gezwungener Stellungen ausspricht (§. 56.) -- welche, in Verbindung mit der zugleich vorhandenen Umdämmerung des Bewusstseins, leb- haft an das Verhalten des beginnenden Schlafs erinnern.
In der That muss sich die Analogie des Irreseins mit dem Traum namentlich an die Träume im halbwachen Zustande halten. Bei Kindern sieht man zuweilen, namentlich in leichteren Krankheiten, dass sie zwar schlafen, aber doch spre- chen, z. B. die Mutter verstehen, ihr antworten, sogar die Augen öffnen und jene erkennen, dennoch aber fortträumen und sich namentlich ängstlichen Traum- vorstellungen nicht zu entziehen vermögen. -- Eben die Mittelzustände zwischen Schlaf und Wachen sind es, welche das Auftreten von Illusionen und Phantasmen ausserordentlich begünstigen (§. 49.), welche sich durch ein regelloses Treiben der Phantasie und durch Verworrenheit der Intelligenz auszeichnen. Ihnen geht der Zustand der Schläfrigkeit voraus, in dem sich das Individuum schwerfällig, torpid und schweigsam zeigt, die Sinne stumpf werden, die Gesichtseindrücke verschwimmen, die Töne wie aus grösserer Entfernung zu kommen scheinen, das Bewusstsein sich umnebelt, die Antworten verspätet werden, wo man sich halb vergisst, wohl auch etwas Verkehrtes spricht, wie wir so ganz in derselben Weise oft beim Beginn des Irreseins sehen, dass zuerst die sensitive und mo- torische Reaction gegen die Aussenwelt ermattet und nun erst eine Welt von Phantasmen und verwirrt durcheinander laufenden Vorstellungen auftaucht, in der sich der Kranke nicht mehr zurecht zu finden weiss. Zu der allmähligen Be- schwichtigung des Vorstellens und Strebens, in der das gesunde wirkliche Ein- schlafen besteht, lässt es die dauernde (schmerzliche) Gemüthsbewegung des Irre- werdenden nicht kommen, und man beobachtet auch in diesen Anfangsperioden der Krankheit, trotz der äusserlichen, schläfrigen Ermattung, sehr gewöhnlich Schlaf- losigkeit.
§. 57.
Der Traum wie das Irresein erhält seine wesentliche Färbung, seinen bestimmten Grundton von der herrschenden Stimmung, welche ebensowohl aus den psychischen Ereignissen des wachen Lebens herübergenommen als durch Aenderung der organischen Zustände erst während des Schlafs gegeben sein kann. Die herrschenden Ge- fühle der Lust oder Unlust ziehen die ihnen adäquaten Bilder und Anschauungen herauf, und was von Aussen durch die Sinne eintritt, das trifft dann beim wirklich Träumenden, wie beim Irren auf ein präoccupirtes, von der gegebenen Stimmung erfülltes Centrum und wird im Sinne der herrschenden Gefühle und Vorstellungen verwendet und ausgelegt. Andererseits aber entsteht auch derselbe Zwiespalt der Persönlichkeit und derselbe Sturm des Affects, wenn sich gesonderte Haufen von Vorstellungen und Gefühlen von ungewohntem, feindlichem Inhalt dem Ich gegenüberstellen, und der Traum wie der Wahnsinn sind geschäftig, in Bildern (Hallucinationen) aller Sinne das Subjec- tivste nach Aussen zu verlegen und zu dramatisiren.
Analogie des Irreseins
gezwungener Stellungen ausspricht (§. 56.) — welche, in Verbindung mit der zugleich vorhandenen Umdämmerung des Bewusstseins, leb- haft an das Verhalten des beginnenden Schlafs erinnern.
In der That muss sich die Analogie des Irreseins mit dem Traum namentlich an die Träume im halbwachen Zustande halten. Bei Kindern sieht man zuweilen, namentlich in leichteren Krankheiten, dass sie zwar schlafen, aber doch spre- chen, z. B. die Mutter verstehen, ihr antworten, sogar die Augen öffnen und jene erkennen, dennoch aber fortträumen und sich namentlich ängstlichen Traum- vorstellungen nicht zu entziehen vermögen. — Eben die Mittelzustände zwischen Schlaf und Wachen sind es, welche das Auftreten von Illusionen und Phantasmen ausserordentlich begünstigen (§. 49.), welche sich durch ein regelloses Treiben der Phantasie und durch Verworrenheit der Intelligenz auszeichnen. Ihnen geht der Zustand der Schläfrigkeit voraus, in dem sich das Individuum schwerfällig, torpid und schweigsam zeigt, die Sinne stumpf werden, die Gesichtseindrücke verschwimmen, die Töne wie aus grösserer Entfernung zu kommen scheinen, das Bewusstsein sich umnebelt, die Antworten verspätet werden, wo man sich halb vergisst, wohl auch etwas Verkehrtes spricht, wie wir so ganz in derselben Weise oft beim Beginn des Irreseins sehen, dass zuerst die sensitive und mo- torische Reaction gegen die Aussenwelt ermattet und nun erst eine Welt von Phantasmen und verwirrt durcheinander laufenden Vorstellungen auftaucht, in der sich der Kranke nicht mehr zurecht zu finden weiss. Zu der allmähligen Be- schwichtigung des Vorstellens und Strebens, in der das gesunde wirkliche Ein- schlafen besteht, lässt es die dauernde (schmerzliche) Gemüthsbewegung des Irre- werdenden nicht kommen, und man beobachtet auch in diesen Anfangsperioden der Krankheit, trotz der äusserlichen, schläfrigen Ermattung, sehr gewöhnlich Schlaf- losigkeit.
