Wir haben nun die hauptsächlichsten nähern Ursachen der Geistes- krankheiten einzeln zu besprechen. Bei ihrer grossen Mannigfaltig- keit, bei der Verschiedenheit ihrer, dazu oft wenig bekannten, Wirkungs- weisen entziehen sie sich einer logisch scharfen Anordnung, und wir wollen sie gruppenweise, nach ihrer Wichtigkeit und Bedeutung ge- ordnet, neben einanderstellen.
Die psychischen Ursachen halten wir für die häufigsten und ergiebigsten Quellen des Irreseins, sowohl was die Vorbereitung als namentlich und hauptsächlich die unmittelbare Erregung der Krankheit betrifft; bekennen indessen, dass sich diese Ansicht nicht sowohl auf Zählungen, *) sondern auf den Gesamteindruck vieler Beobachtungen stützt. Unter diesen psychischen Ursachen sind vor allem die voraus- gegangenen leidenschaftlichen und affectartigen Zustände zu verstehen, denn es ist eine entschiedene Thatsache, dass die rein intellectuelle Ueberanstrengung, ohne begleitende Gemüthsaffection und ohne ander- weitige starke Ursachen, (z. B. sinnliche Excesse, durch Excitantia künstlich erregte Schlaflosigkeit) nur in den seltensten Fällen zum Irrewerden führt.
Solches ist dagegen von den anhaltenderen oder heftigeren Ge- müthsbewegungen unzweifelhaft, und es kommen unter ihnen ganz besonders die unangenehmen, widrigen und depressiven Gemüths- zustände in Betracht, während die übermässige Freude allein den Irrenhäusern noch ausserordentlich wenige, vielleicht gar keine Kranke übergeben hat. Pinel, das Muster eines Irrenarztes für alle Zeiten, war so sehr von dieser Wahrheit überzeugt, dass er immer an einen neuen Kranken zuerst die Frage richtete: haben Sie Verdruss, Kummer, Widerwärtigkeiten erlitten? **) -- und heute noch, so selten als damals bekommt man auf diese Frage eine negative Antwort. Im Einzelnen können diese schmerzhaften Gemüthszustände nach ihrer Art
*) Wir könnten sehr viele Zahlen für obigen Satz anführen, namentlich aus neuester Zeit die von Parchappe und Brierre de Boismont den Berechnungen Mor- eaus entgegengestellten Angaben (Comptes rendus. XVII. 1843. p. 134. p. 279.) Wir halten aber eine rein statistische Lösung der Frage für ganz unmöglich aus den §. 63. 64. angegebenen Gründen.
**) Georget, de la Folie. Par. 1820, p. 160.
Zweites Kapitel. Psychische Ursachen.
§. 77.
Wir haben nun die hauptsächlichsten nähern Ursachen der Geistes- krankheiten einzeln zu besprechen. Bei ihrer grossen Mannigfaltig- keit, bei der Verschiedenheit ihrer, dazu oft wenig bekannten, Wirkungs- weisen entziehen sie sich einer logisch scharfen Anordnung, und wir wollen sie gruppenweise, nach ihrer Wichtigkeit und Bedeutung ge- ordnet, neben einanderstellen.
Die psychischen Ursachen halten wir für die häufigsten und ergiebigsten Quellen des Irreseins, sowohl was die Vorbereitung als namentlich und hauptsächlich die unmittelbare Erregung der Krankheit betrifft; bekennen indessen, dass sich diese Ansicht nicht sowohl auf Zählungen, *) sondern auf den Gesamteindruck vieler Beobachtungen stützt. Unter diesen psychischen Ursachen sind vor allem die voraus- gegangenen leidenschaftlichen und affectartigen Zustände zu verstehen, denn es ist eine entschiedene Thatsache, dass die rein intellectuelle Ueberanstrengung, ohne begleitende Gemüthsaffection und ohne ander- weitige starke Ursachen, (z. B. sinnliche Excesse, durch Excitantia künstlich erregte Schlaflosigkeit) nur in den seltensten Fällen zum Irrewerden führt.
