Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

Das Erwachen vom Irresein.
qualitativ unter sich verschiedenen Traumzuständen ähnlich ist, so
zeigt auch der psychische Prozess, mittelst dessen das Individuum,
wenn die Gehirnkrankheit geheilt wird, zum gesunden Leben zurück-
kehrt, die mannigfaltigsten Modificationen. Bald gleicht die Genesung
dem einfachen Erwachen: während das Individuum sich staunend zu-
rechtzufinden sucht, versinken die der Krankheit angehörigen Vor-
stellungsmassen in kurzer Zeit und das alte Ich tritt unversehrt und
unbeeinträchtigt wieder an ihre Stelle. Anderemale lösen sich die
schon geknüpften Verbindungen schwerer, und indem das alte Ich
nur langsam erstarkt, besteht die Genesung noch einmal aus einem
peinlichen Kampfe, in welchem der Erwachte jetzt oft des Zuspruchs,
der Belehrung, der Leitung durch fremden Willen zur eigenen Kräf-
tigung bedarf. Es ist nicht selten, dass dann doch nicht jeder Faden
des Wahngespinstes sich herausziehen lässt, und auch der Genesene
behält mitunter für lange Zeit oder für immer als kleine Ueberreste
gewisse Tics und Bizarrerieen, gewisse Verschrobenheiten und Ver-
stimmungen an sich, ja er erleidet zuweilen von hier aus eine durch-
greifende Aenderung seines Charakters.

Es ist unzulässig, diese Processe auf das moralische Gebiet zu verlegen,
wohin sie so wenig als der Process im Anfang der Erkrankung gehören; aber
es ist richtig, dass dem schon früher haltlosen Reconvalescenten eine richtige
sittliche Führung noth thut und dass nicht selten hier erst für den Irrenarzt eine
neue Wirksamkeit an dem Genesenen beginnt, welche freilich meistens die Sache
seiner ersten Jugenderziehung hätte sein sollen.

Von grossem Interesse sind die Fälle, wo erst kurz vor dem
Tode
die geistige Gesundheit oder doch eine entschiedene Besserung
des Geisteszustandes eintritt. Es kommt diess am häufigsten bei
Maniacis vor, *) etwas seltener bei Melancholischen, beinahe nie in
den secundären Zuständen der Verrücktheit und des Blödsinns; wo
schwerere, anatomische Läsionen des Gehirns vorhanden sind, wo die
kranken Vorstellungen das Ich vollständig durchdrungen und zersetzt
haben, scheinen die Grundbedingungen einer Rückkehr zum normalen
Vorstellen zu fehlen. Wie lange Zeit hiezu nöthig ist, ist freilich unmessbar.

Brierre de Boismont **) erzählt den Fall eines Gärtners, der in seinem
22sten Jahre nach einem heftigen Schreck, den ihm eine Bärenmaske auf einem
Maskenballe einjagte, geisteskrank wurde, von dort an zwei und fünfzig Jahre

*) In dem Irrenhause der Quäker bei York unter 33 Todesfällen von Ma-
niacis -- 8mal, unter 45 Melancholischen -- 8mal (Julius, Beiträge zur brittischen
Irrenheilkunde p. 255). Die drei von Parchappe (Traite de la folie. Docum. necrosc.
Par. 1841. p. 1--4) angeführten Beispiele betreffen gleichfalls Fälle von Manie.
**) Gazette des hopitaux. 1844. No. 54.

Das Erwachen vom Irresein.
qualitativ unter sich verschiedenen Traumzuständen ähnlich ist, so
zeigt auch der psychische Prozess, mittelst dessen das Individuum,
wenn die Gehirnkrankheit geheilt wird, zum gesunden Leben zurück-
kehrt, die mannigfaltigsten Modificationen. Bald gleicht die Genesung
dem einfachen Erwachen: während das Individuum sich staunend zu-
rechtzufinden sucht, versinken die der Krankheit angehörigen Vor-
stellungsmassen in kurzer Zeit und das alte Ich tritt unversehrt und
unbeeinträchtigt wieder an ihre Stelle. Anderemale lösen sich die
schon geknüpften Verbindungen schwerer, und indem das alte Ich
nur langsam erstarkt, besteht die Genesung noch einmal aus einem
peinlichen Kampfe, in welchem der Erwachte jetzt oft des Zuspruchs,
der Belehrung, der Leitung durch fremden Willen zur eigenen Kräf-
tigung bedarf. Es ist nicht selten, dass dann doch nicht jeder Faden
des Wahngespinstes sich herausziehen lässt, und auch der Genesene
behält mitunter für lange Zeit oder für immer als kleine Ueberreste
gewisse Tics und Bizarrerieen, gewisse Verschrobenheiten und Ver-
stimmungen an sich, ja er erleidet zuweilen von hier aus eine durch-
greifende Aenderung seines Charakters.

