Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

Nähere Verhältnisse der
Neigungen zeigten, die sich dem Irresein stark näherte; ebenso da, wo in einer
Familie mehre Selbstmorde unter den nächsten Blutsverwandten vorfielen. Denn
der Selbstmord, in so vielen Fällen eine Erscheinung der ausgebrochenen, tieferen
Geisteskrankheit, ist in vielen anderen wenigstens das Ergebniss eines organisch
bedingten Lebensüberdrusses, der den primitiven Formen des Irreseins, der Schwer-
muth, beizuzählen ist, und die Erfahrungen sind nicht selten, dass die Geneigt-
heit zur Autochirie, oft bei allen Familiengliedern in denselben Lebensjahren
ausbrechend, sich forterbt. Auch das wird man leicht begreiflich finden, dass
Characterschwäche und eine excessive Leidenschaftlichkeit, durch welche so
häufig diese Forterbung vermittelt wird, bei einzelnen damit Behafteten unter einem
Zusammenwirken unglücklicher Umstände verbrecherische Handlungen erzeugen
kann, und so sehen wir zuweilen in solchen Familien Irresein, Selbstmord, Ver-
brechen, durch den innern Zusammenhang gewisser Characteranlagen mit ein-
ander verbunden, auf eine tief beklagenswerthe Weise wechseln.

Lautard (Oppenheim Ztschrft. Bd. XXI. p. 16) erzählt folgenden Fall. Mann
und Frau, ersterer 42, letztere 36 Jahre alt, werden geisteskrank und endigen
durch Selbstmord, jener durch den Strang, diese im Wasser. Sie hinterlassen
3 Kinder. Die älteste Tochter vergiftet sich im 24. Jahr, nachdem sie längere
Zeit in Prostitution gelebt; der Sohn erwürgt sich, im 21. Jahre, eines Meuchel-
mords angeklagt; die jüngste Tochter stürzt sich, im 6. Monat schwanger, von
einem Dache herab; sie hinterliess einen Sohn, der schon sehr jung öfters ins
Gefängniss gesteckt wurde und dann als Abentheurer nach Aegypten ging.

Fräulein M. von Orotava, 30 Jahre alt, aus einer alt-spanischen, adeligen, nie
durch eine Mesalliance verunreinigten Familie, ist geisteskrank in der Form eines
periodischen Wechsels von Melancholie und Manie mit Neigung zum Selbstmord. Ihr
Grossvater starb durch Selbstmord im 50ten Lebensjahr. Von seinen 3 Söhnen
endigten 2 schon in jugendlichem Alter, aus Liebeskummer, selbst ihr Leben. Der
dritte, der Vater des Fräuleins M., zeigt solche Bizarrerieen und Launen, dass
man ihn für nahezu geisteskrank halten muss. Sein Sohn, der einzige Bruder der
M., stürzte sich im 20ten Jahre ins Meer, aus Verzweiflung über die Untreue
einer Geliebten; ihre Schwester zeigt, in den glücklichsten Lebensverhältnissen,
einen so düstern Character, dass man ihr dasselbe Schicksal prophezeiht. *)

Zuweilen aber begegnet man auch in solchen Familien, wo einzelne Mitglieder
an Irresein leiden, anderen von ausgezeichneter, hervorragender Intelligenz. Wir
könnten 2 solche Beispiele grosser wissenschaftlicher Celebritäten aus unsern Tagen
anführen; es ist nicht unwahrscheinlich, dass eine grössere Erregbarkeit der
cerebralen Processe und eben jene geistigen Eigenthümlichkeiten, welche dort zu
Ueberspanntheit und Bizarrerie werden, hier, bei günstigen äusseren Umständen
und ungetrübter körperlicher Gesundheit, sich als erhöhte Activität und Energie der
Intelligenz und als Originalität des Denkens aussprechen.

Esquirol nahm an, und Baillarger **) hat durch eine 453 Fälle
umfassende Statistik gezeigt, dass sich das Irresein öfter -- und zwar

*) Annal. med. psychol. Mai. 1844. p. 389.
**) Rech. statist. sur l'heredite de la Folie. Annal. med. psych. Mai 1844.
p. 330. seqq.

