Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr.War bis ^903 eine Verständigung mit Rußland möglich? War in den Jahren bis M8 eine Verständigung mit Rußland möglich? Dr. Karl Aelter von seinem Aufsatz in Ur. 24 der "Grenzboten" macht Professor *) Vgl. für die folgenden Ausführungen meine Schrift über Deutschlands aus¬
wärtige Politik von Caprivi bis Bethmann Hollweg. Detmold 1921, Meyersche Hofbuch¬ handlung. War bis ^903 eine Verständigung mit Rußland möglich? War in den Jahren bis M8 eine Verständigung mit Rußland möglich? Dr. Karl Aelter von seinem Aufsatz in Ur. 24 der „Grenzboten" macht Professor *) Vgl. für die folgenden Ausführungen meine Schrift über Deutschlands aus¬
wärtige Politik von Caprivi bis Bethmann Hollweg. Detmold 1921, Meyersche Hofbuch¬ handlung. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0214" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/339363"/> <fw type="header" place="top"> War bis ^903 eine Verständigung mit Rußland möglich?</fw><lb/> </div> <div n="1"> <head> War in den Jahren bis M8 eine Verständigung<lb/> mit Rußland möglich?<lb/><note type="byline"> Dr. Karl Aelter</note> von</head><lb/> <p xml:id="ID_820" next="#ID_821"> seinem Aufsatz in Ur. 24 der „Grenzboten" macht Professor<lb/> Kaindl all denen, welche mit Bismarck Caprivi wegen der Nicht-<lb/> ^M^DM W Verlängerung des Nückvcrsicherungsvertrages tadeln, den Vorwurf,<lb/> daß sie zwei wichtige Tatsachen übersehen: 1. die Unsicherheit von<lb/> Verträgen mit dem Zaren, welche sich aus dem Bestehen einer<lb/> panslawistischen Nebenregierung ergab, 2. den allzu hohen Preis, den Rußland<lb/> für die Verständigung verlangte. Der Vorwurf kann nicht als berechtigt aner¬<lb/> kannt werden. Kaindl übersieht seinerseits, daß es unmöglich ist, in der Politik<lb/> Erfolge zu erzielen, ohne gewisse Opfer zu bringen, ebenso wie ein gewerblicher<lb/> Unternehmer niemals einen Gewinn machen kann, wenn er nicht vorher Geld in<lb/> seinen Betrieb hineinsteckt. Das kleinste Opfer, das Deutschland hätte bringen<lb/> müssen, war der Verzicht auf die Freundschaft mit der Türkei"). Die deutschen<lb/> Staatsmänner befanden sich in der sonderbaren Illusion, daß sie glaubten, mit<lb/> einem Volke dauernd in Freundschaft leben zu können, dessen glühendsten Wunsche,<lb/> der Herrschaft über die Meerengen, sie ständig entgegentraten. Bismarck sah hierin<lb/> weiter; er erklärte sich in einem Geheimartikel des Nückversicherungsvertrages<lb/> mit der Besetzung Konstantinopels einverstanden. Die Erhaltung der Unversehrt¬<lb/> heit des Osmanischen Reichs war keineswegs eine Lebensfrage für Deutschland;<lb/> wir hätten uns auch mit einer Aufteilung der Türkei in wirtschaftliche Interessen¬<lb/> sphären zufrieden geben, können. Ebenso wenig hatte Deutschland ein<lb/> Interesse daran, auf dem Balkan die österreichischen Wünsche gegenüber den<lb/> russischen zu unterstützen. Bismarck hat stets betont, daß uns das Bündnis zwar<lb/> verpflichte, das österreichische Staatsgebiet vor einem russischen Angriffe zu schützen,<lb/> keineswegs aber, für Österreichs Balkaninteressen gegenüber Rußland einzutreten.<lb/> Ihm scheint eine Teilung der Balkanhalbinsel in eine österreichische Interessen¬<lb/> sphäre im Westen mit Saloniki und eine russische im Osten mit Konstantinopel<lb/> vorgeschwebt zu haben. Gingen aber nicht die Wünsche der Panslawisten viel<lb/> weiter? strebten sie nicht eine Zerstörung Österreich-Ungarns an? Zweifellos!<lb/> Aber es muß doch einmal ernstlich die Frage aufgeworfen werden: war es eine<lb/> selbstverständliche Forderung, daß Deutschland den Bündnisvertrag mit Osterreich<lb/> immer wieder verlängern mußte? Der Gedanke, daß man Osterreich fallen lassen<lb/> konnte, erscheint uns nur deshalb so ungeheuerlich, weil wir immer das Habs¬<lb/> burgerreich mit dem österreichischen Deutschtum verwechseln. Eine Preisgabe der<lb/> Deutschen Österreichs wäre allerdings nationaler Verrat gewesen; aber der Dynastie<lb/> der Habsburger war weder das deutsche Volk noch das Haus Hohenzollern zu<lb/> Treue verpflichtet; wie oft find nicht die deutschen Interessen vom Hause Habs¬<lb/> burg verraten worden! Man denke nur an den letzten österreichischen Kaiser. Der<lb/> Plan einer Aufteilung des Habsburgischen Reiches zwischen Deutschland und</p><lb/> <note xml:id="FID_27" place="foot"> *) Vgl. für die folgenden Ausführungen meine Schrift über Deutschlands aus¬<lb/> wärtige Politik von Caprivi bis Bethmann Hollweg. Detmold 1921, Meyersche Hofbuch¬<lb/> handlung.</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0214]
War bis ^903 eine Verständigung mit Rußland möglich?
