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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Viertes Vierteljahr.

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Deutsche Worte

stürz, die Männer des 9. November führten ihn fort, die autoritätslose Regierungs¬
weise unserer Tage vollendet ihn. Der Jaki 1917 warf den Kanzler, der November
1918 die schlechtvertretene Monarchie ab, und das heutige Volk gleicht einem
zügellosen Traber. Das Abwerfen eines schlechten Reiters mag dem Tier vor¬
übergehende Befriedigung gewähren, führt es aber immer tiefer in die Irre.
Wem es nun aber an Selbstvertrauen fehlt, der erwartet alles vom Vertrauen
der Fremden, und so mußte auf Bethmanns Verständigungsutopie das wesens¬
verwandte, aber noch viel groteskere Revolutionssystem folgen, das sich auf Treu
und Glauben dem Feind in die Hand gab. Heute sind wir beim unehrlichen
Erfüllungssystem angelangt, und da wir alle Macht von uns getan, so bleibt in
der Tat jetzt keine andere Hoffnung, als die auf Spaltungen in dem Bund unserer
Feinde. Die Hoffnung wird in weitem Umfang enttäuschen. Wir liegen zwischen
zwei Mühlsteinen, bis die völlige Umkehr vom System Bethmann kommt,
eine Umkehr, die natürlich mit jedem Schritt abwärts um soviel schwieriger ge¬
worden ist, eine Umkehr, die uns nicht mehr sofort frei machen kann, aber we
uigstens ehrlich und mit wiedergewonnener Ehrlichkeit auch wieder selbstver
trauend. Solange wir wie Hans im Glück jeden neuen Sturz für den letzten
und jede Hoffnung für ein Äquivalent des Verlorenen halten, lebt der Jllusions-
geist Bethmanns weiter, und die Tiefenmarke unseres Sturzes ist noch nicht
erreicht.




Die Verstimmung der ungebildeten Masse"" kann zu einer akuten Krankheit
führen, gegen die wir Heilmittel besitzen; eine Verstimmung aber der gebildeten
-- und der wohlgesinnten -- Minderheit führt zu chronischer Krankheit, deren
Bismarck < Diagnose schwierig ist und deren Heilung langwierig. g"!>




Niemals kann ich dahin kommen, am Vaterlande zu verzweifeln; ich glaube
zu fest daran, ich weisz es zu bestimmt, daß es ein auserwähltes Werkzeug und
Volk Gottes ist. Es ist möglich, daß alle unsere Bemühungen vergeblich sind
und daß vorderhand harte und drückende Zeiten eintreten -- aber das Vaterland
wird gewiß herrlich daraus hervorgehen in kurzem.

Fr. Schleiermacher an seine Braut
<Z l. Dezember ^hos)




Es ist zu hoffen, daß die jetzige große Gärung den Abschaum auswirft
und abwirft und die selbständigen zutage fördert.


I. G. Semne, Apokryphen
Deutsche Worte

stürz, die Männer des 9. November führten ihn fort, die autoritätslose Regierungs¬
weise unserer Tage vollendet ihn. Der Jaki 1917 warf den Kanzler, der November
1918 die schlechtvertretene Monarchie ab, und das heutige Volk gleicht einem
zügellosen Traber. Das Abwerfen eines schlechten Reiters mag dem Tier vor¬
übergehende Befriedigung gewähren, führt es aber immer tiefer in die Irre.
Wem es nun aber an Selbstvertrauen fehlt, der erwartet alles vom Vertrauen
der Fremden, und so mußte auf Bethmanns Verständigungsutopie das wesens¬
verwandte, aber noch viel groteskere Revolutionssystem folgen, das sich auf Treu
und Glauben dem Feind in die Hand gab. Heute sind wir beim unehrlichen
Erfüllungssystem angelangt, und da wir alle Macht von uns getan, so bleibt in
der Tat jetzt keine andere Hoffnung, als die auf Spaltungen in dem Bund unserer
Feinde. Die Hoffnung wird in weitem Umfang enttäuschen. Wir liegen zwischen
zwei Mühlsteinen, bis die völlige Umkehr vom System Bethmann kommt,
eine Umkehr, die natürlich mit jedem Schritt abwärts um soviel schwieriger ge¬
worden ist, eine Umkehr, die uns nicht mehr sofort frei machen kann, aber we
uigstens ehrlich und mit wiedergewonnener Ehrlichkeit auch wieder selbstver
trauend. Solange wir wie Hans im Glück jeden neuen Sturz für den letzten
und jede Hoffnung für ein Äquivalent des Verlorenen halten, lebt der Jllusions-
geist Bethmanns weiter, und die Tiefenmarke unseres Sturzes ist noch nicht
erreicht.




