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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Viertes Vierteljahr.

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Der Musik-Chronist

[Beginn Spaltensatz]

Synthese gezwungen, die in ihrer Größe
von erhabener Einmaligkeit ist. Der
Zarathustra zeigt Strauß auf der Höhe
seiner Schöpferkraft; daß diese leider im
Nachlassen ist, bewies die von Gustav
Brecher dirigierte Uraufführung seiner
drei Hymnen nach Hölderlin für eine
Sopranstimme, von Barbara Krop
gesungen. Wer wollte behaupten, daß
Hölderlins herrliche Worte durch Strauß
eine auch nur einigermaßen gleichwertige
musikalische Auslegung erfahren hätten I
Ich habe das Gefühl, daß diese Musik
nicht mit dem Herzen, sondern nur mit
der "kalten Hand", mit der stupenden
Routine eines Komponisten gemacht ist,
der eben alles kann. Und was ist da-
bei herausgekommen? Eine glänzende
Fassade, hinter der nichts anderes steht
als Ärmlichkeit des Gedankens und der
Empfindung. Wie bitter, dieses Strauß
sagen zu müssen, dem unsere Musik so
viel verdankt! Nun -- auch ein Großer
kann nicht immer auf den Höhen schöpfe¬
rischer Kraft stehen.

Soviel von Konzerten; der mir zu¬
gemessene Platz zwingt mich, Fritz
Reiner und Werner Wolff, die
Brucknersche Sinfonien aufführten, so¬
wie Bruno Walter und Siegfried
Ochs, dessen junger Hochschulchor die
unsäglichen Schwierigkeiten von Bachs
k^-moll-Messe erstaunlich bewältigte,
nur mit dieser Erwähnung zu streifen
und nunmehr einiges von der Oper
zu erzählen.

In beiden Operntheatern, sowohl in
der Staatsoper wie im Deutschen Opern¬
haus kehrten illustre Gäste ein, unter
denen der weltberühmte italienische
Bariton Mattio Vattistini das größte
Interesse auf sich zog. Wenn man seine
Stimme hört, deren Wohllaut mit keinem
Worte zu beschreiben ist, so weiß man
plötzlich mit vollkommener Gewißheit,
was singen heißt. Dann wird es einem
klar, daß all' die Mittelchen und Me¬
thoden, mit denen Leute, die "auch"
etwas vom Gesang verstehen, zu dem
ersehnten Ziele zu kommen hoffen, in
ein Nichts zerfließen vor dem geborenen
Sänger, wie es Vattistini ist. Mühelos
und frei strömt ihm der Ton aus der
Kehle, nirgends ein Drücken, nirgends
ein Pressen, voll und sonor wie ein
Glockenklang schwingt diese Stimme im

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Raume, getragen von einem Atem, dessen
Führung mustergültig ist. Es gibt eben
nur diese eine Art des Singens, und
wer Vattistini einmal gehört hat, weiß,
was gemeint ist: er hat das, was die
Italiener das "Singen auf dem Atem"
nennen, dieses aber wie auch alles
andere Technische, in einem solch un¬
erhörten Maße der Vollendung, daß
selbst die Kunst Carusos davor zurück¬
treten mußte. Was ihn aber erst zu
dem großen und einzigen Künstler macht,
das ist seine Kunst des Vortrags und
der Gestaltung. Man fühlt es: hinter
diesem fabelhaften technischen Können
steht ein Geist, eine reiche und tiefe
Menschlichkeit, die mit unendlicher Hin¬
gebung und Schlichtheit einzig und
allein dem Kunstwerke dient. Das
merkte man vor allem bei seiner Ge¬
staltung der Rolle des Scarpia in
Puccinis "Tosca". Es gab an diesem
Abend Augenblicke, in denen man bei¬
nahe fassungslos wurde vor der Gewalt
dieses Spiels und der Schönheit dieses
Singens. Dieselbe Rolle sang auch
Michael Bohnen im Deutschen Opern¬
hause. Unmöglich, mit Worten eine
Vorstellung zu geben von dem schau¬
spielerischen Nuancenreichtum, mit dem
Bohnen diese Rolle erfüllt. Dabei ist
er einer der wenigen Künstler, die ganz
aus dem Geiste der Partitur, also
wahrhaft musikdramatisch gestalten.
Keine Bewegung, die nicht aus der
Musik geboren wäre, kein Schritt, der
nicht im innigsten Kontakt mit dem
Orchester geschähe. Alles ist bis ins
kleinste mit schärfsten Intellekt durch¬
dacht, und eine Fülle eminent geistreicher
Einzelzüge ist mit überlegenem Verstand
zu einer Leistung von imposanter Ge¬
schlossenheit geordnet.

