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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr.

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Dantes Dichtkunst und das zwanzigste Jahrhundert

anschauung sich schon vorher gelockert hatte. Unser Leben hatte keinen Stil mehr,
weil unser Geist kein Zentrum mehr hatte.

Aber war nicht besonders in der Dichtung die Persönlichkeit das neue
Zentrum geworden? Das ist richtig, aber die Persönlichkeit, die ihr Zentrum im
individuellen Ich, statt im absoluten Geist sucht, gleicht einer Parabel, deren
Zweige im Unendlichen verlaufen, ohne sich jemals zu schließen. Nur die in
Gott eingegangene Persönlichkeit vermag den Mittelpunkt einer geschlossenen
Schöpfung zu bilden. Dante steht in diesem Mittelpunkt, und darum ist sein
Gedicht so kreisrund geschlossen, wie kein anderes. Ihn interessiert das Leben
und seine Schilderung nicht um seiner selbst oder der Kunst willen, sondern um
des Geistes willen. Auch die Kunst des 20. Jahrhunderts tastet sich dunkel von
der zerstreuenden Wiedergabe des materiellen Daseins zu einer geistigen Konzen¬
tration vor. Es nützt aber nichts, möchte man denen unter uns zurufen, die mit
heißem Bemühen um einen Stil unserer Zeit kämpfen und dabei Dante als den
Meister geschlossenen Stiles anbeten, wie Stefan Georges Schule, es nützt nichts,
daß ihr einen formal geschlossenen Kreis affektiert, dem kein geschlossener Inhalt
entspricht. Dann ist es schon besser, ehrlich die Kunst der offenen Parabel, der
ewig irrenden und strebenden individuellen Persönlichkeit zu pflegen, wozu freilich
auch ein großes Menschentum, wie dasjenige Goethes gehört, will es im Äther
der Kunst nicht nur plätschern, sondern Lichtströme schwingen lassen. Ein Sonnen¬
system der Kunst, wie Dantes metaphysisches Weltall, entsteht freilich nie aus der
Kunst allein, und es wäre vergeblich, wie es zum Beispiel die Expressionisten
wähnen, das Chaos unseres Zeitstiles durch individuelle Atelierschöpfungen bannen
zu können.

Dieses Chaos, an dem wir leiden, ist in erster Linie eine Frage der Welt¬
anschauung, erst in zweiter der Kunst, und ein neues großes Kunstzeitalter, ein
neuer Stil ist nur dann zu erwarten, wenn überhaupt nicht danach gesucht wird,
vielmehr nach dem neuen Zentralpunkt unserer künftigen Weltanschauung. Fügt
sich aus der äußere" und inneren Not der Zeit (und Not macht sowohl erfinderisch
als auch lehrt sie beten) ein neuer Glaube, dann wird unversehens auch die große
Kunst wieder da sein:

Verinnerlichung ist die Aufgabe des 20. Jahrhunderts, die wir alle mehr
oder minder dunkel fühlen, und in der Dante aus den besprochenen Gründen
nicht ein Stilmeister sein kann, der unserer Sehnsucht nach geschlossener Kunst,
nach "Gesamtkunst", zum Vorbild diene, sondern im Gegenteil, er will uns
lehren, daß wir erst das Zentrum suchen sollen, an dessen Peripherie die Kunst
und der Stil von selbst sich finden. Diese Entsagung lehrt der Dichter Dante,
und damit sind wir vorbereitet, um die Verkündigung des Denkers Dante an
unsere Zeit zu vernehmen.

(Ein zweiter Artikel, Dantes Weltanschauung behandelnd, folgt im nächsten Heft.)




Dantes Dichtkunst und das zwanzigste Jahrhundert

anschauung sich schon vorher gelockert hatte. Unser Leben hatte keinen Stil mehr,
weil unser Geist kein Zentrum mehr hatte.

Aber war nicht besonders in der Dichtung die Persönlichkeit das neue
Zentrum geworden? Das ist richtig, aber die Persönlichkeit, die ihr Zentrum im
individuellen Ich, statt im absoluten Geist sucht, gleicht einer Parabel, deren
Zweige im Unendlichen verlaufen, ohne sich jemals zu schließen. Nur die in
Gott eingegangene Persönlichkeit vermag den Mittelpunkt einer geschlossenen
Schöpfung zu bilden. Dante steht in diesem Mittelpunkt, und darum ist sein
Gedicht so kreisrund geschlossen, wie kein anderes. Ihn interessiert das Leben
und seine Schilderung nicht um seiner selbst oder der Kunst willen, sondern um
des Geistes willen. Auch die Kunst des 20. Jahrhunderts tastet sich dunkel von
der zerstreuenden Wiedergabe des materiellen Daseins zu einer geistigen Konzen¬
tration vor. Es nützt aber nichts, möchte man denen unter uns zurufen, die mit
heißem Bemühen um einen Stil unserer Zeit kämpfen und dabei Dante als den
Meister geschlossenen Stiles anbeten, wie Stefan Georges Schule, es nützt nichts,
daß ihr einen formal geschlossenen Kreis affektiert, dem kein geschlossener Inhalt
entspricht. Dann ist es schon besser, ehrlich die Kunst der offenen Parabel, der
ewig irrenden und strebenden individuellen Persönlichkeit zu pflegen, wozu freilich
auch ein großes Menschentum, wie dasjenige Goethes gehört, will es im Äther
der Kunst nicht nur plätschern, sondern Lichtströme schwingen lassen. Ein Sonnen¬
system der Kunst, wie Dantes metaphysisches Weltall, entsteht freilich nie aus der
Kunst allein, und es wäre vergeblich, wie es zum Beispiel die Expressionisten
wähnen, das Chaos unseres Zeitstiles durch individuelle Atelierschöpfungen bannen
zu können.

