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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr.

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Altes und neues Heer

einandergewürfelt, ihrer Führer beraubt, oder mit Führern gewechselt. Die
Abwicklungsstsllen des alten Heeres stellen hohe Kontingents bei der Übernahme.

Der Frontsoldat der Freiwilligentruppe, der die Revolutionsregierung ihre
Rettung verdankt, gilt ihr als ein gefährlicher Freund und muß überall zurück¬
stehen. Seine Regierungsfeindlichkeit wächst. Sie ist schon groß. Für die Re¬
gierung kämpfen und sterben soll der Soldat, aber man sorgt nicht für ihn.
Das ist ein schwerer politischer Fehler.

In einem einzigen verschlissenen Anzug geht der Soldat tagaus, tagein.
Auf Wache, auf Urlaub. Die Löhnung ist geringer als die Arbeitslosenunter¬
stützung. In den Kasernen, belegt mit Teilen des auflösenden alten Heeres
und Zivilbehörden, liegen vierzig Mann auf einer Stube. Das Essen ist schlecht.
Wo der Soldat hinkommt, wird er beschimpft und verhöhnt, ist gehaßt und
gemieden. Nach der Entlassung wird er boykottiert. Die anständigen Elemente
gehen fort. Die linke deutsche Presse hetzt -- die Mitte ist still. Die Regierung
verteidigt ihre Soldaten nicht. So wird die Truppe innerlich immer gefestigter,
der Soldat wird offizierstreu, wird Landsknecht und zivilfeindlich. Die Verhetzung
und die Grausamkeit des Bürgerkrieges helfen dazu.

Es bleiben zunächst mehr Soldateska als Soldaten.

In Massen werden die jungen Soldaten entlassen. Unfertige Menschen --
im Kriege ohne väterliche Zucht aufgewachsen, bei den Freikorps erst verwildert,
dann langsam in harte, altpreußische Schule genommen -- sind sie noch nicht so
gefestigt, daß ihre Mehrzahl den mit der Arbeitslosigkeit verbundenen Gefahren
widerstehen könnte. Erlebnis- und vergnügungsdurstig strömen sie in die Groß-
städte. Entlassungsgeld und letzte Löhnung werden durchgebracht. Dann beginnt
der Hunger, und das abernachten in Bahnhofswartesälen. Sie vermehren das
großstädtische Gesinde!: Zuhälter, Hehler, Diebe, Verbrecher -- männliche
Prostituierte. Die Not und die Großstadt führen die jungen charakterlosen
Menschen abseits. Erst gelegentlich und zaghaft, dann wird das neue Leben zur
Gewohnheit und nur die wenigsten finden aus eigener Kraft den Weg zur
Arbeitsfähigkeit und zur Wohlanständigkeit zurück.

Welch' sozialer Wahnsinn -- diese Reichswehrbildung. Schuld trägt in
erster Linie Versailles, in der zweiten aber die soldatenfeindliche Regierung.

Während dieses "Abbaues" ist die "vorläufige Reichswehr" so gut wie
gefechtsunfähig -- aus organisatorischen Gründen, vor allem aber wegen ihrer
Geistesverfassung, die eine Wehr machtkrisis bedeutet. Denn: Von den
Offizieren, den Unteroffizieren und Kapitulanten steht ein jeder vor der Frage:
Bist du am nächsten Tag noch aktiv? Diese drei, nach der Revolution noch mehr
als bisher das Rückgrat der Wehrmacht, sie lassen nun die Dinge laufen, wie sie
wollen und -- warten ab. Ihr Beispiel wirkt auf die Mannschaften. Niemand
tut seinen Dienst mit Freude. Die Truppe verlottert. Die Revolution mit
ihrem aufwallenden Egoismus des Einzelnen ist nun auch an den Offizier und
die neue Wehrmacht herangekommen.

