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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr.

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Ungarns neue Nationalitätenpolitik

Am verderblichsten wirkte in diesem Sinne -- um nur das krasseste Bei¬
spiel zu nennen -- das Volksschulgesetz vom Jahre 1907. Während das acht-
undsechziger Nationalitätengesetz bestimmte, daß jedem Volksschüler der Unterricht
in seiner Muttersprache erteilt werde, forderte das 1907er Gesetz den Unterricht
des Magyarischen für Anderssprachige in einem Umfange, daß die Absolventen,
der vierten elementaren Volksschulklasse ihre Gedanken magyarisch in Wort und
Schrift verständlich auszudrücken vermögen. Dazu sicherte das Gesetz dem Staate
weitgehende Einmengungen in das Schulwesen der Nationalitäten zu und ver¬
fügte, daß in Lehranstalten, in denen die Staatssprache einmal als alleinige Unter¬
richtssprache eingeführt sei, diese Tatsache nie mehr geändert werden könne.

Derartige Verfügungen erregten im Kreise der Nationalitäten Mißfallen
und Erbitterung, und diese erfuhren durch die Art, in der die gesetzlichen Be¬
stimmungen von den untergeordneten Behörden angewandt wurden, eine be¬
deutende Steigerung.

Das Ende dieses politischen Liedes, für das der Beiname häßlich leider
nur zu genau paßte, war die Abkehr der meisten Nationalitäten vom Staate.
Ich bin mir dessen wohl bewußt, daß ihr Abfall aus weiteren, bedeutenderen
Ursachen erfolgte; doch es steht auch fest, daß man im Lager der Feinde die Un¬
zufriedenheit der Nationalitäten zur willkommenen Bemäntelung der wahren Ur¬
sachen mit Vorteil benutzte.

Spät erst, nach der Verstümmelung des Landes, erwachte man hier aus
dem unglücklichen Fiebertraum des übertriebenen Nationalismus, der den skrupel¬
los einseitigen Nassenpolitikern bereits ein Ungarn mit dreißig Millionen Stock¬
magyaren vorspiegelte.

Allen voran gab Graf Stefan Tisza, der erst auch als freudiger Nationalist
in den Fußtapfen seines Vaters gewandelt war, dem ungarischen Parlament zu
bedenken, welche Erbitterung z. B. unter den ungarländischen Schwaben -- die
solidesten Grundsäulen der ungarischen Nation nannte er sie -- durch den Um¬
stand erzeugt würde, daß ihre Kinder nicht mehr deutsch lesen und schreiben können.

Graf Julius Andmssy, der auch im stolzen Selbstbewußtsein deklamierte,
der Ungar müsse ein Magyare sein können, sonst sei er wertlos, schlägt sich heute
reuevoll an die Brust und sagt: "Wir müssen aus der Vergangenheit Lehren
ziehen und den Staatsbürgern nichtmagyarischer Zunge den Gebrauch ihrer
Sprache in der Schule, vor dem Gericht und in der Verwaltung sichern."

Und offen spricht auch der Schöpfer des 1907er Volksschulgesetzes, Graf
Apponyi, selbst sein ^ca culpa: "Wer da meint, daß die nationale Einheit in
dem Sinne und mit jener, jede dazwischen fallende Formation ausschließende, Jn-
transigenz aufrecht erhalten werden könne, in welcher Art zum Beispiel auch
meine Wenigkeit vor dem Kriege tätig war, befindet sich in einem verhängnis¬
vollen Irrtum." .

