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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr.

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Lrnst Haeckels Jugendbriefe

den der junge Student zu durchleben hat, der zwischen der überkommenen Glaubens¬
form und der naturwissenschaftlichen Weltanschauung. Wir finden den jungen
Studenten beim Beziehen der Universität positiv gläubig und stark kirchlich gesinnt.
Wieder und wieder kehren in den Briefen Berichte über Predigten, die ihn ge¬
fesselt und erbaut haben und die sicher nicht nur geschrieben sind, um das Wohl¬
gefallen seiner frommen Eltern zu erhalten.

Voller Entrüstung spricht er von dem groben Materialismus Vogts und
Büchners, auf die er mit Verachtung herabblickt. Die intensive Beschäftigung mit
den allgemeinen Grundprinzipien der naturwissenschaftlichen Forschung, wie sie
ihm speziell durch die philosophischen Abschnitte des berühmten Virchowschen
Kollegs nahegelegt werden, stellt ihn nun vor das schwierige Problem, wie es
komme, daß Menschen einer so minderwertigen Weltanschauung ethisch so hoch¬
stehend sein können, wie etwa sein verehrter Studienfreund Beckmann. Gleichzeitig
erlebt der Sohn des nüchternen protestantischen Nordens in der Bischofsstadt
Würzburg den veräutzerlichten katholischen Neligionsbetrieb, in dem er nur Lippen¬
frömmigkeit, äußeres Gepränge und systematisches Verdummungsbestreben sieht.
Es bildet sich ein Kreis junger Studiengenossen, die in Diskussionsabenden sich
über diese Probleme klar zu werden suchen. Wieder und wieder kehren in seinen
Briefen, vor allen Dingen in einem sehr schönen Briefe an seine geliebte Tante
Berta, eine jüngere Schwester seiner Mutter, die Auseinandersetzungen mit diesem
Problem. Aber hier wird der Zwiespalt nicht gelöst. Bis zum Schluß seiner
Studienzeit bleibt Haeckel christlich und kirchlich gesinnt.

Und hier stoßen wir auf eine sehr charakteristische Begrenzung seiner geistigen
Natur. Wie er selbst schon zu Anfang seines Studiums einmal ausspricht, ist in
ihm das sinnliche Element der Anschauung außerordentlich stark entwickelt, während
abstrakte Gedankenkonstruktionen ihm fremd und fernliegend sind. Er baut sich
die Welt naturwissenschaftlichen Denkens und Arbeitens, zu der ihn sein innerer
Beruf zieht, und daneben steht die altvertraute und liebe Welt des Glaubens
und des Gefühls. Nirgendwo in den Briefen finden wir Hinweise auf eigentliche
philosophische Arbeit; eine einzige Bemerkung über Kant, der "noch genauer
studiert werden müßte". Der Versuch, die eigentlichen Wurzeln religiösen Denkens
Vloßzulegcn, wird nirgendwo gemacht. So bleibt der Standpunkt Haeckels bis
zum Schluß seiner Studentenjahre unsicher und schwankend, weil er aus eigener
Arbeit kein inneres Verhältnis zu den traditionellen Werten des alten Glaubens
gewinnen kann. Es ist psychologisch außerordentlich interessant und gerade bei
der Bedeutung, die Haeckel als Vorkämpfer der antikirchlichen Bewegung später
gewonnen hat, sehr lehrreich, diesen Blick in die Seele des jungen Studenten zu
tun. Es wird uns ohne weiteres verständlich, wie auf diesen Geist Darwins
Werk wirken mußte. Wie der große einheitliche Gedanke der allumfassenden und
durchdringenden, mechanisch arbeitenden Entwicklung ihn in seinen Bann ziehen
mußte, weil er alle schöpferischen Kräfte seiner Seele anregte und beflügelte. Und
wie diese naturwissenschaftliche Erkenntnis ihm zum Glauben werden mußte, weil
seine feurige, künstlerisch-schwärmerische Natur ohne Glauben nicht leben konnte.




