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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr.

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Nationale Sammlungspolitik

schwieriger, bis man -- im vollen Widerspruch zum parlamentarischen System --
beim Minderheitskabinett anlangte.

Viele von uns haben eine solche Entwicklung angesichts der besonders ge¬
lagerten deutschen Verhältnisse erwartet, zum Teil auch vorausgesagt. Wir, die
wir zu diesen gehörten, haben ja nun an sich ein starkes Recht zu sagen: "Seht,
da sieht man, was bei dem parlamentarischen System in Deutschland heraus¬
kommt, der Weg ist ungangbar." Es wird daraus geantwortet, daß wir eben
noch in den Kinderkrankheiten des Parlamentarismus stecken. Nun, das ist immer
die Verlegenheiisausrede dessen, der ein Ideal der Welt als alleiniges Heilmittel
gepriesen hat und dann vor den Scherben sich und andere zu trösten sucht.

Doch halte ich weder jenen Vorwurf noch diese Ausrede gegenwärtig für
sonderlich nützlich und gut. Dieser ganze Glaube an Verfassungstheorien und
Verfassungsideale ist nach meiner Empfindung ein etwas zweifelhaftes Ding. Je
mehr eine Verfassung der besonderen Art eines Volkes, seiner politischen Lage
und seiner Geschichte entspricht, um so leichter wird es im allgemeinen sein, nach
ihr zu regieren, aber eine recht gute Verfassung, wie sie z, B. trotz aller Fort¬
bildungsmöglichkeit die Bismarcksche Verfassung war, schützt nicht davor, daß
man mit ihr schlecht regiert -- das hat uns Herr von Bethmann Hollweg für
alle Zeiten eindrücklich gemacht. Und eine weniger gute Verfassung, wie sie trotz
einiger guter Seiten die Weimarer Verfassung ist, hindert durchaus nicht, daß
man gut regiert -- das ist die Aufgabe, die uns gegenwärtig gestellt ist. Es ist
keine Staatsverfassung so schlecht, daß ein wirklicher Staatsmann nicht mit ihr
regiert. Verfassungen sind ja letzten Endes doch nur die
formalen Bindungen, in denen der staatsmännische Geist
irgendwie das schöpferisch gestaltet, was das Wesen des
Regiere us ist, die politische Führung des Volkes. Die Neu¬
gestaltung der Verfassung wird sich dann früher oder später vollziehen müssen.

Wir leiden bei der Notwendigkeit, uns mit dem parlamentarischen System
einzurichten, unter zwei Dingen, erstens der großen Zahl der Parteien -- acht
großen und mittleren Parteien neben kleineren Splittern -- und zweitens daran,
daß es bisher nicht gelingen wollte, wirklich bedeutende staatsmännische Persön¬
lichkeiten in das Reichskabinett zu bringen. Das eine hängt mit dem andern
auf das engste zusammen. Wegen der vielen Parteien kann es sich immer nur
um einen mühsamen Kompromiß handeln, aus dem der Kanzler und die Glieder
des Kabinetts hervorgehen. Jeder Kompromiß bei Wahl leitender Persönlichkeiten
birgt immer die Gefahr in sich, daß aus dem Verfahren nicht die bedeutenden
energischen Persönlichkeiten hervorgehen, sondern die Menschen mittlerer Größe,
gegen die der andere Teil nicht gerade viel einzuwenden hat. Das ist eine Er¬
scheinung, die wir z. B. beim Konklave der Kurie durch die Jahrhunderte immer
wieder beobachten können. Und weil das so is< darum gelingt es diesen Männern
mittleren Wuchses nicht, führend Parteien und Volk zu Einheiten zuscnmyenzu-
schweißen und sich feste dauernde Mehrheiten zu schaffen.

Es fragt sich, ob wir diese beiden Dinge irgendwie ändern können. Es
haben manche schon vor vielen Jahren von der Notwendigkeit des Zweiparteien-
systems für Deutschland gesprochen, indem sie wünschten, das frühere, nun in
der Abbröcklung begriffene, englische System auf Deutschland zu übertragen. Freilich


Nationale Sammlungspolitik

schwieriger, bis man — im vollen Widerspruch zum parlamentarischen System —
beim Minderheitskabinett anlangte.