Nähere Verhältnisse der
Neigungen zeigten, die sich dem Irresein stark näherte; ebenso da, wo in einer
Familie mehre Selbstmorde unter den nächsten Blutsverwandten vorfielen. Denn
der Selbstmord, in so vielen Fällen eine Erscheinung der ausgebrochenen, tieferen
Geisteskrankheit, ist in vielen anderen wenigstens das Ergebniss eines organisch
bedingten Lebensüberdrusses, der den primitiven Formen des Irreseins, der Schwer-
muth, beizuzählen ist, und die Erfahrungen sind nicht selten, dass die Geneigt-
heit zur Autochirie, oft bei allen Familiengliedern in denselben Lebensjahren
ausbrechend, sich forterbt. Auch das wird man leicht begreiflich finden, dass
Characterschwäche und eine excessive Leidenschaftlichkeit, durch welche so
häufig diese Forterbung vermittelt wird, bei einzelnen damit Behafteten unter einem
Zusammenwirken unglücklicher Umstände verbrecherische Handlungen erzeugen
kann, und so sehen wir zuweilen in solchen Familien Irresein, Selbstmord, Ver-
brechen, durch den innern Zusammenhang gewisser Characteranlagen mit ein-
ander verbunden, auf eine tief beklagenswerthe Weise wechseln.

Lautard (Oppenheim Ztschrft. Bd. XXI. p. 16) erzählt folgenden Fall. Mann
und Frau, ersterer 42, letztere 36 Jahre alt, werden geisteskrank und endigen
durch Selbstmord, jener durch den Strang, diese im Wasser. Sie hinterlassen
3 Kinder. Die älteste Tochter vergiftet sich im 24. Jahr, nachdem sie längere
Zeit in Prostitution gelebt; der Sohn erwürgt sich, im 21. Jahre, eines Meuchel-
mords angeklagt; die jüngste Tochter stürzt sich, im 6. Monat schwanger, von
einem Dache herab; sie hinterliess einen Sohn, der schon sehr jung öfters ins
Gefängniss gesteckt wurde und dann als Abentheurer nach Aegypten ging.

Fräulein M. von Orotava, 30 Jahre alt, aus einer alt-spanischen, adeligen, nie
durch eine Mésalliance verunreinigten Familie, ist geisteskrank in der Form eines
periodischen Wechsels von Melancholie und Manie mit Neigung zum Selbstmord. Ihr
Grossvater starb durch Selbstmord im 50ten Lebensjahr. Von seinen 3 Söhnen
endigten 2 schon in jugendlichem Alter, aus Liebeskummer, selbst ihr Leben. Der
dritte, der Vater des Fräuleins M., zeigt solche Bizarrerieen und Launen, dass
man ihn für nahezu geisteskrank halten muss. Sein Sohn, der einzige Bruder der
M., stürzte sich im 20ten Jahre ins Meer, aus Verzweiflung über die Untreue
einer Geliebten; ihre Schwester zeigt, in den glücklichsten Lebensverhältnissen,
einen so düstern Character, dass man ihr dasselbe Schicksal prophezeiht. *)

Zuweilen aber begegnet man auch in solchen Familien, wo einzelne Mitglieder
an Irresein leiden, anderen von ausgezeichneter, hervorragender Intelligenz. Wir
könnten 2 solche Beispiele grosser wissenschaftlicher Celebritäten aus unsern Tagen
anführen; es ist nicht unwahrscheinlich, dass eine grössere Erregbarkeit der
cerebralen Processe und eben jene geistigen Eigenthümlichkeiten, welche dort zu
Ueberspanntheit und Bizarrerie werden, hier, bei günstigen äusseren Umständen
und ungetrübter körperlicher Gesundheit, sich als erhöhte Activität und Energie der
Intelligenz und als Originalität des Denkens aussprechen.

Esquirol nahm an, und Baillarger **) hat durch eine 453 Fälle
umfassende Statistik gezeigt, dass sich das Irresein öfter — und zwar