Die Revolutionszeit der jungen Wehrmacht weist drei Phasen auf: die re¬
volutionären Zustände der nach der Novemberrevolution gebildeten Truppe, die
militärisch-revolutionäre Erscheinung der Freikorps und nun die mangelnde Dienst-


Altes und neues Heer

einandergewürfelt, ihrer Führer beraubt, oder mit Führern gewechselt. Die
Abwicklungsstsllen des alten Heeres stellen hohe Kontingents bei der Übernahme.

Der Frontsoldat der Freiwilligentruppe, der die Revolutionsregierung ihre
Rettung verdankt, gilt ihr als ein gefährlicher Freund und muß überall zurück¬
stehen. Seine Regierungsfeindlichkeit wächst. Sie ist schon groß. Für die Re¬
gierung kämpfen und sterben soll der Soldat, aber man sorgt nicht für ihn.
Das ist ein schwerer politischer Fehler.

In einem einzigen verschlissenen Anzug geht der Soldat tagaus, tagein.
Auf Wache, auf Urlaub. Die Löhnung ist geringer als die Arbeitslosenunter¬
stützung. In den Kasernen, belegt mit Teilen des auflösenden alten Heeres
und Zivilbehörden, liegen vierzig Mann auf einer Stube. Das Essen ist schlecht.
Wo der Soldat hinkommt, wird er beschimpft und verhöhnt, ist gehaßt und
gemieden. Nach der Entlassung wird er boykottiert. Die anständigen Elemente
gehen fort. Die linke deutsche Presse hetzt — die Mitte ist still. Die Regierung
verteidigt ihre Soldaten nicht. So wird die Truppe innerlich immer gefestigter,
der Soldat wird offizierstreu, wird Landsknecht und zivilfeindlich. Die Verhetzung
und die Grausamkeit des Bürgerkrieges helfen dazu.

Es bleiben zunächst mehr Soldateska als Soldaten.

In Massen werden die jungen Soldaten entlassen. Unfertige Menschen —
im Kriege ohne väterliche Zucht aufgewachsen, bei den Freikorps erst verwildert,
dann langsam in harte, altpreußische Schule genommen — sind sie noch nicht so
gefestigt, daß ihre Mehrzahl den mit der Arbeitslosigkeit verbundenen Gefahren
widerstehen könnte. Erlebnis- und vergnügungsdurstig strömen sie in die Groß-
städte. Entlassungsgeld und letzte Löhnung werden durchgebracht. Dann beginnt
der Hunger, und das abernachten in Bahnhofswartesälen. Sie vermehren das
großstädtische Gesinde!: Zuhälter, Hehler, Diebe, Verbrecher — männliche
Prostituierte. Die Not und die Großstadt führen die jungen charakterlosen
Menschen abseits. Erst gelegentlich und zaghaft, dann wird das neue Leben zur
Gewohnheit und nur die wenigsten finden aus eigener Kraft den Weg zur
Arbeitsfähigkeit und zur Wohlanständigkeit zurück.

Welch' sozialer Wahnsinn — diese Reichswehrbildung. Schuld trägt in
erster Linie Versailles, in der zweiten aber die soldatenfeindliche Regierung.

Während dieses „Abbaues" ist die „vorläufige Reichswehr" so gut wie
gefechtsunfähig — aus organisatorischen Gründen, vor allem aber wegen ihrer
Geistesverfassung, die eine Wehr machtkrisis bedeutet. Denn: Von den
Offizieren, den Unteroffizieren und Kapitulanten steht ein jeder vor der Frage:
Bist du am nächsten Tag noch aktiv? Diese drei, nach der Revolution noch mehr
als bisher das Rückgrat der Wehrmacht, sie lassen nun die Dinge laufen, wie sie
wollen und — warten ab. Ihr Beispiel wirkt auf die Mannschaften. Niemand
tut seinen Dienst mit Freude. Die Truppe verlottert. Die Revolution mit
ihrem aufwallenden Egoismus des Einzelnen ist nun auch an den Offizier und
die neue Wehrmacht herangekommen.