Viele von uns haben eine solche Entwicklung angesichts der besonders ge¬
lagerten deutschen Verhältnisse erwartet, zum Teil auch vorausgesagt. Wir, die
wir zu diesen gehörten, haben ja nun an sich ein starkes Recht zu sagen: „Seht,
da sieht man, was bei dem parlamentarischen System in Deutschland heraus¬
kommt, der Weg ist ungangbar." Es wird daraus geantwortet, daß wir eben
noch in den Kinderkrankheiten des Parlamentarismus stecken. Nun, das ist immer
die Verlegenheiisausrede dessen, der ein Ideal der Welt als alleiniges Heilmittel
gepriesen hat und dann vor den Scherben sich und andere zu trösten sucht.

Doch halte ich weder jenen Vorwurf noch diese Ausrede gegenwärtig für
sonderlich nützlich und gut. Dieser ganze Glaube an Verfassungstheorien und
Verfassungsideale ist nach meiner Empfindung ein etwas zweifelhaftes Ding. Je
mehr eine Verfassung der besonderen Art eines Volkes, seiner politischen Lage
und seiner Geschichte entspricht, um so leichter wird es im allgemeinen sein, nach
ihr zu regieren, aber eine recht gute Verfassung, wie sie z, B. trotz aller Fort¬
bildungsmöglichkeit die Bismarcksche Verfassung war, schützt nicht davor, daß
man mit ihr schlecht regiert — das hat uns Herr von Bethmann Hollweg für
alle Zeiten eindrücklich gemacht. Und eine weniger gute Verfassung, wie sie trotz
einiger guter Seiten die Weimarer Verfassung ist, hindert durchaus nicht, daß
man gut regiert — das ist die Aufgabe, die uns gegenwärtig gestellt ist. Es ist
keine Staatsverfassung so schlecht, daß ein wirklicher Staatsmann nicht mit ihr
regiert. Verfassungen sind ja letzten Endes doch nur die
formalen Bindungen, in denen der staatsmännische Geist
irgendwie das schöpferisch gestaltet, was das Wesen des
Regiere us ist, die politische Führung des Volkes. Die Neu¬
gestaltung der Verfassung wird sich dann früher oder später vollziehen müssen.

Wir leiden bei der Notwendigkeit, uns mit dem parlamentarischen System
einzurichten, unter zwei Dingen, erstens der großen Zahl der Parteien — acht
großen und mittleren Parteien neben kleineren Splittern — und zweitens daran,
daß es bisher nicht gelingen wollte, wirklich bedeutende staatsmännische Persön¬
lichkeiten in das Reichskabinett zu bringen. Das eine hängt mit dem andern
auf das engste zusammen. Wegen der vielen Parteien kann es sich immer nur
um einen mühsamen Kompromiß handeln, aus dem der Kanzler und die Glieder
des Kabinetts hervorgehen. Jeder Kompromiß bei Wahl leitender Persönlichkeiten
birgt immer die Gefahr in sich, daß aus dem Verfahren nicht die bedeutenden
energischen Persönlichkeiten hervorgehen, sondern die Menschen mittlerer Größe,
gegen die der andere Teil nicht gerade viel einzuwenden hat. Das ist eine Er¬
scheinung, die wir z. B. beim Konklave der Kurie durch die Jahrhunderte immer
wieder beobachten können. Und weil das so is< darum gelingt es diesen Männern
mittleren Wuchses nicht, führend Parteien und Volk zu Einheiten zuscnmyenzu-
schweißen und sich feste dauernde Mehrheiten zu schaffen.