*) Annal. med. psychol. Mai. 1844. p. 389.
**) Rech. statist. sur l’hérédité de la Folie. Annal. med. psych. Mai 1844.
p. 330. seqq.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0128" n="114"/><fw place="top" type="header">Nähere Verhältnisse der</fw><lb/>
Neigungen zeigten, die sich dem Irresein stark näherte; ebenso da, wo in einer<lb/>
Familie mehre Selbstmorde unter den nächsten Blutsverwandten vorfielen. Denn<lb/>
der Selbstmord, in so vielen Fällen eine Erscheinung der ausgebrochenen, tieferen<lb/>
Geisteskrankheit, ist in vielen anderen wenigstens das Ergebniss eines organisch<lb/>
bedingten Lebensüberdrusses, der den primitiven Formen des Irreseins, der Schwer-<lb/>
muth, beizuzählen ist, und die Erfahrungen sind nicht selten, dass die Geneigt-<lb/>
heit zur Autochirie, oft bei allen Familiengliedern in denselben Lebensjahren<lb/>
ausbrechend, sich forterbt. Auch das wird man leicht begreiflich finden, dass<lb/>
Characterschwäche und eine excessive Leidenschaftlichkeit, durch welche so<lb/>
häufig diese Forterbung vermittelt wird, bei einzelnen damit Behafteten unter einem<lb/>
Zusammenwirken unglücklicher Umstände verbrecherische Handlungen erzeugen<lb/>
kann, und so sehen wir zuweilen in solchen Familien Irresein, Selbstmord, Ver-<lb/>
brechen, durch den innern Zusammenhang gewisser Characteranlagen mit ein-<lb/>
ander verbunden, auf eine tief beklagenswerthe Weise wechseln.</p><lb/>
              <p>Lautard (Oppenheim Ztschrft. Bd. XXI. p. 16) erzählt folgenden Fall. Mann<lb/>
und Frau, ersterer 42, letztere 36 Jahre alt, werden geisteskrank und endigen<lb/>
durch Selbstmord, jener durch den Strang, diese im Wasser. Sie hinterlassen<lb/>
3 Kinder. Die älteste Tochter vergiftet sich im 24. Jahr, nachdem sie längere<lb/>
Zeit in Prostitution gelebt; der Sohn erwürgt sich, im 21. Jahre, eines Meuchel-<lb/>
mords angeklagt; die jüngste Tochter stürzt sich, im 6. Monat schwanger, von<lb/>
einem Dache herab; sie hinterliess einen Sohn, der schon sehr jung öfters ins<lb/>
Gefängniss gesteckt wurde und dann als Abentheurer nach Aegypten ging.</p><lb/>
              <p>Fräulein M. von Orotava, 30 Jahre alt, aus einer alt-spanischen, adeligen, nie<lb/>
durch eine Mésalliance verunreinigten Familie, ist geisteskrank in der Form eines<lb/>
periodischen Wechsels von Melancholie und Manie mit Neigung zum Selbstmord. Ihr<lb/>
Grossvater starb durch Selbstmord im 50ten Lebensjahr. Von seinen 3 Söhnen<lb/>
endigten 2 schon in jugendlichem Alter, aus Liebeskummer, selbst ihr Leben. Der<lb/>
dritte, der Vater des Fräuleins M., zeigt solche Bizarrerieen und Launen, dass<lb/>
man ihn für nahezu geisteskrank halten muss. Sein Sohn, der einzige Bruder der<lb/>
M., stürzte sich im 20ten Jahre ins Meer, aus Verzweiflung über die Untreue<lb/>
einer Geliebten; ihre Schwester zeigt, in den glücklichsten Lebensverhältnissen,<lb/>
einen so düstern Character, dass man ihr dasselbe Schicksal prophezeiht. <note place="foot" n="*)">Annal. med. psychol. Mai. 1844. p. 389.</note></p><lb/>
              <p>Zuweilen aber begegnet man auch in solchen Familien, wo einzelne Mitglieder<lb/>
an Irresein leiden, anderen von ausgezeichneter, hervorragender Intelligenz. Wir<lb/>
könnten 2 solche Beispiele grosser wissenschaftlicher Celebritäten aus unsern Tagen<lb/>
anführen; es ist nicht unwahrscheinlich, dass eine grössere Erregbarkeit der<lb/>
cerebralen Processe und eben jene geistigen Eigenthümlichkeiten, welche dort zu<lb/>
Ueberspanntheit und Bizarrerie werden, hier, bei günstigen äusseren Umständen<lb/>
und ungetrübter körperlicher Gesundheit, sich als erhöhte Activität und Energie der<lb/>
Intelligenz und als Originalität des Denkens aussprechen.</p><lb/>
              <p>Esquirol nahm an, und Baillarger <note place="foot" n="**)">Rech. statist. sur l&#x2019;hérédité de la Folie. Annal. med. psych. Mai 1844.<lb/>