Zum Schluß noch ein paar Worte
über die letzte Neueinstudierung der
Staatsoper, über Hans Psitzners
zweiaklige Spieloper "Das Christ¬
elflein". In diese Oper werden zwei
Akte, die eigentlich gar nichts miteinander
zu tun haben, auf ziemlich künstliche
Weise zusammengekoppelt. so daß der
Hörer, der unvorbereitet den Vorgängen
folgt, am Schlüsse das Gefühl hat, irgend¬
wie unbefriedigt entlassen zu sein. Die
psychologische Verknüpfung dieser beiden
Akte ist gar zu gering, und die phan-

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Der Musik-Chronist

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Synthese gezwungen, die in ihrer Größe
von erhabener Einmaligkeit ist. Der
Zarathustra zeigt Strauß auf der Höhe
seiner Schöpferkraft; daß diese leider im
Nachlassen ist, bewies die von Gustav
Brecher dirigierte Uraufführung seiner
drei Hymnen nach Hölderlin für eine
Sopranstimme, von Barbara Krop
gesungen. Wer wollte behaupten, daß
Hölderlins herrliche Worte durch Strauß
eine auch nur einigermaßen gleichwertige
musikalische Auslegung erfahren hätten I
Ich habe das Gefühl, daß diese Musik
nicht mit dem Herzen, sondern nur mit
der „kalten Hand", mit der stupenden
Routine eines Komponisten gemacht ist,
der eben alles kann. Und was ist da-
bei herausgekommen? Eine glänzende
Fassade, hinter der nichts anderes steht
als Ärmlichkeit des Gedankens und der
Empfindung. Wie bitter, dieses Strauß
sagen zu müssen, dem unsere Musik so
viel verdankt! Nun — auch ein Großer
kann nicht immer auf den Höhen schöpfe¬
rischer Kraft stehen.

Soviel von Konzerten; der mir zu¬
gemessene Platz zwingt mich, Fritz
Reiner und Werner Wolff, die
Brucknersche Sinfonien aufführten, so¬
wie Bruno Walter und Siegfried
Ochs, dessen junger Hochschulchor die
unsäglichen Schwierigkeiten von Bachs
k^-moll-Messe erstaunlich bewältigte,
nur mit dieser Erwähnung zu streifen
und nunmehr einiges von der Oper
zu erzählen.

In beiden Operntheatern, sowohl in
der Staatsoper wie im Deutschen Opern¬
haus kehrten illustre Gäste ein, unter
denen der weltberühmte italienische
Bariton Mattio Vattistini das größte
Interesse auf sich zog. Wenn man seine
Stimme hört, deren Wohllaut mit keinem
Worte zu beschreiben ist, so weiß man
plötzlich mit vollkommener Gewißheit,
was singen heißt. Dann wird es einem
klar, daß all' die Mittelchen und Me¬
thoden, mit denen Leute, die „auch"
etwas vom Gesang verstehen, zu dem
ersehnten Ziele zu kommen hoffen, in
ein Nichts zerfließen vor dem geborenen
Sänger, wie es Vattistini ist. Mühelos
und frei strömt ihm der Ton aus der
Kehle, nirgends ein Drücken, nirgends
ein Pressen, voll und sonor wie ein
Glockenklang schwingt diese Stimme im