Es fragt sich, ob wir diese beiden Dinge irgendwie ändern können. Es
haben manche schon vor vielen Jahren von der Notwendigkeit des Zweiparteien-
systems für Deutschland gesprochen, indem sie wünschten, das frühere, nun in
der Abbröcklung begriffene, englische System auf Deutschland zu übertragen. Freilich


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[0240] Nationale Sammlungspolitik schwieriger, bis man — im vollen Widerspruch zum parlamentarischen System — beim Minderheitskabinett anlangte. Viele von uns haben eine solche Entwicklung angesichts der besonders ge¬ lagerten deutschen Verhältnisse erwartet, zum Teil auch vorausgesagt. Wir, die wir zu diesen gehörten, haben ja nun an sich ein starkes Recht zu sagen: „Seht, da sieht man, was bei dem parlamentarischen System in Deutschland heraus¬ kommt, der Weg ist ungangbar." Es wird daraus geantwortet, daß wir eben noch in den Kinderkrankheiten des Parlamentarismus stecken. Nun, das ist immer die Verlegenheiisausrede dessen, der ein Ideal der Welt als alleiniges Heilmittel gepriesen hat und dann vor den Scherben sich und andere zu trösten sucht. Doch halte ich weder jenen Vorwurf noch diese Ausrede gegenwärtig für sonderlich nützlich und gut. Dieser ganze Glaube an Verfassungstheorien und Verfassungsideale ist nach meiner Empfindung ein etwas zweifelhaftes Ding. Je mehr eine Verfassung der besonderen Art eines Volkes, seiner politischen Lage und seiner Geschichte entspricht, um so leichter wird es im allgemeinen sein, nach ihr zu regieren, aber eine recht gute Verfassung, wie sie z, B. trotz aller Fort¬ bildungsmöglichkeit die Bismarcksche Verfassung war, schützt nicht davor, daß man mit ihr schlecht regiert — das hat uns Herr von Bethmann Hollweg für alle Zeiten eindrücklich gemacht. Und eine weniger gute Verfassung, wie sie trotz einiger guter Seiten die Weimarer Verfassung ist, hindert durchaus nicht, daß man gut regiert — das ist die Aufgabe, die uns gegenwärtig gestellt ist. Es ist keine Staatsverfassung so schlecht, daß ein wirklicher Staatsmann nicht mit ihr regiert. Verfassungen sind ja letzten Endes doch nur die formalen Bindungen, in denen der staatsmännische Geist irgendwie das schöpferisch gestaltet, was das Wesen des Regiere us ist, die politische Führung des Volkes. Die Neu¬ gestaltung der Verfassung wird sich dann früher oder später vollziehen müssen. Wir leiden bei der Notwendigkeit, uns mit dem parlamentarischen System einzurichten, unter zwei Dingen, erstens der großen Zahl der Parteien — acht großen und mittleren Parteien neben kleineren Splittern — und zweitens daran, daß es bisher nicht gelingen wollte, wirklich bedeutende staatsmännische Persön¬ lichkeiten in das Reichskabinett zu bringen. Das eine hängt mit dem andern auf das engste zusammen. Wegen der vielen Parteien kann es sich immer nur um einen mühsamen Kompromiß handeln, aus dem der Kanzler und die Glieder des Kabinetts hervorgehen. Jeder Kompromiß bei Wahl leitender Persönlichkeiten birgt immer die Gefahr in sich, daß aus dem Verfahren nicht die bedeutenden energischen Persönlichkeiten hervorgehen, sondern die Menschen mittlerer Größe, gegen die der andere Teil nicht gerade viel einzuwenden hat. Das ist eine Er¬ scheinung, die wir z. B. beim Konklave der Kurie durch die Jahrhunderte immer wieder beobachten können. Und weil das so is< darum gelingt es diesen Männern mittleren Wuchses nicht, führend Parteien und Volk zu Einheiten zuscnmyenzu- schweißen und sich feste dauernde Mehrheiten zu schaffen. Es fragt sich, ob wir diese beiden Dinge irgendwie ändern können. Es haben manche schon vor vielen Jahren von der Notwendigkeit des Zweiparteien- systems für Deutschland gesprochen, indem sie wünschten, das frühere, nun in der Abbröcklung begriffene, englische System auf Deutschland zu übertragen. Freilich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339148/240>, abgerufen am 23.12.2024.