Gemüths-
aufregungen und inneren Bedrängnissen werden mussten. Wie häufig

*) Vgl. Marc, die Geisteskrankheiten. II. p. 471 und die Bemerkungen von Ide-
ler, der dieses Thema auf eine dieser ernsten Sache würdige Weise besprochen hat.
**) Vgl. Brühl-Cramer, über die Trunksucht etc. 1819. Hohnbaum über die
psych. Behandlung der Trunksüchtigen. Nasses Zeitschr. f. psych. Aerzte. 1820.
Marc-Ideler II. l. c.

Elend und Entbehrungen.
Ermunterung durch dss Beispiel Vieler, in der Macht der öffentlichen Sittlichkeit
und des erwachten öffentlichen Gewissens Kraft und Stütze findet. *)

Die Trunksucht ist natürlich beim männlichen Geschlechte eine viel wichtigere
und häufigere Ursache des Irreseins, als bei den Weibern; doch kommen auch
hier, nicht nur unter dem Pöbel oder in der Classe der Prostituirten — wo ohne-
diess der Säufer-Wahnsinn nicht eben selten ist,— sondern auch in den höheren
Ständen bei hysterischen Weibern, namentlich in den climacterischen Jahren,
Beispiele von Trunksucht und daraus entstandenem Irresein vor. Sutton erzählt
einen Fall, wo bei einer Frau nach einem übermässigem Gebrauch von Lavendel-
tinctur gegen Schlaflosigkeit das Delirium tremeus ausbrach.

Die eigentliche sogenannte Dipsomanie oder periodische, intermittirende
Trunksucht, gehört nicht zu den Ursachen, sondern ist vielmehr selbst Symptom eines
periodischen Irreseins. Man hat nemlich einzelne Fälle beobachtet — und auch wir
kennen einen solchen — wo von Zeit zu Zeit anfangs unter allerlei nervösen Symp-
tomen, Kopfschmerz, grosser Abgeschlagenheit, Schlaflosigkeit, Ekel, nagenden
Empfindungen in der Magengegend sich grosse, geistige Verstimmung, allgemeines
Missbehagen, ein Zustand mässiger Schwermuth einstellen, wo dann nach kurzer
Zeit der Kranke unruhig wird, anfängt in Wirthshäusern herumzulaufen, und sich,
meist mehrere Tage anhaltend fort, stark betrinkt. Der Rausch steigert sich
nun gewöhnlich zu einem maniacalischen Anfall, aus dem dann der Kranke bald
schnell bald erst später in tiefer Apathie erwacht und nun oft lange einen wahren
Abscheu gegen Spirituosa zeigt. Gewöhnlich wiederholen sich solche Anfälle.
Bei ihrer Beurtheilung ist namentlich auf die An- oder Abwesenheit eines vor-
ausgegangenen Stadium melancholicum und auf den Umstand zu achten, ob der
Kranke sonst durchaus mässig lebt oder auch Neigung zum Trunke zeigt. Im
letztern Falle ist die Entstehung des Sauf-Raptus aus Krankheit immer im
höchsten Grade problematisch. **)

§. 80.

2) Eine in ähnlicher Weise complicirte, zugleich direct psychische
und somatische Wirkung, wie die Trunksucht, übt überhaupt das in
äusserer Unruhe und Sturm, in Unordnung und Liederlichkeit
hingebrachte Leben aus, und Elend und Entbehrungen schliessen
sich hieran als höchst wichtige und häufig allein nachweisbare Ur-
sachen an. Wie häufig ergibt sich bei Betrachtung der Antecedentien
der Irren, ein regelloses, in wechselnden Abentheuern, unstetem Treiben
und sonderbaren Verwicklungen hingegangenes Leben, voll Glücks-
wechsel, Strapazen, Elend und Ausschweifungen, voll von Verhältnissen,
die eine reiche Quelle von Conflicten mit der Welt, von Gemüths-
aufregungen und inneren Bedrängnissen werden mussten. Wie häufig

