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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Einfluss des Standes.
zu psychischer Erkrankung fort, ja der senile Blödsinn möchte bei
einer genaueren Statistik ein wieder stark vermehrtes Verhältniss für
die letzten möglichen Lebensjahre hervorbringen.

Doch ist der senile Blödsinn keineswegs die einzige Form des Irreseins in
diesen Jahren. Esquirol sah 2 Weiber, eine 80, die andere 84 Jahre alt, von
Tobsucht genesen; Burrows erzählt einen Fall von Schwermuth und Selbstmord
bei einem Vierundachtziger, wir selbst haben einen frischen Fall von Schwer-
muth im 80ten Jahre behandelt und könnten noch mehrere andere dergleichen
Fälle anführen.

4) Ob die Standesunterschiede einen wesentlichen Einfluss
auf die Entstehung von Geisteskrankheiten haben, lässt sich, wie Fuchs
(l. c. p. 102) mit Recht bemerkt, wieder nicht durch Berechnungen
nach den Aufnahmen in den öffentlichen Anstalten bestimmen, da in
diese natürlich weit mehr Kranke aus niederen Ständen eintreten. Als
einzige, hier etwa brauchbare Notiz ist uns die Angabe von Julius *)
bekannt, dass sich in England und Wales 8500 arme und nur 12 bis
1300 bemittelte Geisteskranke in den öffentlichen und Privatanstalten
befinden. Bedenkt man, dass es weit mehr arme als wohlhabende
Menschen gibt, so könnte man hiernach die beiderseitige Erkrankungs-
fähigkeit etwa gleich schätzen; doch ist es die gewöhnliche An-
nahme, dass in den besseren Classen der Gesellschaft -- oder
vielmehr in den reicheren, -- Geisteskrankheiten seltener vor-
kommen, als in den ärmeren. Es scheint eben, dass das Moment,
das auf der einen Seite durch grössere directe Excitation der cere-
bralen Thätigkeiten vergrössernd wirkt, auf der andern überwogen
wird durch Elend, Hunger und Trunksucht, während die mächtigen
Leidenschaften, Liebe, Ehrgeiz, Eifersucht etc., in allen Schichten
der Gesellschaft gleich häufig und ursprünglich gleich mächtig, auch
bei geringerer Bildung der Intelligenz unaufgehaltener und zerstören-
der wirken.

Ueber eine besondere Disposition, die durch einzelne Berufs- und Be-
schäftigungsarten
gegeben wäre, ist lediglich nichts zu sagen, als was die
obigen Bemerkungen schon enthalten, dass wahrscheinlich die Menschenclassen,
die in harter manueller Arbeit ein mühsames und bedrängtes Leben hinbringen,
von dieser, wie wohl von jeder andern Krankheit, öfter befallen werden, als
diejenigen, welche die weniger erschöpfenden geistigen oder gar keine Arbeiten
verrichten. Sollten sich dann in einzelnen Berufsarten hier oder dort, unter
Matrosen, Taglöhnern, Bauern etc. oder unter Kaufleuten, Beamten, Offizieren etc.
noch weitere merkliche Uebergewichte zeigen, **) so wären diese erst mit den Ver-

*) Beiträge zur britt. Irrenheilkunde. p. 8.
**) Fuchs l. c. p. 106.

Einfluss des Standes.
zu psychischer Erkrankung fort, ja der senile Blödsinn möchte bei
einer genaueren Statistik ein wieder stark vermehrtes Verhältniss für
die letzten möglichen Lebensjahre hervorbringen.

Doch ist der senile Blödsinn keineswegs die einzige Form des Irreseins in
diesen Jahren. Esquirol sah 2 Weiber, eine 80, die andere 84 Jahre alt, von
Tobsucht genesen; Burrows erzählt einen Fall von Schwermuth und Selbstmord
bei einem Vierundachtziger, wir selbst haben einen frischen Fall von Schwer-
muth im 80ten Jahre behandelt und könnten noch mehrere andere dergleichen
Fälle anführen.

4) Ob die Standesunterschiede einen wesentlichen Einfluss
auf die Entstehung von Geisteskrankheiten haben, lässt sich, wie Fuchs
(l. c. p. 102) mit Recht bemerkt, wieder nicht durch Berechnungen
nach den Aufnahmen in den öffentlichen Anstalten bestimmen, da in
diese natürlich weit mehr Kranke aus niederen Ständen eintreten. Als
einzige, hier etwa brauchbare Notiz ist uns die Angabe von Julius *)
bekannt, dass sich in England und Wales 8500 arme und nur 12 bis
1300 bemittelte Geisteskranke in den öffentlichen und Privatanstalten
befinden. Bedenkt man, dass es weit mehr arme als wohlhabende
Menschen gibt, so könnte man hiernach die beiderseitige Erkrankungs-
fähigkeit etwa gleich schätzen; doch ist es die gewöhnliche An-
nahme, dass in den besseren Classen der Gesellschaft — oder
vielmehr in den reicheren, — Geisteskrankheiten seltener vor-
kommen, als in den ärmeren. Es scheint eben, dass das Moment,
das auf der einen Seite durch grössere directe Excitation der cere-
bralen Thätigkeiten vergrössernd wirkt, auf der andern überwogen
wird durch Elend, Hunger und Trunksucht, während die mächtigen
Leidenschaften, Liebe, Ehrgeiz, Eifersucht etc., in allen Schichten
der Gesellschaft gleich häufig und ursprünglich gleich mächtig, auch
bei geringerer Bildung der Intelligenz unaufgehaltener und zerstören-
der wirken.