Solches ist dagegen von den anhaltenderen oder heftigeren Ge- müthsbewegungen unzweifelhaft, und es kommen unter ihnen ganz besonders die unangenehmen, widrigen und depressiven Gemüths- zustände in Betracht, während die übermässige Freude allein den Irrenhäusern noch ausserordentlich wenige, vielleicht gar keine Kranke übergeben hat. Pinel, das Muster eines Irrenarztes für alle Zeiten, war so sehr von dieser Wahrheit überzeugt, dass er immer an einen neuen Kranken zuerst die Frage richtete: haben Sie Verdruss, Kummer, Widerwärtigkeiten erlitten? **) — und heute noch, so selten als damals bekommt man auf diese Frage eine negative Antwort. Im Einzelnen können diese schmerzhaften Gemüthszustände nach ihrer Art
*) Wir könnten sehr viele Zahlen für obigen Satz anführen, namentlich aus neuester Zeit die von Parchappe und Brierre de Boismont den Berechnungen Mor- eaus entgegengestellten Angaben (Comptes rendus. XVII. 1843. p. 134. p. 279.) Wir halten aber eine rein statistische Lösung der Frage für ganz unmöglich aus den §. 63. 64. angegebenen Gründen.
**) Georget, de la Folie. Par. 1820, p. 160.
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Zweites Kapitel.
Psychische Ursachen.
§. 77.
Wir haben nun die hauptsächlichsten nähern Ursachen der Geistes-
krankheiten einzeln zu besprechen. Bei ihrer grossen Mannigfaltig-
keit, bei der Verschiedenheit ihrer, dazu oft wenig bekannten, Wirkungs-
weisen entziehen sie sich einer logisch scharfen Anordnung, und wir
wollen sie gruppenweise, nach ihrer Wichtigkeit und Bedeutung ge-
ordnet, neben einanderstellen.
Die psychischen Ursachen halten wir für die häufigsten und
ergiebigsten Quellen des Irreseins, sowohl was die Vorbereitung als
namentlich und hauptsächlich die unmittelbare Erregung der Krankheit
betrifft; bekennen indessen, dass sich diese Ansicht nicht sowohl auf
Zählungen, *) sondern auf den Gesamteindruck vieler Beobachtungen
stützt. Unter diesen psychischen Ursachen sind vor allem die voraus-
gegangenen leidenschaftlichen und affectartigen Zustände zu verstehen,
denn es ist eine entschiedene Thatsache, dass die rein intellectuelle
Ueberanstrengung, ohne begleitende Gemüthsaffection und ohne ander-
weitige starke Ursachen, (z. B. sinnliche Excesse, durch Excitantia
künstlich erregte Schlaflosigkeit) nur in den seltensten Fällen zum
Irrewerden führt.
Solches ist dagegen von den anhaltenderen oder heftigeren Ge-
müthsbewegungen unzweifelhaft, und es kommen unter ihnen ganz
besonders die unangenehmen, widrigen und depressiven Gemüths-
zustände in Betracht, während die übermässige Freude allein den
Irrenhäusern noch ausserordentlich wenige, vielleicht gar keine Kranke
übergeben hat. Pinel, das Muster eines Irrenarztes für alle Zeiten,
war so sehr von dieser Wahrheit überzeugt, dass er immer an einen
neuen Kranken zuerst die Frage richtete: haben Sie Verdruss,
Kummer, Widerwärtigkeiten erlitten? **) — und heute noch, so selten
als damals bekommt man auf diese Frage eine negative Antwort. Im
Einzelnen können diese schmerzhaften Gemüthszustände nach ihrer Art
*) Wir könnten sehr viele Zahlen für obigen Satz anführen, namentlich aus
neuester Zeit die von Parchappe und Brierre de Boismont den Berechnungen Mor-
eaus entgegengestellten Angaben (Comptes rendus. XVII. 1843. p. 134. p. 279.)
Wir halten aber eine rein statistische Lösung der Frage für ganz unmöglich
aus den §. 63. 64. angegebenen Gründen.
**) Georget, de la Folie. Par. 1820, p. 160.
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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/140>, abgerufen am 16.02.2025.
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