Es ist unzulässig, diese Processe auf das moralische Gebiet zu verlegen,
wohin sie so wenig als der Process im Anfang der Erkrankung gehören; aber
es ist richtig, dass dem schon früher haltlosen Reconvalescenten eine richtige
sittliche Führung noth thut und dass nicht selten hier erst für den Irrenarzt eine
neue Wirksamkeit an dem Genesenen beginnt, welche freilich meistens die Sache
seiner ersten Jugenderziehung hätte sein sollen.

Von grossem Interesse sind die Fälle, wo erst kurz vor dem
Tode
die geistige Gesundheit oder doch eine entschiedene Besserung
des Geisteszustandes eintritt. Es kommt diess am häufigsten bei
Maniacis vor, *) etwas seltener bei Melancholischen, beinahe nie in
den secundären Zuständen der Verrücktheit und des Blödsinns; wo
schwerere, anatomische Läsionen des Gehirns vorhanden sind, wo die
kranken Vorstellungen das Ich vollständig durchdrungen und zersetzt
haben, scheinen die Grundbedingungen einer Rückkehr zum normalen
Vorstellen zu fehlen. Wie lange Zeit hiezu nöthig ist, ist freilich unmessbar.

Brierre de Boismont **) erzählt den Fall eines Gärtners, der in seinem
22sten Jahre nach einem heftigen Schreck, den ihm eine Bärenmaske auf einem
Maskenballe einjagte, geisteskrank wurde, von dort an zwei und fünfzig Jahre