Die Revolutionszeit der jungen Wehrmacht weist drei Phasen auf: die re¬
volutionären Zustände der nach der Novemberrevolution gebildeten Truppe, die
militärisch-revolutionäre Erscheinung der Freikorps und nun die mangelnde Dienst-


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[0352] Altes und neues Heer einandergewürfelt, ihrer Führer beraubt, oder mit Führern gewechselt. Die Abwicklungsstsllen des alten Heeres stellen hohe Kontingents bei der Übernahme. Der Frontsoldat der Freiwilligentruppe, der die Revolutionsregierung ihre Rettung verdankt, gilt ihr als ein gefährlicher Freund und muß überall zurück¬ stehen. Seine Regierungsfeindlichkeit wächst. Sie ist schon groß. Für die Re¬ gierung kämpfen und sterben soll der Soldat, aber man sorgt nicht für ihn. Das ist ein schwerer politischer Fehler. In einem einzigen verschlissenen Anzug geht der Soldat tagaus, tagein. Auf Wache, auf Urlaub. Die Löhnung ist geringer als die Arbeitslosenunter¬ stützung. In den Kasernen, belegt mit Teilen des auflösenden alten Heeres und Zivilbehörden, liegen vierzig Mann auf einer Stube. Das Essen ist schlecht. Wo der Soldat hinkommt, wird er beschimpft und verhöhnt, ist gehaßt und gemieden. Nach der Entlassung wird er boykottiert. Die anständigen Elemente gehen fort. Die linke deutsche Presse hetzt — die Mitte ist still. Die Regierung verteidigt ihre Soldaten nicht. So wird die Truppe innerlich immer gefestigter, der Soldat wird offizierstreu, wird Landsknecht und zivilfeindlich. Die Verhetzung und die Grausamkeit des Bürgerkrieges helfen dazu. Es bleiben zunächst mehr Soldateska als Soldaten. In Massen werden die jungen Soldaten entlassen. Unfertige Menschen — im Kriege ohne väterliche Zucht aufgewachsen, bei den Freikorps erst verwildert, dann langsam in harte, altpreußische Schule genommen — sind sie noch nicht so gefestigt, daß ihre Mehrzahl den mit der Arbeitslosigkeit verbundenen Gefahren widerstehen könnte. Erlebnis- und vergnügungsdurstig strömen sie in die Groß- städte. Entlassungsgeld und letzte Löhnung werden durchgebracht. Dann beginnt der Hunger, und das abernachten in Bahnhofswartesälen. Sie vermehren das großstädtische Gesinde!: Zuhälter, Hehler, Diebe, Verbrecher — männliche Prostituierte. Die Not und die Großstadt führen die jungen charakterlosen Menschen abseits. Erst gelegentlich und zaghaft, dann wird das neue Leben zur Gewohnheit und nur die wenigsten finden aus eigener Kraft den Weg zur Arbeitsfähigkeit und zur Wohlanständigkeit zurück. Welch' sozialer Wahnsinn — diese Reichswehrbildung. Schuld trägt in erster Linie Versailles, in der zweiten aber die soldatenfeindliche Regierung. Während dieses „Abbaues" ist die „vorläufige Reichswehr" so gut wie gefechtsunfähig — aus organisatorischen Gründen, vor allem aber wegen ihrer Geistesverfassung, die eine Wehr machtkrisis bedeutet. Denn: Von den Offizieren, den Unteroffizieren und Kapitulanten steht ein jeder vor der Frage: Bist du am nächsten Tag noch aktiv? Diese drei, nach der Revolution noch mehr als bisher das Rückgrat der Wehrmacht, sie lassen nun die Dinge laufen, wie sie wollen und — warten ab. Ihr Beispiel wirkt auf die Mannschaften. Niemand tut seinen Dienst mit Freude. Die Truppe verlottert. Die Revolution mit ihrem aufwallenden Egoismus des Einzelnen ist nun auch an den Offizier und die neue Wehrmacht herangekommen. Die Revolutionszeit der jungen Wehrmacht weist drei Phasen auf: die re¬ volutionären Zustände der nach der Novemberrevolution gebildeten Truppe, die militärisch-revolutionäre Erscheinung der Freikorps und nun die mangelnde Dienst-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339148/352>, abgerufen am 23.12.2024.