Die Verstimmung der ungebildeten Masse»« kann zu einer akuten Krankheit
führen, gegen die wir Heilmittel besitzen; eine Verstimmung aber der gebildeten
— und der wohlgesinnten — Minderheit führt zu chronischer Krankheit, deren
Bismarck < Diagnose schwierig ist und deren Heilung langwierig. g»!>




Niemals kann ich dahin kommen, am Vaterlande zu verzweifeln; ich glaube
zu fest daran, ich weisz es zu bestimmt, daß es ein auserwähltes Werkzeug und
Volk Gottes ist. Es ist möglich, daß alle unsere Bemühungen vergeblich sind
und daß vorderhand harte und drückende Zeiten eintreten — aber das Vaterland
wird gewiß herrlich daraus hervorgehen in kurzem.

Fr. Schleiermacher an seine Braut
<Z l. Dezember ^hos)




Es ist zu hoffen, daß die jetzige große Gärung den Abschaum auswirft
und abwirft und die selbständigen zutage fördert.


I. G. Semne, Apokryphen
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[0373] Deutsche Worte stürz, die Männer des 9. November führten ihn fort, die autoritätslose Regierungs¬ weise unserer Tage vollendet ihn. Der Jaki 1917 warf den Kanzler, der November 1918 die schlechtvertretene Monarchie ab, und das heutige Volk gleicht einem zügellosen Traber. Das Abwerfen eines schlechten Reiters mag dem Tier vor¬ übergehende Befriedigung gewähren, führt es aber immer tiefer in die Irre. Wem es nun aber an Selbstvertrauen fehlt, der erwartet alles vom Vertrauen der Fremden, und so mußte auf Bethmanns Verständigungsutopie das wesens¬ verwandte, aber noch viel groteskere Revolutionssystem folgen, das sich auf Treu und Glauben dem Feind in die Hand gab. Heute sind wir beim unehrlichen Erfüllungssystem angelangt, und da wir alle Macht von uns getan, so bleibt in der Tat jetzt keine andere Hoffnung, als die auf Spaltungen in dem Bund unserer Feinde. Die Hoffnung wird in weitem Umfang enttäuschen. Wir liegen zwischen zwei Mühlsteinen, bis die völlige Umkehr vom System Bethmann kommt, eine Umkehr, die natürlich mit jedem Schritt abwärts um soviel schwieriger ge¬ worden ist, eine Umkehr, die uns nicht mehr sofort frei machen kann, aber we uigstens ehrlich und mit wiedergewonnener Ehrlichkeit auch wieder selbstver trauend. Solange wir wie Hans im Glück jeden neuen Sturz für den letzten und jede Hoffnung für ein Äquivalent des Verlorenen halten, lebt der Jllusions- geist Bethmanns weiter, und die Tiefenmarke unseres Sturzes ist noch nicht erreicht. Die Verstimmung der ungebildeten Masse»« kann zu einer akuten Krankheit führen, gegen die wir Heilmittel besitzen; eine Verstimmung aber der gebildeten — und der wohlgesinnten — Minderheit führt zu chronischer Krankheit, deren Bismarck < Diagnose schwierig ist und deren Heilung langwierig. g»!> Niemals kann ich dahin kommen, am Vaterlande zu verzweifeln; ich glaube zu fest daran, ich weisz es zu bestimmt, daß es ein auserwähltes Werkzeug und Volk Gottes ist. Es ist möglich, daß alle unsere Bemühungen vergeblich sind und daß vorderhand harte und drückende Zeiten eintreten — aber das Vaterland wird gewiß herrlich daraus hervorgehen in kurzem. Fr. Schleiermacher an seine Braut <Z l. Dezember ^hos) Es ist zu hoffen, daß die jetzige große Gärung den Abschaum auswirft und abwirft und die selbständigen zutage fördert. I. G. Semne, Apokryphen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339548/373>, abgerufen am 27.09.2024.