§. 57.
Der Traum wie das Irresein erhält seine wesentliche Färbung, seinen bestimmten Grundton von der herrschenden Stimmung, welche ebensowohl aus den psychischen Ereignissen des wachen Lebens herübergenommen als durch Aenderung der organischen Zustände erst während des Schlafs gegeben sein kann. Die herrschenden Ge- fühle der Lust oder Unlust ziehen die ihnen adäquaten Bilder und Anschauungen herauf, und was von Aussen durch die Sinne eintritt, das trifft dann beim wirklich Träumenden, wie beim Irren auf ein präoccupirtes, von der gegebenen Stimmung erfülltes Centrum und wird im Sinne der herrschenden Gefühle und Vorstellungen verwendet und ausgelegt. Andererseits aber entsteht auch derselbe Zwiespalt der Persönlichkeit und derselbe Sturm des Affects, wenn sich gesonderte Haufen von Vorstellungen und Gefühlen von ungewohntem, feindlichem Inhalt dem Ich gegenüberstellen, und der Traum wie der Wahnsinn sind geschäftig, in Bildern (Hallucinationen) aller Sinne das Subjec- tivste nach Aussen zu verlegen und zu dramatisiren.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0102"n="88"/><fwplace="top"type="header">Analogie des Irreseins</fw><lb/>
gezwungener Stellungen ausspricht (§. 56.) — welche, in Verbindung<lb/>
mit der zugleich vorhandenen Umdämmerung des Bewusstseins, leb-<lb/>
haft an das Verhalten des <hirendition="#g">beginnenden</hi> Schlafs erinnern.</p><lb/><p>In der That muss sich die Analogie des Irreseins mit dem Traum namentlich<lb/>
an die Träume im halbwachen Zustande halten. Bei Kindern sieht man zuweilen,<lb/>
namentlich in leichteren Krankheiten, dass sie zwar schlafen, aber doch spre-<lb/>
chen, z. B. die Mutter verstehen, ihr antworten, sogar die Augen öffnen und<lb/>
jene erkennen, dennoch aber fortträumen und sich namentlich ängstlichen Traum-<lb/>
vorstellungen nicht zu entziehen vermögen. — Eben die Mittelzustände zwischen<lb/>
Schlaf und Wachen sind es, welche das Auftreten von Illusionen und Phantasmen<lb/>
ausserordentlich begünstigen (§. 49.), welche sich durch ein regelloses Treiben<lb/>
der Phantasie und durch Verworrenheit der Intelligenz auszeichnen. Ihnen geht<lb/>
der Zustand der Schläfrigkeit voraus, in dem sich das Individuum schwerfällig,<lb/>
torpid und schweigsam zeigt, die Sinne stumpf werden, die Gesichtseindrücke<lb/>
verschwimmen, die Töne wie aus grösserer Entfernung zu kommen scheinen,<lb/>
das Bewusstsein sich umnebelt, die Antworten verspätet werden, wo man sich<lb/>
halb vergisst, wohl auch etwas Verkehrtes spricht, wie wir so ganz in derselben<lb/>
Weise oft beim Beginn des Irreseins sehen, dass zuerst die sensitive und mo-<lb/>
torische Reaction gegen die Aussenwelt ermattet und nun erst eine Welt von<lb/>
Phantasmen und verwirrt durcheinander laufenden Vorstellungen auftaucht, in der<lb/>
sich der Kranke nicht mehr zurecht zu finden weiss. Zu der allmähligen Be-<lb/>
schwichtigung des Vorstellens und Strebens, in der das gesunde wirkliche Ein-<lb/>
schlafen besteht, lässt es die dauernde (schmerzliche) Gemüthsbewegung des Irre-<lb/>
werdenden nicht kommen, und man beobachtet auch in diesen Anfangsperioden der<lb/>
Krankheit, trotz der äusserlichen, schläfrigen Ermattung, sehr gewöhnlich Schlaf-<lb/>
losigkeit.</p></div><lb/><divn="3"><head>§. 57.</head><lb/><p>Der Traum wie das Irresein erhält seine wesentliche Färbung,<lb/>
seinen bestimmten Grundton von der herrschenden Stimmung, welche<lb/>
ebensowohl aus den psychischen Ereignissen des wachen Lebens<lb/>
herübergenommen als durch Aenderung der organischen Zustände<lb/>
erst während des Schlafs gegeben sein kann. Die herrschenden Ge-<lb/>
fühle der Lust oder Unlust ziehen die ihnen adäquaten Bilder und<lb/>
Anschauungen herauf, und was von Aussen durch die Sinne eintritt,<lb/>
