Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

Zahl der Irren
die angeborne und die erworbene, zu analysiren, wie sich solche
in Bezug auf Erblichkeit, Erziehung, auf Constitution, Charaktereigen-
thümlichkeit, schädliche Gewohnheiten etc. nachweisen lässt.


Erstes Capitel.
Die allgemeine Prädisposition.
§. 67.

1) Nationalität. Der Begriff der Nationalität enthält in sich
eingeschlossen eine Menge der mannigfaltigsten Verhältnisse. Das
Klima, die Fruchtbarkeit des Landes, die vorzugsweise Beschäftigung
seiner Bewohner, das vorherrschende religiöse Bekenntniss, der Grad
der Civilisation, des Wohlstands und der öffentlichen Sittlichkeit, die
früheren Schicksale des Volkes und die Regierungsformen, diess Alles
wirkt zusammen auf die Bildung gewisser Nationaleigenthümlichkeiten,
die sich dann als stehender Typus von Geschlecht zu Geschlecht
fortpflanzen. Eben weil alle diese Momente nur in ihrem Zusammen-
sein und ihrer allseitigen Verkettung wirksam sind, ist es auch nicht
möglich, von den einzelnen derselben ihren Einfluss auf die Ent-
stehung des Irreseins zu bestimmen; es können vielmehr nur stati-
stisch die Angaben über die Häufigkeit oder Seltenheit des Irreseins
unter den einzelnen Nationen verglichen werden. Und auch dieses
Geschäft führt zu nur wenig befriedigenden Resultaten. Denn bei-
nahe von keinem Lande der Welt besitzen wir ganz zuverlässige
Zählungen; wo genauere Angaben vorhanden sind, werden sie oft
durch die verschiedenen Methoden der Erhebung und namentlich
durch die Vermischung zweier, ihrer Natur nach zu trennender Zu-
stände, des eigentlichen Irreseins und des angebornen Blödsinns (Cre-
tinismus), ganz unsicher gemacht, und man ist für viele Gegenden
auf eine durchschnittliche Schätzung der Irrenzahl nach den für die
einzelnen Länder so sehr wechselnden Zahlen der in den Anstal-
ten verpflegten
Irren beschränkt.

Unter den deutschen Ländern existiren genauere Zählungen
von mehren preussischen Provinzen, von Würtemberg und Baden. In der
preussischen Rheinprovinz war das Verhältniss der Irren zur Be-
völkerung (a. 1828) = 1 : 1027; in Westphalen (a. 1836) = 1 :
1590, mit Einschluss der von Geburt an Blödsinnigen = 1 : 846;
in Schlesien (a. 1830) = 1 : 1200; in der Provinz Sachsen

Zahl der Irren
die angeborne und die erworbene, zu analysiren, wie sich solche
in Bezug auf Erblichkeit, Erziehung, auf Constitution, Charaktereigen-
thümlichkeit, schädliche Gewohnheiten etc. nachweisen lässt.


Erstes Capitel.
Die allgemeine Prädisposition.
§. 67.

1) Nationalität. Der Begriff der Nationalität enthält in sich
eingeschlossen eine Menge der mannigfaltigsten Verhältnisse. Das
Klima, die Fruchtbarkeit des Landes, die vorzugsweise Beschäftigung
seiner Bewohner, das vorherrschende religiöse Bekenntniss, der Grad
der Civilisation, des Wohlstands und der öffentlichen Sittlichkeit, die
früheren Schicksale des Volkes und die Regierungsformen, diess Alles
wirkt zusammen auf die Bildung gewisser Nationaleigenthümlichkeiten,
die sich dann als stehender Typus von Geschlecht zu Geschlecht
fortpflanzen. Eben weil alle diese Momente nur in ihrem Zusammen-
sein und ihrer allseitigen Verkettung wirksam sind, ist es auch nicht
möglich, von den einzelnen derselben ihren Einfluss auf die Ent-
stehung des Irreseins zu bestimmen; es können vielmehr nur stati-
stisch die Angaben über die Häufigkeit oder Seltenheit des Irreseins
unter den einzelnen Nationen verglichen werden. Und auch dieses
Geschäft führt zu nur wenig befriedigenden Resultaten. Denn bei-
nahe von keinem Lande der Welt besitzen wir ganz zuverlässige
Zählungen; wo genauere Angaben vorhanden sind, werden sie oft
durch die verschiedenen Methoden der Erhebung und namentlich
durch die Vermischung zweier, ihrer Natur nach zu trennender Zu-
stände, des eigentlichen Irreseins und des angebornen Blödsinns (Cre-
tinismus), ganz unsicher gemacht, und man ist für viele Gegenden
auf eine durchschnittliche Schätzung der Irrenzahl nach den für die
einzelnen Länder so sehr wechselnden Zahlen der in den Anstal-
ten verpflegten
Irren beschränkt.