War in den Jahren bis M8 eine Verständigung
mit Rußland möglich?
Dr. Karl Aelter von
seinem Aufsatz in Ur. 24 der „Grenzboten" macht Professor
Kaindl all denen, welche mit Bismarck Caprivi wegen der Nicht-
^M^DM W Verlängerung des Nückvcrsicherungsvertrages tadeln, den Vorwurf,
daß sie zwei wichtige Tatsachen übersehen: 1. die Unsicherheit von
Verträgen mit dem Zaren, welche sich aus dem Bestehen einer
panslawistischen Nebenregierung ergab, 2. den allzu hohen Preis, den Rußland
für die Verständigung verlangte. Der Vorwurf kann nicht als berechtigt aner¬
kannt werden. Kaindl übersieht seinerseits, daß es unmöglich ist, in der Politik
Erfolge zu erzielen, ohne gewisse Opfer zu bringen, ebenso wie ein gewerblicher
Unternehmer niemals einen Gewinn machen kann, wenn er nicht vorher Geld in
seinen Betrieb hineinsteckt. Das kleinste Opfer, das Deutschland hätte bringen
müssen, war der Verzicht auf die Freundschaft mit der Türkei"). Die deutschen
Staatsmänner befanden sich in der sonderbaren Illusion, daß sie glaubten, mit
einem Volke dauernd in Freundschaft leben zu können, dessen glühendsten Wunsche,
der Herrschaft über die Meerengen, sie ständig entgegentraten. Bismarck sah hierin
weiter; er erklärte sich in einem Geheimartikel des Nückversicherungsvertrages
mit der Besetzung Konstantinopels einverstanden. Die Erhaltung der Unversehrt¬
heit des Osmanischen Reichs war keineswegs eine Lebensfrage für Deutschland;
wir hätten uns auch mit einer Aufteilung der Türkei in wirtschaftliche Interessen¬
sphären zufrieden geben, können. Ebenso wenig hatte Deutschland ein
Interesse daran, auf dem Balkan die österreichischen Wünsche gegenüber den
russischen zu unterstützen. Bismarck hat stets betont, daß uns das Bündnis zwar
verpflichte, das österreichische Staatsgebiet vor einem russischen Angriffe zu schützen,
keineswegs aber, für Österreichs Balkaninteressen gegenüber Rußland einzutreten.
Ihm scheint eine Teilung der Balkanhalbinsel in eine österreichische Interessen¬
sphäre im Westen mit Saloniki und eine russische im Osten mit Konstantinopel
vorgeschwebt zu haben. Gingen aber nicht die Wünsche der Panslawisten viel
weiter? strebten sie nicht eine Zerstörung Österreich-Ungarns an? Zweifellos!
Aber es muß doch einmal ernstlich die Frage aufgeworfen werden: war es eine
selbstverständliche Forderung, daß Deutschland den Bündnisvertrag mit Osterreich
immer wieder verlängern mußte? Der Gedanke, daß man Osterreich fallen lassen
konnte, erscheint uns nur deshalb so ungeheuerlich, weil wir immer das Habs¬
burgerreich mit dem österreichischen Deutschtum verwechseln. Eine Preisgabe der
Deutschen Österreichs wäre allerdings nationaler Verrat gewesen; aber der Dynastie
der Habsburger war weder das deutsche Volk noch das Haus Hohenzollern zu
Treue verpflichtet; wie oft find nicht die deutschen Interessen vom Hause Habs¬
burg verraten worden! Man denke nur an den letzten österreichischen Kaiser. Der
Plan einer Aufteilung des Habsburgischen Reiches zwischen Deutschland und
*) Vgl. für die folgenden Ausführungen meine Schrift über Deutschlands aus¬
wärtige Politik von Caprivi bis Bethmann Hollweg. Detmold 1921, Meyersche Hofbuch¬
handlung.
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