das trifft dann beim wirklich Träumenden, wie beim Irren auf ein<lb/>
präoccupirtes, von der gegebenen Stimmung erfülltes Centrum und wird<lb/>
im Sinne der herrschenden Gefühle und Vorstellungen verwendet und<lb/>
ausgelegt. Andererseits aber entsteht auch derselbe Zwiespalt der<lb/>
Persönlichkeit und derselbe Sturm des Affects, wenn sich gesonderte<lb/>
Haufen von Vorstellungen und Gefühlen von ungewohntem, feindlichem<lb/>
Inhalt dem Ich gegenüberstellen, und der Traum wie der Wahnsinn<lb/>
sind geschäftig, in Bildern (Hallucinationen) aller Sinne das Subjec-<lb/>
tivste nach Aussen zu verlegen und zu dramatisiren.</p><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[88/0102]
Analogie des Irreseins
gezwungener Stellungen ausspricht (§. 56.) — welche, in Verbindung
mit der zugleich vorhandenen Umdämmerung des Bewusstseins, leb-
haft an das Verhalten des beginnenden Schlafs erinnern.
In der That muss sich die Analogie des Irreseins mit dem Traum namentlich
an die Träume im halbwachen Zustande halten. Bei Kindern sieht man zuweilen,
namentlich in leichteren Krankheiten, dass sie zwar schlafen, aber doch spre-
chen, z. B. die Mutter verstehen, ihr antworten, sogar die Augen öffnen und
jene erkennen, dennoch aber fortträumen und sich namentlich ängstlichen Traum-
vorstellungen nicht zu entziehen vermögen. — Eben die Mittelzustände zwischen
Schlaf und Wachen sind es, welche das Auftreten von Illusionen und Phantasmen
ausserordentlich begünstigen (§. 49.), welche sich durch ein regelloses Treiben
der Phantasie und durch Verworrenheit der Intelligenz auszeichnen. Ihnen geht
der Zustand der Schläfrigkeit voraus, in dem sich das Individuum schwerfällig,
torpid und schweigsam zeigt, die Sinne stumpf werden, die Gesichtseindrücke
verschwimmen, die Töne wie aus grösserer Entfernung zu kommen scheinen,
das Bewusstsein sich umnebelt, die Antworten verspätet werden, wo man sich
halb vergisst, wohl auch etwas Verkehrtes spricht, wie wir so ganz in derselben
Weise oft beim Beginn des Irreseins sehen, dass zuerst die sensitive und mo-
torische Reaction gegen die Aussenwelt ermattet und nun erst eine Welt von
Phantasmen und verwirrt durcheinander laufenden Vorstellungen auftaucht, in der
sich der Kranke nicht mehr zurecht zu finden weiss. Zu der allmähligen Be-
schwichtigung des Vorstellens und Strebens, in der das gesunde wirkliche Ein-
schlafen besteht, lässt es die dauernde (schmerzliche) Gemüthsbewegung des Irre-
werdenden nicht kommen, und man beobachtet auch in diesen Anfangsperioden der
Krankheit, trotz der äusserlichen, schläfrigen Ermattung, sehr gewöhnlich Schlaf-
losigkeit.
§. 57.
Der Traum wie das Irresein erhält seine wesentliche Färbung,
seinen bestimmten Grundton von der herrschenden Stimmung, welche
ebensowohl aus den psychischen Ereignissen des wachen Lebens
herübergenommen als durch Aenderung der organischen Zustände
erst während des Schlafs gegeben sein kann. Die herrschenden Ge-
fühle der Lust oder Unlust ziehen die ihnen adäquaten Bilder und
Anschauungen herauf, und was von Aussen durch die Sinne eintritt,
das trifft dann beim wirklich Träumenden, wie beim Irren auf ein
präoccupirtes, von der gegebenen Stimmung erfülltes Centrum und wird
im Sinne der herrschenden Gefühle und Vorstellungen verwendet und
ausgelegt. Andererseits aber entsteht auch derselbe Zwiespalt der
Persönlichkeit und derselbe Sturm des Affects, wenn sich gesonderte
Haufen von Vorstellungen und Gefühlen von ungewohntem, feindlichem
Inhalt dem Ich gegenüberstellen, und der Traum wie der Wahnsinn
sind geschäftig, in Bildern (Hallucinationen) aller Sinne das Subjec-
tivste nach Aussen zu verlegen und zu dramatisiren.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/102>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.