*) Vgl. Marc, die Geisteskrankheiten. II. p. 471 und die Bemerkungen von Ide-
ler, der dieses Thema auf eine dieser ernsten Sache würdige Weise besprochen hat.
**) Vgl. Brühl-Cramer, über die Trunksucht etc. 1819. Hohnbaum über die
psych. Behandlung der Trunksüchtigen. Nasses Zeitschr. f. psych. Aerzte. 1820.
Marc-Ideler II. l. c.
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[132/0146] Elend und Entbehrungen. Ermunterung durch dss Beispiel Vieler, in der Macht der öffentlichen Sittlichkeit und des erwachten öffentlichen Gewissens Kraft und Stütze findet. *) Die Trunksucht ist natürlich beim männlichen Geschlechte eine viel wichtigere und häufigere Ursache des Irreseins, als bei den Weibern; doch kommen auch hier, nicht nur unter dem Pöbel oder in der Classe der Prostituirten — wo ohne- diess der Säufer-Wahnsinn nicht eben selten ist,— sondern auch in den höheren Ständen bei hysterischen Weibern, namentlich in den climacterischen Jahren, Beispiele von Trunksucht und daraus entstandenem Irresein vor. Sutton erzählt einen Fall, wo bei einer Frau nach einem übermässigem Gebrauch von Lavendel- tinctur gegen Schlaflosigkeit das Delirium tremeus ausbrach. Die eigentliche sogenannte Dipsomanie oder periodische, intermittirende Trunksucht, gehört nicht zu den Ursachen, sondern ist vielmehr selbst Symptom eines periodischen Irreseins. Man hat nemlich einzelne Fälle beobachtet — und auch wir kennen einen solchen — wo von Zeit zu Zeit anfangs unter allerlei nervösen Symp- tomen, Kopfschmerz, grosser Abgeschlagenheit, Schlaflosigkeit, Ekel, nagenden Empfindungen in der Magengegend sich grosse, geistige Verstimmung, allgemeines Missbehagen, ein Zustand mässiger Schwermuth einstellen, wo dann nach kurzer Zeit der Kranke unruhig wird, anfängt in Wirthshäusern herumzulaufen, und sich, meist mehrere Tage anhaltend fort, stark betrinkt. Der Rausch steigert sich nun gewöhnlich zu einem maniacalischen Anfall, aus dem dann der Kranke bald schnell bald erst später in tiefer Apathie erwacht und nun oft lange einen wahren Abscheu gegen Spirituosa zeigt. Gewöhnlich wiederholen sich solche Anfälle. Bei ihrer Beurtheilung ist namentlich auf die An- oder Abwesenheit eines vor- ausgegangenen Stadium melancholicum und auf den Umstand zu achten, ob der Kranke sonst durchaus mässig lebt oder auch Neigung zum Trunke zeigt. Im letztern Falle ist die Entstehung des Sauf-Raptus aus Krankheit immer im höchsten Grade problematisch. **) §. 80. 2) Eine in ähnlicher Weise complicirte, zugleich direct psychische und somatische Wirkung, wie die Trunksucht, übt überhaupt das in äusserer Unruhe und Sturm, in Unordnung und Liederlichkeit hingebrachte Leben aus, und Elend und Entbehrungen schliessen sich hieran als höchst wichtige und häufig allein nachweisbare Ur- sachen an. Wie häufig ergibt sich bei Betrachtung der Antecedentien der Irren, ein regelloses, in wechselnden Abentheuern, unstetem Treiben und sonderbaren Verwicklungen hingegangenes Leben, voll Glücks- wechsel, Strapazen, Elend und Ausschweifungen, voll von Verhältnissen, die eine reiche Quelle von Conflicten mit der Welt, von Gemüths- aufregungen und inneren Bedrängnissen werden mussten. Wie häufig *) Vgl. Marc, die Geisteskrankheiten. II. p. 471 und die Bemerkungen von Ide- ler, der dieses Thema auf eine dieser ernsten Sache würdige Weise besprochen hat. **) Vgl. Brühl-Cramer, über die Trunksucht etc. 1819. Hohnbaum über die psych. Behandlung der Trunksüchtigen. Nasses Zeitschr. f. psych. Aerzte. 1820. Marc-Ideler II. l. c.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/146>, abgerufen am 24.11.2024.