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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr.

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Dantes Weltanschauung und das zwanzigste Jahrhundert

Wir sind uns auch darüber klar, daß die Sektengründer unserer Tage bisher
das neue Reich Gottes nicht gebracht haben und daß es überhaupt nicht durch
die Erfindungen unseres Gehirns kommen wird, sondern nur aus einer Einstellung
unseres ganzen Wesens in der Art des alten indischen Gebetes: "O du, der du
dich selber offenbarest, offenbare dich auch in uns!"

Kann uns Dante ein Wegweiser zu dieser ersehnten Überwindung eines
unbefriedigender Lebenszustandes sein? Vieles in Dantes Weltanschauung ist
unwiderbringlich veraltet, weil es auf irrtümlichen, längst überwundenen wissen¬
schaftlichen Vorstellungen des historischen Mittelalters beruht. Von diesen rein
historisch zu bewertenden Teilen der Divina Commedia gilt nach wie vor, daß sie
den nicht fachgelehrten Leser mehr hemmen als fördern. Aber diese Teile sind im
Aufbau des Gedichtes mehr Episoden. Das Ganze ist nicht veraltet, kann nicht
veralten, und ist immer noch ein besserer Wegweiser, als vieles, was heute diesen
Anspruch aufstellt. Ich will nun versuchen, die Grundgedanken Dantes zu um¬
reißen, welche der zeitgenössischen Sehnsucht nach Überwindung des Materialismus
entgegenkommen*).


II.

Gott ist Geist, und alle Dinge haben den Maßstab ihres Wertes in ihrem
näheren oder ferneren Abstand von Gott. Bildund wird das meist so vorgestellt,
daß Gott oder der absolute Geist als zentrales Licht seine Strahlen aussendet,
dergestalt, daß, was ihm am nächsten ist, auch das meiste Licht empfängt, während
die entfernteren Kreise immer mehr in Dämmerung, schließlich in Nacht versinken.
Nun ist aber der Mensch kein passiver Gegenstand, ihm ist das Streben zum Licht
hin eingepflanzt, und wenn er nach dem Maß der ihm verliehenen Kräfte nach
der Vereinigung seines individuellen Geistes mit dem absoluten Geiste strebt, so
wird ihm diese Seligkeit auch zuteil. Dies ist die Erlösung vom Schatten der
Materie. Wenn der Mensch aber nicht nach dem Licht strebt und den materiellen
Teil in sich nicht bekämpft und überwindet, dann umfängt ihn ewige Nacht, die
Materie schlingt ihn ein und macht den Verdammten zu einem Stück ihrer selbst.

Überwindung der Materie in uns selbst, Vergeistigung, Erlösung der Seele
durch Lösung von den materiellen Versuchungen, das ist die Aufgabe, deren
Vollzug in den besonderen Schwierigkeiten und Verkettungen des Menschendaseins
das Purgatorio gewaltig schildert. Das unheilbare Verfallensein an die Materie
malt das Inferno, die Hölle der Leidenschaften und des bösen Willens. Hier
wird der Geist nicht als Gesetz der Selbstüberwindung in das Innere der Seele
aufgenommen, hier verfälscht sich das Geistige immer mehr, je tiefer die Ver¬
strickung in die Materie ist, und schließlich erlischt das Geistige ganz im Menschen,
der ein unseliges Stück Materie ward. Aber nun trifft ihn der Geist von außen,
nicht als erlösendes Licht, sondern als richtender Strahl, und die eigene Leiden¬
schaft, die eigene Bosheit wird zur Strafe, zum rächenden Werkzeug der ewigen
Liebe, die hier nur noch als ewige Gerechtigkeit erscheinen kann, weil sie nicht
von innen aus den Seelen leuchtet, sondern sie von außen brennt. Entgehen aber



*) Auch hier kann nur eine Skizze gegeben und muß für alles Nähere auf die im
vorigen Heft erwähnten Schriften verwiesen werden.
Dantes Weltanschauung und das zwanzigste Jahrhundert

Wir sind uns auch darüber klar, daß die Sektengründer unserer Tage bisher
das neue Reich Gottes nicht gebracht haben und daß es überhaupt nicht durch
die Erfindungen unseres Gehirns kommen wird, sondern nur aus einer Einstellung
unseres ganzen Wesens in der Art des alten indischen Gebetes: „O du, der du
dich selber offenbarest, offenbare dich auch in uns!"