Dieses Chaos, an dem wir leiden, ist in erster Linie eine Frage der Welt¬
anschauung, erst in zweiter der Kunst, und ein neues großes Kunstzeitalter, ein
neuer Stil ist nur dann zu erwarten, wenn überhaupt nicht danach gesucht wird,
vielmehr nach dem neuen Zentralpunkt unserer künftigen Weltanschauung. Fügt
sich aus der äußere» und inneren Not der Zeit (und Not macht sowohl erfinderisch
als auch lehrt sie beten) ein neuer Glaube, dann wird unversehens auch die große
Kunst wieder da sein:

Verinnerlichung ist die Aufgabe des 20. Jahrhunderts, die wir alle mehr
oder minder dunkel fühlen, und in der Dante aus den besprochenen Gründen
nicht ein Stilmeister sein kann, der unserer Sehnsucht nach geschlossener Kunst,
nach „Gesamtkunst", zum Vorbild diene, sondern im Gegenteil, er will uns
lehren, daß wir erst das Zentrum suchen sollen, an dessen Peripherie die Kunst
und der Stil von selbst sich finden. Diese Entsagung lehrt der Dichter Dante,
und damit sind wir vorbereitet, um die Verkündigung des Denkers Dante an
unsere Zeit zu vernehmen.

(Ein zweiter Artikel, Dantes Weltanschauung behandelnd, folgt im nächsten Heft.)




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[0286] Dantes Dichtkunst und das zwanzigste Jahrhundert anschauung sich schon vorher gelockert hatte. Unser Leben hatte keinen Stil mehr, weil unser Geist kein Zentrum mehr hatte. Aber war nicht besonders in der Dichtung die Persönlichkeit das neue Zentrum geworden? Das ist richtig, aber die Persönlichkeit, die ihr Zentrum im individuellen Ich, statt im absoluten Geist sucht, gleicht einer Parabel, deren Zweige im Unendlichen verlaufen, ohne sich jemals zu schließen. Nur die in Gott eingegangene Persönlichkeit vermag den Mittelpunkt einer geschlossenen Schöpfung zu bilden. Dante steht in diesem Mittelpunkt, und darum ist sein Gedicht so kreisrund geschlossen, wie kein anderes. Ihn interessiert das Leben und seine Schilderung nicht um seiner selbst oder der Kunst willen, sondern um des Geistes willen. Auch die Kunst des 20. Jahrhunderts tastet sich dunkel von der zerstreuenden Wiedergabe des materiellen Daseins zu einer geistigen Konzen¬ tration vor. Es nützt aber nichts, möchte man denen unter uns zurufen, die mit heißem Bemühen um einen Stil unserer Zeit kämpfen und dabei Dante als den Meister geschlossenen Stiles anbeten, wie Stefan Georges Schule, es nützt nichts, daß ihr einen formal geschlossenen Kreis affektiert, dem kein geschlossener Inhalt entspricht. Dann ist es schon besser, ehrlich die Kunst der offenen Parabel, der ewig irrenden und strebenden individuellen Persönlichkeit zu pflegen, wozu freilich auch ein großes Menschentum, wie dasjenige Goethes gehört, will es im Äther der Kunst nicht nur plätschern, sondern Lichtströme schwingen lassen. Ein Sonnen¬ system der Kunst, wie Dantes metaphysisches Weltall, entsteht freilich nie aus der Kunst allein, und es wäre vergeblich, wie es zum Beispiel die Expressionisten wähnen, das Chaos unseres Zeitstiles durch individuelle Atelierschöpfungen bannen zu können. Dieses Chaos, an dem wir leiden, ist in erster Linie eine Frage der Welt¬ anschauung, erst in zweiter der Kunst, und ein neues großes Kunstzeitalter, ein neuer Stil ist nur dann zu erwarten, wenn überhaupt nicht danach gesucht wird, vielmehr nach dem neuen Zentralpunkt unserer künftigen Weltanschauung. Fügt sich aus der äußere» und inneren Not der Zeit (und Not macht sowohl erfinderisch als auch lehrt sie beten) ein neuer Glaube, dann wird unversehens auch die große Kunst wieder da sein: Verinnerlichung ist die Aufgabe des 20. Jahrhunderts, die wir alle mehr oder minder dunkel fühlen, und in der Dante aus den besprochenen Gründen nicht ein Stilmeister sein kann, der unserer Sehnsucht nach geschlossener Kunst, nach „Gesamtkunst", zum Vorbild diene, sondern im Gegenteil, er will uns lehren, daß wir erst das Zentrum suchen sollen, an dessen Peripherie die Kunst und der Stil von selbst sich finden. Diese Entsagung lehrt der Dichter Dante, und damit sind wir vorbereitet, um die Verkündigung des Denkers Dante an unsere Zeit zu vernehmen. (Ein zweiter Artikel, Dantes Weltanschauung behandelnd, folgt im nächsten Heft.)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339148/286>, abgerufen am 23.12.2024.