Ueber eine besondere Disposition, die durch einzelne Berufs- und Be-
schäftigungsarten
gegeben wäre, ist lediglich nichts zu sagen, als was die
obigen Bemerkungen schon enthalten, dass wahrscheinlich die Menschenclassen,
die in harter manueller Arbeit ein mühsames und bedrängtes Leben hinbringen,
von dieser, wie wohl von jeder andern Krankheit, öfter befallen werden, als
diejenigen, welche die weniger erschöpfenden geistigen oder gar keine Arbeiten
verrichten. Sollten sich dann in einzelnen Berufsarten hier oder dort, unter
Matrosen, Taglöhnern, Bauern etc. oder unter Kaufleuten, Beamten, Offizieren etc.
noch weitere merkliche Uebergewichte zeigen, **) so wären diese erst mit den Ver-

*) Beiträge zur britt. Irrenheilkunde. p. 8.
**) Fuchs l. c. p. 106.
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[110/0124] Einfluss des Standes. zu psychischer Erkrankung fort, ja der senile Blödsinn möchte bei einer genaueren Statistik ein wieder stark vermehrtes Verhältniss für die letzten möglichen Lebensjahre hervorbringen. Doch ist der senile Blödsinn keineswegs die einzige Form des Irreseins in diesen Jahren. Esquirol sah 2 Weiber, eine 80, die andere 84 Jahre alt, von Tobsucht genesen; Burrows erzählt einen Fall von Schwermuth und Selbstmord bei einem Vierundachtziger, wir selbst haben einen frischen Fall von Schwer- muth im 80ten Jahre behandelt und könnten noch mehrere andere dergleichen Fälle anführen. 4) Ob die Standesunterschiede einen wesentlichen Einfluss auf die Entstehung von Geisteskrankheiten haben, lässt sich, wie Fuchs (l. c. p. 102) mit Recht bemerkt, wieder nicht durch Berechnungen nach den Aufnahmen in den öffentlichen Anstalten bestimmen, da in diese natürlich weit mehr Kranke aus niederen Ständen eintreten. Als einzige, hier etwa brauchbare Notiz ist uns die Angabe von Julius *) bekannt, dass sich in England und Wales 8500 arme und nur 12 bis 1300 bemittelte Geisteskranke in den öffentlichen und Privatanstalten befinden. Bedenkt man, dass es weit mehr arme als wohlhabende Menschen gibt, so könnte man hiernach die beiderseitige Erkrankungs- fähigkeit etwa gleich schätzen; doch ist es die gewöhnliche An- nahme, dass in den besseren Classen der Gesellschaft — oder vielmehr in den reicheren, — Geisteskrankheiten seltener vor- kommen, als in den ärmeren. Es scheint eben, dass das Moment, das auf der einen Seite durch grössere directe Excitation der cere- bralen Thätigkeiten vergrössernd wirkt, auf der andern überwogen wird durch Elend, Hunger und Trunksucht, während die mächtigen Leidenschaften, Liebe, Ehrgeiz, Eifersucht etc., in allen Schichten der Gesellschaft gleich häufig und ursprünglich gleich mächtig, auch bei geringerer Bildung der Intelligenz unaufgehaltener und zerstören- der wirken. Ueber eine besondere Disposition, die durch einzelne Berufs- und Be- schäftigungsarten gegeben wäre, ist lediglich nichts zu sagen, als was die obigen Bemerkungen schon enthalten, dass wahrscheinlich die Menschenclassen, die in harter manueller Arbeit ein mühsames und bedrängtes Leben hinbringen, von dieser, wie wohl von jeder andern Krankheit, öfter befallen werden, als diejenigen, welche die weniger erschöpfenden geistigen oder gar keine Arbeiten verrichten. Sollten sich dann in einzelnen Berufsarten hier oder dort, unter Matrosen, Taglöhnern, Bauern etc. oder unter Kaufleuten, Beamten, Offizieren etc. noch weitere merkliche Uebergewichte zeigen, **) so wären diese erst mit den Ver- *) Beiträge zur britt. Irrenheilkunde. p. 8. **) Fuchs l. c. p. 106.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/124>, abgerufen am 22.11.2024.