p. 330. seqq.</note> hat durch eine 453 Fälle<lb/>
umfassende Statistik gezeigt, dass sich das Irresein öfter &#x2014; und zwar<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[114/0128] Nähere Verhältnisse der Neigungen zeigten, die sich dem Irresein stark näherte; ebenso da, wo in einer Familie mehre Selbstmorde unter den nächsten Blutsverwandten vorfielen. Denn der Selbstmord, in so vielen Fällen eine Erscheinung der ausgebrochenen, tieferen Geisteskrankheit, ist in vielen anderen wenigstens das Ergebniss eines organisch bedingten Lebensüberdrusses, der den primitiven Formen des Irreseins, der Schwer- muth, beizuzählen ist, und die Erfahrungen sind nicht selten, dass die Geneigt- heit zur Autochirie, oft bei allen Familiengliedern in denselben Lebensjahren ausbrechend, sich forterbt. Auch das wird man leicht begreiflich finden, dass Characterschwäche und eine excessive Leidenschaftlichkeit, durch welche so häufig diese Forterbung vermittelt wird, bei einzelnen damit Behafteten unter einem Zusammenwirken unglücklicher Umstände verbrecherische Handlungen erzeugen kann, und so sehen wir zuweilen in solchen Familien Irresein, Selbstmord, Ver- brechen, durch den innern Zusammenhang gewisser Characteranlagen mit ein- ander verbunden, auf eine tief beklagenswerthe Weise wechseln. Lautard (Oppenheim Ztschrft. Bd. XXI. p. 16) erzählt folgenden Fall. Mann und Frau, ersterer 42, letztere 36 Jahre alt, werden geisteskrank und endigen durch Selbstmord, jener durch den Strang, diese im Wasser. Sie hinterlassen 3 Kinder. Die älteste Tochter vergiftet sich im 24. Jahr, nachdem sie längere Zeit in Prostitution gelebt; der Sohn erwürgt sich, im 21. Jahre, eines Meuchel- mords angeklagt; die jüngste Tochter stürzt sich, im 6. Monat schwanger, von einem Dache herab; sie hinterliess einen Sohn, der schon sehr jung öfters ins Gefängniss gesteckt wurde und dann als Abentheurer nach Aegypten ging. Fräulein M. von Orotava, 30 Jahre alt, aus einer alt-spanischen, adeligen, nie durch eine Mésalliance verunreinigten Familie, ist geisteskrank in der Form eines periodischen Wechsels von Melancholie und Manie mit Neigung zum Selbstmord. Ihr Grossvater starb durch Selbstmord im 50ten Lebensjahr. Von seinen 3 Söhnen endigten 2 schon in jugendlichem Alter, aus Liebeskummer, selbst ihr Leben. Der dritte, der Vater des Fräuleins M., zeigt solche Bizarrerieen und Launen, dass man ihn für nahezu geisteskrank halten muss. Sein Sohn, der einzige Bruder der M., stürzte sich im 20ten Jahre ins Meer, aus Verzweiflung über die Untreue einer Geliebten; ihre Schwester zeigt, in den glücklichsten Lebensverhältnissen, einen so düstern Character, dass man ihr dasselbe Schicksal prophezeiht. *) Zuweilen aber begegnet man auch in solchen Familien, wo einzelne Mitglieder an Irresein leiden, anderen von ausgezeichneter, hervorragender Intelligenz. Wir könnten 2 solche Beispiele grosser wissenschaftlicher Celebritäten aus unsern Tagen anführen; es ist nicht unwahrscheinlich, dass eine grössere Erregbarkeit der cerebralen Processe und eben jene geistigen Eigenthümlichkeiten, welche dort zu Ueberspanntheit und Bizarrerie werden, hier, bei günstigen äusseren Umständen und ungetrübter körperlicher Gesundheit, sich als erhöhte Activität und Energie der Intelligenz und als Originalität des Denkens aussprechen. Esquirol nahm an, und Baillarger **) hat durch eine 453 Fälle umfassende Statistik gezeigt, dass sich das Irresein öfter — und zwar *) Annal. med. psychol. Mai. 1844. p. 389. **) Rech. statist. sur l’hérédité de la Folie. Annal. med. psych. Mai 1844. p. 330. seqq.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/128
Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/128>, abgerufen am 22.11.2024.