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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr.

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Ernst Haeckels Jugendbriefe

zum Abschluß des medizinischen Studiums und den Eintritt in die zoologische
Laufbahn.

Wir sehen in dem jungen Haeckel den Sprößling einer alten geistig ange¬
regten Juristen- und Beamtenfamilie, deren Interessen vorwiegend auf geistes¬
wissenschaftlichem und politischem Gebiete gelegen hatten, in Fühlung mit der
liberalen Theologie der Welt und stark beeinflußt von Schleiermacher. Seine
Jugend hatte Haeckel in dem kleinen Städtchen Merseburg verlebt, aus dem seine
Eltern kurz vor seinem Abgang zur Universität nach Berlin übersiedelten. Dort
hatte er ein anscheinend ziemlich strenges und wohl auch etwas langweiliges
Gymnasium besucht, in dem aber durch Beziehung zu mehreren Kameraden
unter dem Einfluß einiger guter Lehrer seine Neigung zur Naturwissenschaft,
speziell zur Botanik, sich lebhaft hatte entwickeln können.

Haeckels innerem Drang, dieser Neigung zu folgen, stellte sich aber der
praktisch veranlagte Vater entgegen und verlangte zunächst die Durchführung des
medizinischen Studiums, um ihm eine feste Stellung im Leben zu verschaffen.
Als Universitätsstadt wurde Würzburg gewählt, das durch die Führer der jungen
Naturwissenschaft, Virchow und Kölliker, eine ganz besondere Anziehungskraft er¬
langt hatte. In seinen Briefen von der Hochschule sehen wir den jungen Haeckel
in einem ideal schönen Verhältnis zu seinem Elternhaus, voll kindlicher Liebe und
Verehrung für Vater und Mutter, dabei trotz aller Achtung vor dem starken
Willen des Vaters sich in voller Offenheit und Freiheit über alle ihn bewegenden
Fragen auSsprechend. Ein Jüngling voller Schwung und Ideal, mit lebhafter
Phantasie und einer ausgesprochenen Vegeisterungsfähigkeit, aber unausgeglichen
und schwankend, mit Hang zu tiefer Melancholie und häufig wiederkehrenden
Depressionen, die ihn an seiner Leistungsfähigkeit zweifeln lassen. Ein körperlich
außerordentlich schnell entwickelter, hochgeschossener Jüngling, dessen Schwerblütigkeit
noch durch lange Krankheit, eine rheumatische Lähmung des einen Knies, gesteigert
wurde. Schüchtern und im Verkehr ungewandt, voller Angst vor der Gesellschaft
junger Damen und ausgesprochener Abscheu vor Tanzen und allen geselligen
Vergnügungen. Dem üblichen Studentenleben stellt er sich von vornherein sehr
feindlich gegenüber. Der Stumpfsinn der Biergesellschaft der studentischen Ver¬
einigungen und des reinen Brotstudiums ist ihm unverständlich und verhaßt. Er
lebt nur in einem kleinem Kreise gleichgesinnter Freunde, in dem er sich aber
auch immer etwas fremd und unverstanden fühlt. Dabei ist er aber durchaus
kein melancholischer Stubenhocker, sondern hat Sinn für Fröhlichkeit und Humor;
nur sucht er seine Erholung lieber in der schönen Natur und auf einsamen
Wanderungen, als unter lärmenden Kameraden.

Durch Haeckels ganze Studentenzeit ziehen sich zwei große Kämpfe, zwischen
dem inneren Beruf zur Naturwissenschaft und dem äußeren Zwang zur Medizin.
Wieder und wieder kehren in den ersten Jahren die Ausbrüche, daß es ihm un¬
möglich sei, Mediziner zu werden. Sein sehr empfindliches und reizbares Nerven¬
system fühlt sich abgestoßen durch den Anatomiebetrieb, der unter den damaligen
unvollkommenen hygienischen Verhältnissen viel größere Schrecken bot, als heut¬
zutage, und noch mehr durch die Arbeit an den Kranken, die vor allen in der
Chirurgie vor Narkose und Antisepsis sehr viel mehr zu leiden hatten, als heut¬
zutage. Noch mehr aber fast ist es der innere Widerstand, den ihm der Mangel
allgemeiner Gesichtspunkte in der eigentlichen Medium bietet. Seine ganze Natur
drängt zu allgemeinen Erkenntnissen und naturwissenschaftlichen Gesetzen und so
fühlt er sich besonders von der Rarerm msäiLa. dieser Sammlung unzusammen¬
hängender, einander widersprechender empirischer Daten gänzlich unbefriedigt und
meint, daß er sich nie mit ihr wird abfinden können. Dagegen erwacht sofort
Wu Interesse, wo die naturwissenschaftliche Denk- und Arbeitsart in der Medizin
zum Durchbruch kommt. Voller Begeisterung hört er die Vorlesungen über ver-
gleichende Anatomie und Entwicklungsgeschichte bei dem jungen, glänzenden
Lehrer Kölliker, und eine wahre Erlösung sind ihm in der eigentlichen Medizin
"le Vorlesungen Virchows über allgemeine Pathologie. Mit einem Rausch von


Ernst Haeckels Jugendbriefe

zum Abschluß des medizinischen Studiums und den Eintritt in die zoologische
Laufbahn.