Kann uns Dante ein Wegweiser zu dieser ersehnten Überwindung eines
unbefriedigender Lebenszustandes sein? Vieles in Dantes Weltanschauung ist
unwiderbringlich veraltet, weil es auf irrtümlichen, längst überwundenen wissen¬
schaftlichen Vorstellungen des historischen Mittelalters beruht. Von diesen rein
historisch zu bewertenden Teilen der Divina Commedia gilt nach wie vor, daß sie
den nicht fachgelehrten Leser mehr hemmen als fördern. Aber diese Teile sind im
Aufbau des Gedichtes mehr Episoden. Das Ganze ist nicht veraltet, kann nicht
veralten, und ist immer noch ein besserer Wegweiser, als vieles, was heute diesen
Anspruch aufstellt. Ich will nun versuchen, die Grundgedanken Dantes zu um¬
reißen, welche der zeitgenössischen Sehnsucht nach Überwindung des Materialismus
entgegenkommen*).


II.

Gott ist Geist, und alle Dinge haben den Maßstab ihres Wertes in ihrem
näheren oder ferneren Abstand von Gott. Bildund wird das meist so vorgestellt,
daß Gott oder der absolute Geist als zentrales Licht seine Strahlen aussendet,
dergestalt, daß, was ihm am nächsten ist, auch das meiste Licht empfängt, während
die entfernteren Kreise immer mehr in Dämmerung, schließlich in Nacht versinken.
Nun ist aber der Mensch kein passiver Gegenstand, ihm ist das Streben zum Licht
hin eingepflanzt, und wenn er nach dem Maß der ihm verliehenen Kräfte nach
der Vereinigung seines individuellen Geistes mit dem absoluten Geiste strebt, so
wird ihm diese Seligkeit auch zuteil. Dies ist die Erlösung vom Schatten der
Materie. Wenn der Mensch aber nicht nach dem Licht strebt und den materiellen
Teil in sich nicht bekämpft und überwindet, dann umfängt ihn ewige Nacht, die
Materie schlingt ihn ein und macht den Verdammten zu einem Stück ihrer selbst.

Überwindung der Materie in uns selbst, Vergeistigung, Erlösung der Seele
durch Lösung von den materiellen Versuchungen, das ist die Aufgabe, deren
Vollzug in den besonderen Schwierigkeiten und Verkettungen des Menschendaseins
das Purgatorio gewaltig schildert. Das unheilbare Verfallensein an die Materie
malt das Inferno, die Hölle der Leidenschaften und des bösen Willens. Hier
wird der Geist nicht als Gesetz der Selbstüberwindung in das Innere der Seele
aufgenommen, hier verfälscht sich das Geistige immer mehr, je tiefer die Ver¬
strickung in die Materie ist, und schließlich erlischt das Geistige ganz im Menschen,
der ein unseliges Stück Materie ward. Aber nun trifft ihn der Geist von außen,
nicht als erlösendes Licht, sondern als richtender Strahl, und die eigene Leiden¬
schaft, die eigene Bosheit wird zur Strafe, zum rächenden Werkzeug der ewigen
Liebe, die hier nur noch als ewige Gerechtigkeit erscheinen kann, weil sie nicht
von innen aus den Seelen leuchtet, sondern sie von außen brennt. Entgehen aber