Unter den deutschen Ländern existiren genauere Zählungen
von mehren preussischen Provinzen, von Würtemberg und Baden. In der
preussischen Rheinprovinz war das Verhältniss der Irren zur Be-
völkerung (a. 1828) = 1 : 1027; in Westphalen (a. 1836) = 1 :
1590, mit Einschluss der von Geburt an Blödsinnigen = 1 : 846;
in Schlesien (a. 1830) = 1 : 1200; in der Provinz Sachsen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0116" n="102"/><fw place="top" type="header">Zahl der Irren</fw><lb/>
die angeborne und die erworbene, zu analysiren, wie sich solche<lb/>
in Bezug auf Erblichkeit, Erziehung, auf Constitution, Charaktereigen-<lb/>
thümlichkeit, schädliche Gewohnheiten etc. nachweisen lässt.</p>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <head><hi rendition="#b">Erstes Capitel.</hi><lb/><hi rendition="#i">Die allgemeine Prädisposition</hi>.</head><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 67.</head><lb/>
              <p>1) <hi rendition="#g">Nationalität</hi>. Der Begriff der Nationalität enthält in sich<lb/>
eingeschlossen eine Menge der mannigfaltigsten Verhältnisse. Das<lb/>
Klima, die Fruchtbarkeit des Landes, die vorzugsweise Beschäftigung<lb/>
seiner Bewohner, das vorherrschende religiöse Bekenntniss, der Grad<lb/>
der Civilisation, des Wohlstands und der öffentlichen Sittlichkeit, die<lb/>
früheren Schicksale des Volkes und die Regierungsformen, diess Alles<lb/>
wirkt zusammen auf die Bildung gewisser Nationaleigenthümlichkeiten,<lb/>
die sich dann als stehender Typus von Geschlecht zu Geschlecht<lb/>
fortpflanzen. Eben weil alle diese Momente nur in ihrem Zusammen-<lb/>
sein und ihrer allseitigen Verkettung wirksam sind, ist es auch nicht<lb/>
möglich, von den einzelnen derselben ihren Einfluss auf die Ent-<lb/>
stehung des Irreseins zu bestimmen; es können vielmehr nur stati-<lb/>
stisch die Angaben über die Häufigkeit oder Seltenheit des Irreseins<lb/>
unter den einzelnen Nationen verglichen werden. Und auch dieses<lb/>
Geschäft führt zu nur wenig befriedigenden Resultaten. Denn bei-<lb/>
nahe von keinem Lande der Welt besitzen wir ganz zuverlässige<lb/>
Zählungen; wo genauere Angaben vorhanden sind, werden sie oft<lb/>
durch die verschiedenen Methoden der Erhebung und namentlich<lb/>
durch die Vermischung zweier, ihrer Natur nach zu trennender Zu-<lb/>
stände, des eigentlichen Irreseins und des angebornen Blödsinns (Cre-<lb/>
tinismus), ganz unsicher gemacht, und man ist für viele Gegenden<lb/>
auf eine durchschnittliche Schätzung der Irrenzahl nach den für die<lb/>
einzelnen Länder so sehr wechselnden Zahlen der <hi rendition="#g">in den Anstal-<lb/>
ten verpflegten</hi> Irren beschränkt.</p><lb/>
              <p>Unter den <hi rendition="#g">deutschen</hi> Ländern existiren genauere Zählungen<lb/>
von mehren preussischen Provinzen, von Würtemberg und Baden. In der<lb/>
preussischen <hi rendition="#g">Rheinprovinz</hi> war das Verhältniss der Irren zur Be-<lb/>
völkerung (a. 1828) = 1 : 1027; in <hi rendition="#g">Westphalen</hi> (a. 1836) = 1 :<lb/>
1590, mit Einschluss der von Geburt an Blödsinnigen = 1 : 846;<lb/>
in <hi rendition="#g">Schlesien</hi> (a. 1830) = 1 : 1200; in der Provinz <hi rendition="#g">Sachsen</hi><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[102/0116] Zahl der Irren die angeborne und die erworbene, zu analysiren, wie sich solche in Bezug auf Erblichkeit, Erziehung, auf Constitution, Charaktereigen- thümlichkeit, schädliche Gewohnheiten etc. nachweisen lässt. Erstes Capitel. Die allgemeine Prädisposition. §. 67. 1) Nationalität. Der Begriff der Nationalität enthält in sich eingeschlossen eine Menge der mannigfaltigsten Verhältnisse. Das Klima, die Fruchtbarkeit des Landes, die vorzugsweise Beschäftigung seiner Bewohner, das vorherrschende religiöse Bekenntniss, der Grad der Civilisation, des Wohlstands und der öffentlichen Sittlichkeit, die früheren Schicksale des Volkes und die Regierungsformen, diess Alles wirkt zusammen auf die Bildung gewisser Nationaleigenthümlichkeiten, die sich dann als stehender Typus von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzen. Eben weil alle diese Momente nur in ihrem Zusammen- sein und ihrer allseitigen Verkettung wirksam sind, ist es auch nicht möglich, von den einzelnen derselben ihren Einfluss auf die Ent- stehung des Irreseins zu bestimmen; es können vielmehr nur stati- stisch die Angaben über die Häufigkeit oder Seltenheit des Irreseins unter den einzelnen Nationen verglichen werden. Und auch dieses Geschäft führt zu nur wenig befriedigenden Resultaten. Denn bei- nahe von keinem Lande der Welt besitzen wir ganz zuverlässige Zählungen; wo genauere Angaben vorhanden sind, werden sie oft durch die verschiedenen Methoden der Erhebung und namentlich durch die Vermischung zweier, ihrer Natur nach zu trennender Zu- stände, des eigentlichen Irreseins und des angebornen Blödsinns (Cre- tinismus), ganz unsicher gemacht, und man ist für viele Gegenden auf eine durchschnittliche Schätzung der Irrenzahl nach den für die einzelnen Länder so sehr wechselnden Zahlen der in den Anstal- ten verpflegten Irren beschränkt. Unter den deutschen Ländern existiren genauere Zählungen von mehren preussischen Provinzen, von Würtemberg und Baden. In der preussischen Rheinprovinz war das Verhältniss der Irren zur Be- völkerung (a. 1828) = 1 : 1027; in Westphalen (a. 1836) = 1 : 1590, mit Einschluss der von Geburt an Blödsinnigen = 1 : 846; in Schlesien (a. 1830) = 1 : 1200; in der Provinz Sachsen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/116
Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/116>, abgerufen am 09.11.2024.