Was diese drei bedeutenden Männer des Landes aussprachen, wiederholten
andere und billigte die Öffentlichkeit. Doch auf die Erkenntnis folgte keine Tat. Jedes
Einschreiten jener Mitglieder der Nationalversammlung, die sich zu ihrem ange¬
stammten nichtmagyarischen Volkstum bekennen, vornehmlich der deutschen Ab¬
geordneten, erzielte an den maßgebenden Stellen Versprechung auf Versprechung,
doch kein Minister wagte es, hente, wo die nationale Welle wieder höher geht,


Grenzboten III 1921 6
Ungarns neue Nationalitätenpolitik

Am verderblichsten wirkte in diesem Sinne — um nur das krasseste Bei¬
spiel zu nennen — das Volksschulgesetz vom Jahre 1907. Während das acht-
undsechziger Nationalitätengesetz bestimmte, daß jedem Volksschüler der Unterricht
in seiner Muttersprache erteilt werde, forderte das 1907er Gesetz den Unterricht
des Magyarischen für Anderssprachige in einem Umfange, daß die Absolventen,
der vierten elementaren Volksschulklasse ihre Gedanken magyarisch in Wort und
Schrift verständlich auszudrücken vermögen. Dazu sicherte das Gesetz dem Staate
weitgehende Einmengungen in das Schulwesen der Nationalitäten zu und ver¬
fügte, daß in Lehranstalten, in denen die Staatssprache einmal als alleinige Unter¬
richtssprache eingeführt sei, diese Tatsache nie mehr geändert werden könne.

Derartige Verfügungen erregten im Kreise der Nationalitäten Mißfallen
und Erbitterung, und diese erfuhren durch die Art, in der die gesetzlichen Be¬
stimmungen von den untergeordneten Behörden angewandt wurden, eine be¬
deutende Steigerung.

Das Ende dieses politischen Liedes, für das der Beiname häßlich leider
nur zu genau paßte, war die Abkehr der meisten Nationalitäten vom Staate.
Ich bin mir dessen wohl bewußt, daß ihr Abfall aus weiteren, bedeutenderen
Ursachen erfolgte; doch es steht auch fest, daß man im Lager der Feinde die Un¬
zufriedenheit der Nationalitäten zur willkommenen Bemäntelung der wahren Ur¬
sachen mit Vorteil benutzte.

Spät erst, nach der Verstümmelung des Landes, erwachte man hier aus
dem unglücklichen Fiebertraum des übertriebenen Nationalismus, der den skrupel¬
los einseitigen Nassenpolitikern bereits ein Ungarn mit dreißig Millionen Stock¬
magyaren vorspiegelte.

Allen voran gab Graf Stefan Tisza, der erst auch als freudiger Nationalist
in den Fußtapfen seines Vaters gewandelt war, dem ungarischen Parlament zu
bedenken, welche Erbitterung z. B. unter den ungarländischen Schwaben — die
solidesten Grundsäulen der ungarischen Nation nannte er sie — durch den Um¬
stand erzeugt würde, daß ihre Kinder nicht mehr deutsch lesen und schreiben können.

Graf Julius Andmssy, der auch im stolzen Selbstbewußtsein deklamierte,
der Ungar müsse ein Magyare sein können, sonst sei er wertlos, schlägt sich heute
reuevoll an die Brust und sagt: „Wir müssen aus der Vergangenheit Lehren
ziehen und den Staatsbürgern nichtmagyarischer Zunge den Gebrauch ihrer
Sprache in der Schule, vor dem Gericht und in der Verwaltung sichern."

Und offen spricht auch der Schöpfer des 1907er Volksschulgesetzes, Graf
Apponyi, selbst sein ^ca culpa: „Wer da meint, daß die nationale Einheit in
dem Sinne und mit jener, jede dazwischen fallende Formation ausschließende, Jn-
transigenz aufrecht erhalten werden könne, in welcher Art zum Beispiel auch
meine Wenigkeit vor dem Kriege tätig war, befindet sich in einem verhängnis¬
vollen Irrtum." .