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Raume, getragen von einem Atem, dessen
Führung mustergültig ist. Es gibt eben
nur diese eine Art des Singens, und
wer Vattistini einmal gehört hat, weiß,
was gemeint ist: er hat das, was die
Italiener das „Singen auf dem Atem"
nennen, dieses aber wie auch alles
andere Technische, in einem solch un¬
erhörten Maße der Vollendung, daß
selbst die Kunst Carusos davor zurück¬
treten mußte. Was ihn aber erst zu
dem großen und einzigen Künstler macht,
das ist seine Kunst des Vortrags und
der Gestaltung. Man fühlt es: hinter
diesem fabelhaften technischen Können
steht ein Geist, eine reiche und tiefe
Menschlichkeit, die mit unendlicher Hin¬
gebung und Schlichtheit einzig und
allein dem Kunstwerke dient. Das
merkte man vor allem bei seiner Ge¬
staltung der Rolle des Scarpia in
Puccinis „Tosca". Es gab an diesem
Abend Augenblicke, in denen man bei¬
nahe fassungslos wurde vor der Gewalt
dieses Spiels und der Schönheit dieses
Singens. Dieselbe Rolle sang auch
Michael Bohnen im Deutschen Opern¬
hause. Unmöglich, mit Worten eine
Vorstellung zu geben von dem schau¬
spielerischen Nuancenreichtum, mit dem
Bohnen diese Rolle erfüllt. Dabei ist
er einer der wenigen Künstler, die ganz
aus dem Geiste der Partitur, also
wahrhaft musikdramatisch gestalten.
Keine Bewegung, die nicht aus der
Musik geboren wäre, kein Schritt, der
nicht im innigsten Kontakt mit dem
Orchester geschähe. Alles ist bis ins
kleinste mit schärfsten Intellekt durch¬
dacht, und eine Fülle eminent geistreicher
Einzelzüge ist mit überlegenem Verstand
zu einer Leistung von imposanter Ge¬
schlossenheit geordnet.

Zum Schluß noch ein paar Worte
über die letzte Neueinstudierung der
Staatsoper, über Hans Psitzners
zweiaklige Spieloper „Das Christ¬
elflein". In diese Oper werden zwei
Akte, die eigentlich gar nichts miteinander
zu tun haben, auf ziemlich künstliche
Weise zusammengekoppelt. so daß der
Hörer, der unvorbereitet den Vorgängen
folgt, am Schlüsse das Gefühl hat, irgend¬
wie unbefriedigt entlassen zu sein. Die
psychologische Verknüpfung dieser beiden
Akte ist gar zu gering, und die phan-