*) In dem Irrenhause der Quäker bei York unter 33 Todesfällen von Ma-
niacis — 8mal, unter 45 Melancholischen — 8mal (Julius, Beiträge zur brittischen
Irrenheilkunde p. 255). Die drei von Parchappe (Traité de la folie. Docum. necrosc.
Par. 1841. p. 1—4) angeführten Beispiele betreffen gleichfalls Fälle von Manie.
**) Gazette des hopitaux. 1844. No. 54.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0106" n="92"/><fw place="top" type="header">Das Erwachen vom Irresein.</fw><lb/>
qualitativ unter sich verschiedenen Traumzuständen ähnlich ist, so<lb/>
zeigt auch der psychische Prozess, mittelst dessen das Individuum,<lb/>
wenn die Gehirnkrankheit geheilt wird, zum gesunden Leben zurück-<lb/>
kehrt, die mannigfaltigsten Modificationen. Bald gleicht die Genesung<lb/>
dem einfachen Erwachen: während das Individuum sich staunend zu-<lb/>
rechtzufinden sucht, versinken die der Krankheit angehörigen Vor-<lb/>
stellungsmassen in kurzer Zeit und das alte Ich tritt unversehrt und<lb/>
unbeeinträchtigt wieder an ihre Stelle. Anderemale lösen sich die<lb/>
schon geknüpften Verbindungen schwerer, und indem das alte Ich<lb/>
nur langsam erstarkt, besteht die Genesung noch einmal aus einem<lb/>
peinlichen Kampfe, in welchem der Erwachte jetzt oft des Zuspruchs,<lb/>
der Belehrung, der Leitung durch fremden Willen zur eigenen Kräf-<lb/>
tigung bedarf. Es ist nicht selten, dass dann doch nicht jeder Faden<lb/>
des Wahngespinstes sich herausziehen lässt, und auch der Genesene<lb/>
behält mitunter für lange Zeit oder für immer als kleine Ueberreste<lb/>
gewisse Tics und Bizarrerieen, gewisse Verschrobenheiten und Ver-<lb/>
stimmungen an sich, ja er erleidet zuweilen von hier aus eine durch-<lb/>
greifende Aenderung seines Charakters.</p><lb/>
            <p>Es ist unzulässig, diese Processe auf das moralische Gebiet zu verlegen,<lb/>
wohin sie so wenig als der Process im Anfang der Erkrankung gehören; aber<lb/>
es ist richtig, dass dem schon früher haltlosen Reconvalescenten eine richtige<lb/>
sittliche Führung noth thut und dass nicht selten hier erst für den Irrenarzt eine<lb/>
neue Wirksamkeit an dem Genesenen beginnt, welche freilich meistens die Sache<lb/>
seiner ersten Jugenderziehung hätte sein sollen.</p><lb/>
            <p>Von grossem Interesse sind die Fälle, wo erst kurz <hi rendition="#g">vor dem<lb/>
Tode</hi> die geistige Gesundheit oder doch eine entschiedene Besserung<lb/>
des Geisteszustandes eintritt. Es kommt diess am häufigsten bei<lb/>
Maniacis vor, <note place="foot" n="*)">In dem Irrenhause der Quäker bei York unter 33 Todesfällen von Ma-<lb/>
niacis &#x2014; 8mal, unter 45 Melancholischen &#x2014; 8mal (Julius, Beiträge zur brittischen<lb/>
Irrenheilkunde p. 255). Die drei von Parchappe (Traité de la folie. Docum. necrosc.<lb/>
Par. 1841. p. 1&#x2014;4) angeführten Beispiele betreffen gleichfalls Fälle von Manie.</note> etwas seltener bei Melancholischen, beinahe nie in<lb/>
den secundären Zuständen der Verrücktheit und des Blödsinns; wo<lb/>
schwerere, anatomische Läsionen des Gehirns vorhanden sind, wo die<lb/>
kranken Vorstellungen das Ich vollständig durchdrungen und zersetzt<lb/>
haben, scheinen die Grundbedingungen einer Rückkehr zum normalen<lb/>
Vorstellen zu fehlen. Wie lange Zeit hiezu nöthig ist, ist freilich unmessbar.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Brierre de Boismont</hi><note place="foot" n="**)">Gazette des hopitaux. 1844. No. 54.</note> erzählt den Fall eines Gärtners, der in seinem<lb/>
22sten Jahre nach einem heftigen Schreck, den ihm eine Bärenmaske auf einem<lb/>
Maskenballe einjagte, geisteskrank wurde, von dort an <hi rendition="#g">zwei und fünfzig Jahre</hi><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[92/0106] Das Erwachen vom Irresein. qualitativ unter sich verschiedenen Traumzuständen ähnlich ist, so zeigt auch der psychische Prozess, mittelst dessen das Individuum, wenn die Gehirnkrankheit geheilt wird, zum gesunden Leben zurück- kehrt, die mannigfaltigsten Modificationen. Bald gleicht die Genesung dem einfachen Erwachen: während das Individuum sich staunend zu- rechtzufinden sucht, versinken die der Krankheit angehörigen Vor- stellungsmassen in kurzer Zeit und das alte Ich tritt unversehrt und unbeeinträchtigt wieder an ihre Stelle. Anderemale lösen sich die schon geknüpften Verbindungen schwerer, und indem das alte Ich nur langsam erstarkt, besteht die Genesung noch einmal aus einem peinlichen Kampfe, in welchem der Erwachte jetzt oft des Zuspruchs, der Belehrung, der Leitung durch fremden Willen zur eigenen Kräf- tigung bedarf. Es ist nicht selten, dass dann doch nicht jeder Faden des Wahngespinstes sich herausziehen lässt, und auch der Genesene behält mitunter für lange Zeit oder für immer als kleine Ueberreste gewisse Tics und Bizarrerieen, gewisse Verschrobenheiten und Ver- stimmungen an sich, ja er erleidet zuweilen von hier aus eine durch- greifende Aenderung seines Charakters. Es ist unzulässig, diese Processe auf das moralische Gebiet zu verlegen, wohin sie so wenig als der Process im Anfang der Erkrankung gehören; aber es ist richtig, dass dem schon früher haltlosen Reconvalescenten eine richtige sittliche Führung noth thut und dass nicht selten hier erst für den Irrenarzt eine neue Wirksamkeit an dem Genesenen beginnt, welche freilich meistens die Sache seiner ersten Jugenderziehung hätte sein sollen. Von grossem Interesse sind die Fälle, wo erst kurz vor dem Tode die geistige Gesundheit oder doch eine entschiedene Besserung des Geisteszustandes eintritt. Es kommt diess am häufigsten bei Maniacis vor, *) etwas seltener bei Melancholischen, beinahe nie in den secundären Zuständen der Verrücktheit und des Blödsinns; wo schwerere, anatomische Läsionen des Gehirns vorhanden sind, wo die kranken Vorstellungen das Ich vollständig durchdrungen und zersetzt haben, scheinen die Grundbedingungen einer Rückkehr zum normalen Vorstellen zu fehlen. Wie lange Zeit hiezu nöthig ist, ist freilich unmessbar. Brierre de Boismont **) erzählt den Fall eines Gärtners, der in seinem 22sten Jahre nach einem heftigen Schreck, den ihm eine Bärenmaske auf einem Maskenballe einjagte, geisteskrank wurde, von dort an zwei und fünfzig Jahre *) In dem Irrenhause der Quäker bei York unter 33 Todesfällen von Ma- niacis — 8mal, unter 45 Melancholischen — 8mal (Julius, Beiträge zur brittischen Irrenheilkunde p. 255). Die drei von Parchappe (Traité de la folie. Docum. necrosc. Par. 1841. p. 1—4) angeführten Beispiele betreffen gleichfalls Fälle von Manie. **) Gazette des hopitaux. 1844. No. 54.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/106
Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/106>, abgerufen am 28.11.2024.