Was diese drei bedeutenden Männer des Landes aussprachen, wiederholten
andere und billigte die Öffentlichkeit. Doch auf die Erkenntnis folgte keine Tat. Jedes
Einschreiten jener Mitglieder der Nationalversammlung, die sich zu ihrem ange¬
stammten nichtmagyarischen Volkstum bekennen, vornehmlich der deutschen Ab¬
geordneten, erzielte an den maßgebenden Stellen Versprechung auf Versprechung,
doch kein Minister wagte es, hente, wo die nationale Welle wieder höher geht,


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[0079] Ungarns neue Nationalitätenpolitik Am verderblichsten wirkte in diesem Sinne — um nur das krasseste Bei¬ spiel zu nennen — das Volksschulgesetz vom Jahre 1907. Während das acht- undsechziger Nationalitätengesetz bestimmte, daß jedem Volksschüler der Unterricht in seiner Muttersprache erteilt werde, forderte das 1907er Gesetz den Unterricht des Magyarischen für Anderssprachige in einem Umfange, daß die Absolventen, der vierten elementaren Volksschulklasse ihre Gedanken magyarisch in Wort und Schrift verständlich auszudrücken vermögen. Dazu sicherte das Gesetz dem Staate weitgehende Einmengungen in das Schulwesen der Nationalitäten zu und ver¬ fügte, daß in Lehranstalten, in denen die Staatssprache einmal als alleinige Unter¬ richtssprache eingeführt sei, diese Tatsache nie mehr geändert werden könne. Derartige Verfügungen erregten im Kreise der Nationalitäten Mißfallen und Erbitterung, und diese erfuhren durch die Art, in der die gesetzlichen Be¬ stimmungen von den untergeordneten Behörden angewandt wurden, eine be¬ deutende Steigerung. Das Ende dieses politischen Liedes, für das der Beiname häßlich leider nur zu genau paßte, war die Abkehr der meisten Nationalitäten vom Staate. Ich bin mir dessen wohl bewußt, daß ihr Abfall aus weiteren, bedeutenderen Ursachen erfolgte; doch es steht auch fest, daß man im Lager der Feinde die Un¬ zufriedenheit der Nationalitäten zur willkommenen Bemäntelung der wahren Ur¬ sachen mit Vorteil benutzte. Spät erst, nach der Verstümmelung des Landes, erwachte man hier aus dem unglücklichen Fiebertraum des übertriebenen Nationalismus, der den skrupel¬ los einseitigen Nassenpolitikern bereits ein Ungarn mit dreißig Millionen Stock¬ magyaren vorspiegelte. Allen voran gab Graf Stefan Tisza, der erst auch als freudiger Nationalist in den Fußtapfen seines Vaters gewandelt war, dem ungarischen Parlament zu bedenken, welche Erbitterung z. B. unter den ungarländischen Schwaben — die solidesten Grundsäulen der ungarischen Nation nannte er sie — durch den Um¬ stand erzeugt würde, daß ihre Kinder nicht mehr deutsch lesen und schreiben können. Graf Julius Andmssy, der auch im stolzen Selbstbewußtsein deklamierte, der Ungar müsse ein Magyare sein können, sonst sei er wertlos, schlägt sich heute reuevoll an die Brust und sagt: „Wir müssen aus der Vergangenheit Lehren ziehen und den Staatsbürgern nichtmagyarischer Zunge den Gebrauch ihrer Sprache in der Schule, vor dem Gericht und in der Verwaltung sichern." Und offen spricht auch der Schöpfer des 1907er Volksschulgesetzes, Graf Apponyi, selbst sein ^ca culpa: „Wer da meint, daß die nationale Einheit in dem Sinne und mit jener, jede dazwischen fallende Formation ausschließende, Jn- transigenz aufrecht erhalten werden könne, in welcher Art zum Beispiel auch meine Wenigkeit vor dem Kriege tätig war, befindet sich in einem verhängnis¬ vollen Irrtum." . Was diese drei bedeutenden Männer des Landes aussprachen, wiederholten andere und billigte die Öffentlichkeit. Doch auf die Erkenntnis folgte keine Tat. Jedes Einschreiten jener Mitglieder der Nationalversammlung, die sich zu ihrem ange¬ stammten nichtmagyarischen Volkstum bekennen, vornehmlich der deutschen Ab¬ geordneten, erzielte an den maßgebenden Stellen Versprechung auf Versprechung, doch kein Minister wagte es, hente, wo die nationale Welle wieder höher geht, Grenzboten III 1921 6

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339148/79>, abgerufen am 23.12.2024.