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[0328] Der Musik-Chronist Synthese gezwungen, die in ihrer Größe von erhabener Einmaligkeit ist. Der Zarathustra zeigt Strauß auf der Höhe seiner Schöpferkraft; daß diese leider im Nachlassen ist, bewies die von Gustav Brecher dirigierte Uraufführung seiner drei Hymnen nach Hölderlin für eine Sopranstimme, von Barbara Krop gesungen. Wer wollte behaupten, daß Hölderlins herrliche Worte durch Strauß eine auch nur einigermaßen gleichwertige musikalische Auslegung erfahren hätten I Ich habe das Gefühl, daß diese Musik nicht mit dem Herzen, sondern nur mit der „kalten Hand", mit der stupenden Routine eines Komponisten gemacht ist, der eben alles kann. Und was ist da- bei herausgekommen? Eine glänzende Fassade, hinter der nichts anderes steht als Ärmlichkeit des Gedankens und der Empfindung. Wie bitter, dieses Strauß sagen zu müssen, dem unsere Musik so viel verdankt! Nun — auch ein Großer kann nicht immer auf den Höhen schöpfe¬ rischer Kraft stehen. Soviel von Konzerten; der mir zu¬ gemessene Platz zwingt mich, Fritz Reiner und Werner Wolff, die Brucknersche Sinfonien aufführten, so¬ wie Bruno Walter und Siegfried Ochs, dessen junger Hochschulchor die unsäglichen Schwierigkeiten von Bachs k^-moll-Messe erstaunlich bewältigte, nur mit dieser Erwähnung zu streifen und nunmehr einiges von der Oper zu erzählen. In beiden Operntheatern, sowohl in der Staatsoper wie im Deutschen Opern¬ haus kehrten illustre Gäste ein, unter denen der weltberühmte italienische Bariton Mattio Vattistini das größte Interesse auf sich zog. Wenn man seine Stimme hört, deren Wohllaut mit keinem Worte zu beschreiben ist, so weiß man plötzlich mit vollkommener Gewißheit, was singen heißt. Dann wird es einem klar, daß all' die Mittelchen und Me¬ thoden, mit denen Leute, die „auch" etwas vom Gesang verstehen, zu dem ersehnten Ziele zu kommen hoffen, in ein Nichts zerfließen vor dem geborenen Sänger, wie es Vattistini ist. Mühelos und frei strömt ihm der Ton aus der Kehle, nirgends ein Drücken, nirgends ein Pressen, voll und sonor wie ein Glockenklang schwingt diese Stimme im Raume, getragen von einem Atem, dessen Führung mustergültig ist. Es gibt eben nur diese eine Art des Singens, und wer Vattistini einmal gehört hat, weiß, was gemeint ist: er hat das, was die Italiener das „Singen auf dem Atem" nennen, dieses aber wie auch alles andere Technische, in einem solch un¬ erhörten Maße der Vollendung, daß selbst die Kunst Carusos davor zurück¬ treten mußte. Was ihn aber erst zu dem großen und einzigen Künstler macht, das ist seine Kunst des Vortrags und der Gestaltung. Man fühlt es: hinter diesem fabelhaften technischen Können steht ein Geist, eine reiche und tiefe Menschlichkeit, die mit unendlicher Hin¬ gebung und Schlichtheit einzig und allein dem Kunstwerke dient. Das merkte man vor allem bei seiner Ge¬ staltung der Rolle des Scarpia in Puccinis „Tosca". Es gab an diesem Abend Augenblicke, in denen man bei¬ nahe fassungslos wurde vor der Gewalt dieses Spiels und der Schönheit dieses Singens. Dieselbe Rolle sang auch Michael Bohnen im Deutschen Opern¬ hause. Unmöglich, mit Worten eine Vorstellung zu geben von dem schau¬ spielerischen Nuancenreichtum, mit dem Bohnen diese Rolle erfüllt. Dabei ist er einer der wenigen Künstler, die ganz aus dem Geiste der Partitur, also wahrhaft musikdramatisch gestalten. Keine Bewegung, die nicht aus der Musik geboren wäre, kein Schritt, der nicht im innigsten Kontakt mit dem Orchester geschähe. Alles ist bis ins kleinste mit schärfsten Intellekt durch¬ dacht, und eine Fülle eminent geistreicher Einzelzüge ist mit überlegenem Verstand zu einer Leistung von imposanter Ge¬ schlossenheit geordnet. Zum Schluß noch ein paar Worte über die letzte Neueinstudierung der Staatsoper, über Hans Psitzners zweiaklige Spieloper „Das Christ¬ elflein". In diese Oper werden zwei Akte, die eigentlich gar nichts miteinander zu tun haben, auf ziemlich künstliche Weise zusammengekoppelt. so daß der Hörer, der unvorbereitet den Vorgängen folgt, am Schlüsse das Gefühl hat, irgend¬ wie unbefriedigt entlassen zu sein. Die psychologische Verknüpfung dieser beiden Akte ist gar zu gering, und die phan-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339548/328>, abgerufen am 20.10.2024.