*) Auch hier kann nur eine Skizze gegeben und muß für alles Nähere auf die im
vorigen Heft erwähnten Schriften verwiesen werden.
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[0315] Dantes Weltanschauung und das zwanzigste Jahrhundert Wir sind uns auch darüber klar, daß die Sektengründer unserer Tage bisher das neue Reich Gottes nicht gebracht haben und daß es überhaupt nicht durch die Erfindungen unseres Gehirns kommen wird, sondern nur aus einer Einstellung unseres ganzen Wesens in der Art des alten indischen Gebetes: „O du, der du dich selber offenbarest, offenbare dich auch in uns!" Kann uns Dante ein Wegweiser zu dieser ersehnten Überwindung eines unbefriedigender Lebenszustandes sein? Vieles in Dantes Weltanschauung ist unwiderbringlich veraltet, weil es auf irrtümlichen, längst überwundenen wissen¬ schaftlichen Vorstellungen des historischen Mittelalters beruht. Von diesen rein historisch zu bewertenden Teilen der Divina Commedia gilt nach wie vor, daß sie den nicht fachgelehrten Leser mehr hemmen als fördern. Aber diese Teile sind im Aufbau des Gedichtes mehr Episoden. Das Ganze ist nicht veraltet, kann nicht veralten, und ist immer noch ein besserer Wegweiser, als vieles, was heute diesen Anspruch aufstellt. Ich will nun versuchen, die Grundgedanken Dantes zu um¬ reißen, welche der zeitgenössischen Sehnsucht nach Überwindung des Materialismus entgegenkommen*). II. Gott ist Geist, und alle Dinge haben den Maßstab ihres Wertes in ihrem näheren oder ferneren Abstand von Gott. Bildund wird das meist so vorgestellt, daß Gott oder der absolute Geist als zentrales Licht seine Strahlen aussendet, dergestalt, daß, was ihm am nächsten ist, auch das meiste Licht empfängt, während die entfernteren Kreise immer mehr in Dämmerung, schließlich in Nacht versinken. Nun ist aber der Mensch kein passiver Gegenstand, ihm ist das Streben zum Licht hin eingepflanzt, und wenn er nach dem Maß der ihm verliehenen Kräfte nach der Vereinigung seines individuellen Geistes mit dem absoluten Geiste strebt, so wird ihm diese Seligkeit auch zuteil. Dies ist die Erlösung vom Schatten der Materie. Wenn der Mensch aber nicht nach dem Licht strebt und den materiellen Teil in sich nicht bekämpft und überwindet, dann umfängt ihn ewige Nacht, die Materie schlingt ihn ein und macht den Verdammten zu einem Stück ihrer selbst. Überwindung der Materie in uns selbst, Vergeistigung, Erlösung der Seele durch Lösung von den materiellen Versuchungen, das ist die Aufgabe, deren Vollzug in den besonderen Schwierigkeiten und Verkettungen des Menschendaseins das Purgatorio gewaltig schildert. Das unheilbare Verfallensein an die Materie malt das Inferno, die Hölle der Leidenschaften und des bösen Willens. Hier wird der Geist nicht als Gesetz der Selbstüberwindung in das Innere der Seele aufgenommen, hier verfälscht sich das Geistige immer mehr, je tiefer die Ver¬ strickung in die Materie ist, und schließlich erlischt das Geistige ganz im Menschen, der ein unseliges Stück Materie ward. Aber nun trifft ihn der Geist von außen, nicht als erlösendes Licht, sondern als richtender Strahl, und die eigene Leiden¬ schaft, die eigene Bosheit wird zur Strafe, zum rächenden Werkzeug der ewigen Liebe, die hier nur noch als ewige Gerechtigkeit erscheinen kann, weil sie nicht von innen aus den Seelen leuchtet, sondern sie von außen brennt. Entgehen aber *) Auch hier kann nur eine Skizze gegeben und muß für alles Nähere auf die im vorigen Heft erwähnten Schriften verwiesen werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339148/315>, abgerufen am 04.07.2024.