Grenzboten III 192t14
Lrnst Haeckels Jugendbriefe

den der junge Student zu durchleben hat, der zwischen der überkommenen Glaubens¬
form und der naturwissenschaftlichen Weltanschauung. Wir finden den jungen
Studenten beim Beziehen der Universität positiv gläubig und stark kirchlich gesinnt.
Wieder und wieder kehren in den Briefen Berichte über Predigten, die ihn ge¬
fesselt und erbaut haben und die sicher nicht nur geschrieben sind, um das Wohl¬
gefallen seiner frommen Eltern zu erhalten.

Voller Entrüstung spricht er von dem groben Materialismus Vogts und
Büchners, auf die er mit Verachtung herabblickt. Die intensive Beschäftigung mit
den allgemeinen Grundprinzipien der naturwissenschaftlichen Forschung, wie sie
ihm speziell durch die philosophischen Abschnitte des berühmten Virchowschen
Kollegs nahegelegt werden, stellt ihn nun vor das schwierige Problem, wie es
komme, daß Menschen einer so minderwertigen Weltanschauung ethisch so hoch¬
stehend sein können, wie etwa sein verehrter Studienfreund Beckmann. Gleichzeitig
erlebt der Sohn des nüchternen protestantischen Nordens in der Bischofsstadt
Würzburg den veräutzerlichten katholischen Neligionsbetrieb, in dem er nur Lippen¬
frömmigkeit, äußeres Gepränge und systematisches Verdummungsbestreben sieht.
Es bildet sich ein Kreis junger Studiengenossen, die in Diskussionsabenden sich
über diese Probleme klar zu werden suchen. Wieder und wieder kehren in seinen
Briefen, vor allen Dingen in einem sehr schönen Briefe an seine geliebte Tante
Berta, eine jüngere Schwester seiner Mutter, die Auseinandersetzungen mit diesem
Problem. Aber hier wird der Zwiespalt nicht gelöst. Bis zum Schluß seiner
Studienzeit bleibt Haeckel christlich und kirchlich gesinnt.

Und hier stoßen wir auf eine sehr charakteristische Begrenzung seiner geistigen
Natur. Wie er selbst schon zu Anfang seines Studiums einmal ausspricht, ist in
ihm das sinnliche Element der Anschauung außerordentlich stark entwickelt, während
abstrakte Gedankenkonstruktionen ihm fremd und fernliegend sind. Er baut sich
die Welt naturwissenschaftlichen Denkens und Arbeitens, zu der ihn sein innerer
Beruf zieht, und daneben steht die altvertraute und liebe Welt des Glaubens
und des Gefühls. Nirgendwo in den Briefen finden wir Hinweise auf eigentliche
philosophische Arbeit; eine einzige Bemerkung über Kant, der „noch genauer
studiert werden müßte". Der Versuch, die eigentlichen Wurzeln religiösen Denkens
Vloßzulegcn, wird nirgendwo gemacht. So bleibt der Standpunkt Haeckels bis
zum Schluß seiner Studentenjahre unsicher und schwankend, weil er aus eigener
Arbeit kein inneres Verhältnis zu den traditionellen Werten des alten Glaubens
gewinnen kann. Es ist psychologisch außerordentlich interessant und gerade bei
der Bedeutung, die Haeckel als Vorkämpfer der antikirchlichen Bewegung später
gewonnen hat, sehr lehrreich, diesen Blick in die Seele des jungen Studenten zu
tun. Es wird uns ohne weiteres verständlich, wie auf diesen Geist Darwins
Werk wirken mußte. Wie der große einheitliche Gedanke der allumfassenden und
durchdringenden, mechanisch arbeitenden Entwicklung ihn in seinen Bann ziehen
mußte, weil er alle schöpferischen Kräfte seiner Seele anregte und beflügelte. Und
wie diese naturwissenschaftliche Erkenntnis ihm zum Glauben werden mußte, weil
seine feurige, künstlerisch-schwärmerische Natur ohne Glauben nicht leben konnte.