Wir sehen in dem jungen Haeckel den Sprößling einer alten geistig ange¬
regten Juristen- und Beamtenfamilie, deren Interessen vorwiegend auf geistes¬
wissenschaftlichem und politischem Gebiete gelegen hatten, in Fühlung mit der
liberalen Theologie der Welt und stark beeinflußt von Schleiermacher. Seine
Jugend hatte Haeckel in dem kleinen Städtchen Merseburg verlebt, aus dem seine
Eltern kurz vor seinem Abgang zur Universität nach Berlin übersiedelten. Dort
hatte er ein anscheinend ziemlich strenges und wohl auch etwas langweiliges
Gymnasium besucht, in dem aber durch Beziehung zu mehreren Kameraden
unter dem Einfluß einiger guter Lehrer seine Neigung zur Naturwissenschaft,
speziell zur Botanik, sich lebhaft hatte entwickeln können.

Haeckels innerem Drang, dieser Neigung zu folgen, stellte sich aber der
praktisch veranlagte Vater entgegen und verlangte zunächst die Durchführung des
medizinischen Studiums, um ihm eine feste Stellung im Leben zu verschaffen.
Als Universitätsstadt wurde Würzburg gewählt, das durch die Führer der jungen
Naturwissenschaft, Virchow und Kölliker, eine ganz besondere Anziehungskraft er¬
langt hatte. In seinen Briefen von der Hochschule sehen wir den jungen Haeckel
in einem ideal schönen Verhältnis zu seinem Elternhaus, voll kindlicher Liebe und
Verehrung für Vater und Mutter, dabei trotz aller Achtung vor dem starken
Willen des Vaters sich in voller Offenheit und Freiheit über alle ihn bewegenden
Fragen auSsprechend. Ein Jüngling voller Schwung und Ideal, mit lebhafter
Phantasie und einer ausgesprochenen Vegeisterungsfähigkeit, aber unausgeglichen
und schwankend, mit Hang zu tiefer Melancholie und häufig wiederkehrenden
Depressionen, die ihn an seiner Leistungsfähigkeit zweifeln lassen. Ein körperlich
außerordentlich schnell entwickelter, hochgeschossener Jüngling, dessen Schwerblütigkeit
noch durch lange Krankheit, eine rheumatische Lähmung des einen Knies, gesteigert
wurde. Schüchtern und im Verkehr ungewandt, voller Angst vor der Gesellschaft
junger Damen und ausgesprochener Abscheu vor Tanzen und allen geselligen
Vergnügungen. Dem üblichen Studentenleben stellt er sich von vornherein sehr
feindlich gegenüber. Der Stumpfsinn der Biergesellschaft der studentischen Ver¬
einigungen und des reinen Brotstudiums ist ihm unverständlich und verhaßt. Er
lebt nur in einem kleinem Kreise gleichgesinnter Freunde, in dem er sich aber
auch immer etwas fremd und unverstanden fühlt. Dabei ist er aber durchaus
kein melancholischer Stubenhocker, sondern hat Sinn für Fröhlichkeit und Humor;
nur sucht er seine Erholung lieber in der schönen Natur und auf einsamen
Wanderungen, als unter lärmenden Kameraden.

Durch Haeckels ganze Studentenzeit ziehen sich zwei große Kämpfe, zwischen
dem inneren Beruf zur Naturwissenschaft und dem äußeren Zwang zur Medizin.
Wieder und wieder kehren in den ersten Jahren die Ausbrüche, daß es ihm un¬
möglich sei, Mediziner zu werden. Sein sehr empfindliches und reizbares Nerven¬
system fühlt sich abgestoßen durch den Anatomiebetrieb, der unter den damaligen
unvollkommenen hygienischen Verhältnissen viel größere Schrecken bot, als heut¬
zutage, und noch mehr durch die Arbeit an den Kranken, die vor allen in der
Chirurgie vor Narkose und Antisepsis sehr viel mehr zu leiden hatten, als heut¬
zutage. Noch mehr aber fast ist es der innere Widerstand, den ihm der Mangel
allgemeiner Gesichtspunkte in der eigentlichen Medium bietet. Seine ganze Natur
drängt zu allgemeinen Erkenntnissen und naturwissenschaftlichen Gesetzen und so
fühlt er sich besonders von der Rarerm msäiLa. dieser Sammlung unzusammen¬
hängender, einander widersprechender empirischer Daten gänzlich unbefriedigt und
meint, daß er sich nie mit ihr wird abfinden können. Dagegen erwacht sofort
Wu Interesse, wo die naturwissenschaftliche Denk- und Arbeitsart in der Medizin
zum Durchbruch kommt. Voller Begeisterung hört er die Vorlesungen über ver-
gleichende Anatomie und Entwicklungsgeschichte bei dem jungen, glänzenden
Lehrer Kölliker, und eine wahre Erlösung sind ihm in der eigentlichen Medizin
«le Vorlesungen Virchows über allgemeine Pathologie. Mit einem Rausch von


