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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr.

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Dantes Dichtkunst und das zwanzigste Jahrhundert

Und die andern, die Gnade gesunden, zu dem lichten Strand des Büßer¬
berges, auf dessen Kuppe das Paradies liegt. Neue Geschlechter wuchsen auf der
Erde auf, und nun wechselte die Macht. Der Verstoßene, der sein Leben und
Dichten den Mächten seiner Zeit abstehlen mußte, gewinnt die Oberhand. Die
vergänglichen Geschlechter, ihren Eltern zum Verzweifeln ähnlich, und immer rasch
geneigt, dasjenige zu verbannen oder zu verbrennen, was zu ihrer eigenen Zeit
als unvergänglicher Vorwurf unter ihnen wandelt, sie beugen sich dem Genius,
dessen Leibeshülle sie nicht mehr sehen. Sie erheben den Denker zum Heiligen,
den Dichter zum Fürsten, den Menschen halb zum Gott. Der Papst des 20. Jahr¬
hunderts empfiehlt ihn temporum rmione indita den Gläubigen, wohl wissend,
daß der einstige Ketzer ein Seelenfänger für Mittelalter und Katholizismus ge¬
worden ist, wie kein voctor eLLlesiae vor oder nach ihm. Demokratische Mi¬
nister veranstalten Schulfeiern für den "Kämpfer für Freiheit und Recht", wohl
wissend, daß es zur Kultur gehört, ihn, wo nicht zu lesen, doch zu feiern.
Glaubenslose Schöngeister werden für ein paar Stunden fromm, wenn sie sich
mit dein mißverstandenen Faltenwurf seiner mächtigen Terzinen zu drapieren
glauben, die aber in Wirklichkeit Stefan Georges und nicht Dantes sind. Und
an Italien und Florenz, die ihm so viel Denkmäler errichteten, wie einstmals
Späne in dem angedrohten Scheiterhaufen, gehen die Glückwünsche der Diplo¬
maten, Politiker, Verleger, Feuilletonschriftsteller und Kinobesitzer der ganzen Welt
aus keinem anderen Grunde, als weil es auf den Tag 600 Jahre her sind, daß
der, der heute so viele nährt, die Last los wurde, sich sein Brot erbetteln zu
müssen. Er hatte kurz zuvor das Poem abgeschlossen:

und dann erlosch rasch das zwecklos gewordene Leben des Sechsundfünfzig-
jährigen. Was hat die Welt, in der wir leben, nach sechshundert Jahren für
sich aus dem unsterblichen Teil dieses bedrückten Lebens gemacht, und was gedenkt
sie in Zukunft daraus zu machen? Ist die völlige Leerheit der Jubiläums¬
literatur, wenigstens soweit sie uns heute zu Gesicht gekommen ist, wirklich ma߬
gebend für die Wirkung eines Geistes, der viel angeschwärmt und wenig ver¬
standen, viel abgebildet und wenig ins Innerste der Menschen aufgenommen ist?
Nun, es wäre doch ungerecht, mit dem Maßstab einer vom Abreißkalender ver¬
anlaßten Literatur zu messen. Wir werden sogar Gründe äußern dürfen für die
Annahme, daß Dante in der Tat vor einer neuen großen Epoche seiner Wirkung,
vielleicht vor einer sehr tiefen steht.


II.

Das neunzehnte Jahrhundert hatte aus Dante die Züge herausgehoben,
die ihm wahlverwandt schienen. Die Italiener haben den Politiker Dante ent-


Dantes Dichtkunst und das zwanzigste Jahrhundert

Und die andern, die Gnade gesunden, zu dem lichten Strand des Büßer¬
berges, auf dessen Kuppe das Paradies liegt. Neue Geschlechter wuchsen auf der
Erde auf, und nun wechselte die Macht. Der Verstoßene, der sein Leben und
Dichten den Mächten seiner Zeit abstehlen mußte, gewinnt die Oberhand. Die
vergänglichen Geschlechter, ihren Eltern zum Verzweifeln ähnlich, und immer rasch
geneigt, dasjenige zu verbannen oder zu verbrennen, was zu ihrer eigenen Zeit
als unvergänglicher Vorwurf unter ihnen wandelt, sie beugen sich dem Genius,
dessen Leibeshülle sie nicht mehr sehen. Sie erheben den Denker zum Heiligen,
den Dichter zum Fürsten, den Menschen halb zum Gott. Der Papst des 20. Jahr¬
hunderts empfiehlt ihn temporum rmione indita den Gläubigen, wohl wissend,
daß der einstige Ketzer ein Seelenfänger für Mittelalter und Katholizismus ge¬
worden ist, wie kein voctor eLLlesiae vor oder nach ihm. Demokratische Mi¬
nister veranstalten Schulfeiern für den „Kämpfer für Freiheit und Recht", wohl
wissend, daß es zur Kultur gehört, ihn, wo nicht zu lesen, doch zu feiern.
Glaubenslose Schöngeister werden für ein paar Stunden fromm, wenn sie sich
mit dein mißverstandenen Faltenwurf seiner mächtigen Terzinen zu drapieren
glauben, die aber in Wirklichkeit Stefan Georges und nicht Dantes sind. Und
an Italien und Florenz, die ihm so viel Denkmäler errichteten, wie einstmals
Späne in dem angedrohten Scheiterhaufen, gehen die Glückwünsche der Diplo¬
maten, Politiker, Verleger, Feuilletonschriftsteller und Kinobesitzer der ganzen Welt
aus keinem anderen Grunde, als weil es auf den Tag 600 Jahre her sind, daß
der, der heute so viele nährt, die Last los wurde, sich sein Brot erbetteln zu
müssen. Er hatte kurz zuvor das Poem abgeschlossen:

und dann erlosch rasch das zwecklos gewordene Leben des Sechsundfünfzig-
jährigen. Was hat die Welt, in der wir leben, nach sechshundert Jahren für
sich aus dem unsterblichen Teil dieses bedrückten Lebens gemacht, und was gedenkt
sie in Zukunft daraus zu machen? Ist die völlige Leerheit der Jubiläums¬
literatur, wenigstens soweit sie uns heute zu Gesicht gekommen ist, wirklich ma߬
gebend für die Wirkung eines Geistes, der viel angeschwärmt und wenig ver¬
standen, viel abgebildet und wenig ins Innerste der Menschen aufgenommen ist?
Nun, es wäre doch ungerecht, mit dem Maßstab einer vom Abreißkalender ver¬
anlaßten Literatur zu messen. Wir werden sogar Gründe äußern dürfen für die
Annahme, daß Dante in der Tat vor einer neuen großen Epoche seiner Wirkung,
vielleicht vor einer sehr tiefen steht.


II.

Das neunzehnte Jahrhundert hatte aus Dante die Züge herausgehoben,
die ihm wahlverwandt schienen. Die Italiener haben den Politiker Dante ent-


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[0280] Dantes Dichtkunst und das zwanzigste Jahrhundert Und die andern, die Gnade gesunden, zu dem lichten Strand des Büßer¬ berges, auf dessen Kuppe das Paradies liegt. Neue Geschlechter wuchsen auf der Erde auf, und nun wechselte die Macht. Der Verstoßene, der sein Leben und Dichten den Mächten seiner Zeit abstehlen mußte, gewinnt die Oberhand. Die vergänglichen Geschlechter, ihren Eltern zum Verzweifeln ähnlich, und immer rasch geneigt, dasjenige zu verbannen oder zu verbrennen, was zu ihrer eigenen Zeit als unvergänglicher Vorwurf unter ihnen wandelt, sie beugen sich dem Genius, dessen Leibeshülle sie nicht mehr sehen. Sie erheben den Denker zum Heiligen, den Dichter zum Fürsten, den Menschen halb zum Gott. Der Papst des 20. Jahr¬ hunderts empfiehlt ihn temporum rmione indita den Gläubigen, wohl wissend, daß der einstige Ketzer ein Seelenfänger für Mittelalter und Katholizismus ge¬ worden ist, wie kein voctor eLLlesiae vor oder nach ihm. Demokratische Mi¬ nister veranstalten Schulfeiern für den „Kämpfer für Freiheit und Recht", wohl wissend, daß es zur Kultur gehört, ihn, wo nicht zu lesen, doch zu feiern. Glaubenslose Schöngeister werden für ein paar Stunden fromm, wenn sie sich mit dein mißverstandenen Faltenwurf seiner mächtigen Terzinen zu drapieren glauben, die aber in Wirklichkeit Stefan Georges und nicht Dantes sind. Und an Italien und Florenz, die ihm so viel Denkmäler errichteten, wie einstmals Späne in dem angedrohten Scheiterhaufen, gehen die Glückwünsche der Diplo¬ maten, Politiker, Verleger, Feuilletonschriftsteller und Kinobesitzer der ganzen Welt aus keinem anderen Grunde, als weil es auf den Tag 600 Jahre her sind, daß der, der heute so viele nährt, die Last los wurde, sich sein Brot erbetteln zu müssen. Er hatte kurz zuvor das Poem abgeschlossen: und dann erlosch rasch das zwecklos gewordene Leben des Sechsundfünfzig- jährigen. Was hat die Welt, in der wir leben, nach sechshundert Jahren für sich aus dem unsterblichen Teil dieses bedrückten Lebens gemacht, und was gedenkt sie in Zukunft daraus zu machen? Ist die völlige Leerheit der Jubiläums¬ literatur, wenigstens soweit sie uns heute zu Gesicht gekommen ist, wirklich ma߬ gebend für die Wirkung eines Geistes, der viel angeschwärmt und wenig ver¬ standen, viel abgebildet und wenig ins Innerste der Menschen aufgenommen ist? Nun, es wäre doch ungerecht, mit dem Maßstab einer vom Abreißkalender ver¬ anlaßten Literatur zu messen. Wir werden sogar Gründe äußern dürfen für die Annahme, daß Dante in der Tat vor einer neuen großen Epoche seiner Wirkung, vielleicht vor einer sehr tiefen steht. II. Das neunzehnte Jahrhundert hatte aus Dante die Züge herausgehoben, die ihm wahlverwandt schienen. Die Italiener haben den Politiker Dante ent-

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

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Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339148/280>, abgerufen am 22.12.2024.