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[0223] Lrnst Haeckels Jugendbriefe den der junge Student zu durchleben hat, der zwischen der überkommenen Glaubens¬ form und der naturwissenschaftlichen Weltanschauung. Wir finden den jungen Studenten beim Beziehen der Universität positiv gläubig und stark kirchlich gesinnt. Wieder und wieder kehren in den Briefen Berichte über Predigten, die ihn ge¬ fesselt und erbaut haben und die sicher nicht nur geschrieben sind, um das Wohl¬ gefallen seiner frommen Eltern zu erhalten. Voller Entrüstung spricht er von dem groben Materialismus Vogts und Büchners, auf die er mit Verachtung herabblickt. Die intensive Beschäftigung mit den allgemeinen Grundprinzipien der naturwissenschaftlichen Forschung, wie sie ihm speziell durch die philosophischen Abschnitte des berühmten Virchowschen Kollegs nahegelegt werden, stellt ihn nun vor das schwierige Problem, wie es komme, daß Menschen einer so minderwertigen Weltanschauung ethisch so hoch¬ stehend sein können, wie etwa sein verehrter Studienfreund Beckmann. Gleichzeitig erlebt der Sohn des nüchternen protestantischen Nordens in der Bischofsstadt Würzburg den veräutzerlichten katholischen Neligionsbetrieb, in dem er nur Lippen¬ frömmigkeit, äußeres Gepränge und systematisches Verdummungsbestreben sieht. Es bildet sich ein Kreis junger Studiengenossen, die in Diskussionsabenden sich über diese Probleme klar zu werden suchen. Wieder und wieder kehren in seinen Briefen, vor allen Dingen in einem sehr schönen Briefe an seine geliebte Tante Berta, eine jüngere Schwester seiner Mutter, die Auseinandersetzungen mit diesem Problem. Aber hier wird der Zwiespalt nicht gelöst. Bis zum Schluß seiner Studienzeit bleibt Haeckel christlich und kirchlich gesinnt. Und hier stoßen wir auf eine sehr charakteristische Begrenzung seiner geistigen Natur. Wie er selbst schon zu Anfang seines Studiums einmal ausspricht, ist in ihm das sinnliche Element der Anschauung außerordentlich stark entwickelt, während abstrakte Gedankenkonstruktionen ihm fremd und fernliegend sind. Er baut sich die Welt naturwissenschaftlichen Denkens und Arbeitens, zu der ihn sein innerer Beruf zieht, und daneben steht die altvertraute und liebe Welt des Glaubens und des Gefühls. Nirgendwo in den Briefen finden wir Hinweise auf eigentliche philosophische Arbeit; eine einzige Bemerkung über Kant, der „noch genauer studiert werden müßte". Der Versuch, die eigentlichen Wurzeln religiösen Denkens Vloßzulegcn, wird nirgendwo gemacht. So bleibt der Standpunkt Haeckels bis zum Schluß seiner Studentenjahre unsicher und schwankend, weil er aus eigener Arbeit kein inneres Verhältnis zu den traditionellen Werten des alten Glaubens gewinnen kann. Es ist psychologisch außerordentlich interessant und gerade bei der Bedeutung, die Haeckel als Vorkämpfer der antikirchlichen Bewegung später gewonnen hat, sehr lehrreich, diesen Blick in die Seele des jungen Studenten zu tun. Es wird uns ohne weiteres verständlich, wie auf diesen Geist Darwins Werk wirken mußte. Wie der große einheitliche Gedanke der allumfassenden und durchdringenden, mechanisch arbeitenden Entwicklung ihn in seinen Bann ziehen mußte, weil er alle schöpferischen Kräfte seiner Seele anregte und beflügelte. Und wie diese naturwissenschaftliche Erkenntnis ihm zum Glauben werden mußte, weil seine feurige, künstlerisch-schwärmerische Natur ohne Glauben nicht leben konnte. Grenzboten III 192t14

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339148/223>, abgerufen am 23.12.2024.