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[0221] Ernst Haeckels Jugendbriefe zum Abschluß des medizinischen Studiums und den Eintritt in die zoologische Laufbahn. Wir sehen in dem jungen Haeckel den Sprößling einer alten geistig ange¬ regten Juristen- und Beamtenfamilie, deren Interessen vorwiegend auf geistes¬ wissenschaftlichem und politischem Gebiete gelegen hatten, in Fühlung mit der liberalen Theologie der Welt und stark beeinflußt von Schleiermacher. Seine Jugend hatte Haeckel in dem kleinen Städtchen Merseburg verlebt, aus dem seine Eltern kurz vor seinem Abgang zur Universität nach Berlin übersiedelten. Dort hatte er ein anscheinend ziemlich strenges und wohl auch etwas langweiliges Gymnasium besucht, in dem aber durch Beziehung zu mehreren Kameraden unter dem Einfluß einiger guter Lehrer seine Neigung zur Naturwissenschaft, speziell zur Botanik, sich lebhaft hatte entwickeln können. Haeckels innerem Drang, dieser Neigung zu folgen, stellte sich aber der praktisch veranlagte Vater entgegen und verlangte zunächst die Durchführung des medizinischen Studiums, um ihm eine feste Stellung im Leben zu verschaffen. Als Universitätsstadt wurde Würzburg gewählt, das durch die Führer der jungen Naturwissenschaft, Virchow und Kölliker, eine ganz besondere Anziehungskraft er¬ langt hatte. In seinen Briefen von der Hochschule sehen wir den jungen Haeckel in einem ideal schönen Verhältnis zu seinem Elternhaus, voll kindlicher Liebe und Verehrung für Vater und Mutter, dabei trotz aller Achtung vor dem starken Willen des Vaters sich in voller Offenheit und Freiheit über alle ihn bewegenden Fragen auSsprechend. Ein Jüngling voller Schwung und Ideal, mit lebhafter Phantasie und einer ausgesprochenen Vegeisterungsfähigkeit, aber unausgeglichen und schwankend, mit Hang zu tiefer Melancholie und häufig wiederkehrenden Depressionen, die ihn an seiner Leistungsfähigkeit zweifeln lassen. Ein körperlich außerordentlich schnell entwickelter, hochgeschossener Jüngling, dessen Schwerblütigkeit noch durch lange Krankheit, eine rheumatische Lähmung des einen Knies, gesteigert wurde. Schüchtern und im Verkehr ungewandt, voller Angst vor der Gesellschaft junger Damen und ausgesprochener Abscheu vor Tanzen und allen geselligen Vergnügungen. Dem üblichen Studentenleben stellt er sich von vornherein sehr feindlich gegenüber. Der Stumpfsinn der Biergesellschaft der studentischen Ver¬ einigungen und des reinen Brotstudiums ist ihm unverständlich und verhaßt. Er lebt nur in einem kleinem Kreise gleichgesinnter Freunde, in dem er sich aber auch immer etwas fremd und unverstanden fühlt. Dabei ist er aber durchaus kein melancholischer Stubenhocker, sondern hat Sinn für Fröhlichkeit und Humor; nur sucht er seine Erholung lieber in der schönen Natur und auf einsamen Wanderungen, als unter lärmenden Kameraden. Durch Haeckels ganze Studentenzeit ziehen sich zwei große Kämpfe, zwischen dem inneren Beruf zur Naturwissenschaft und dem äußeren Zwang zur Medizin. Wieder und wieder kehren in den ersten Jahren die Ausbrüche, daß es ihm un¬ möglich sei, Mediziner zu werden. Sein sehr empfindliches und reizbares Nerven¬ system fühlt sich abgestoßen durch den Anatomiebetrieb, der unter den damaligen unvollkommenen hygienischen Verhältnissen viel größere Schrecken bot, als heut¬ zutage, und noch mehr durch die Arbeit an den Kranken, die vor allen in der Chirurgie vor Narkose und Antisepsis sehr viel mehr zu leiden hatten, als heut¬ zutage. Noch mehr aber fast ist es der innere Widerstand, den ihm der Mangel allgemeiner Gesichtspunkte in der eigentlichen Medium bietet. Seine ganze Natur drängt zu allgemeinen Erkenntnissen und naturwissenschaftlichen Gesetzen und so fühlt er sich besonders von der Rarerm msäiLa. dieser Sammlung unzusammen¬ hängender, einander widersprechender empirischer Daten gänzlich unbefriedigt und meint, daß er sich nie mit ihr wird abfinden können. Dagegen erwacht sofort Wu Interesse, wo die naturwissenschaftliche Denk- und Arbeitsart in der Medizin zum Durchbruch kommt. Voller Begeisterung hört er die Vorlesungen über ver- gleichende Anatomie und Entwicklungsgeschichte bei dem jungen, glänzenden Lehrer Kölliker, und eine wahre Erlösung sind ihm in der eigentlichen Medizin «le Vorlesungen Virchows über allgemeine Pathologie. Mit einem Rausch von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339148/221>, abgerufen am 24.07.2024.