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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr.

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Möglichkeiten der einzelnen Staaten geschaffen werden. Wehe Europa, wenn es
kostbare Zeit mit Zänkereien um Einflußzonen vergeudet, wenn Rivalitäten durch
Reibungen Energieverluste entstehen lassen, anstatt daß Kameradschaften Wirksam¬
keiten vermehren. Wehe Europa, wenn planloses Fincmzkondottieretum unproduk¬
tive Gewinne rafft, wo Generationen ernten könnten. Es muß ein europäisches
Gewissen entstehen, das weder international noch anational zu sein braucht, so
wenig wie die einzelnen deutschen Stämme weniger gut deutsch zu sein brauchen,
weil sie eifersüchtig und zäh an ihrer Stammeseigenart hängen. Die Zeiten straff
konzentrierender, nur sich selbst gelten lassender Barockstaatskunst, als deren Schul¬
beispiel der Staat Ludwigs XIV. gelten kann, der im revolutionären Frankreich
die letzte konsequenteste Form erhielt, sind vorüber, die jungen Staaten Italien,
Deutschland haben die Entwicklung im neunzehnten Jahrhundert nachholen müssen,
aber schon regt sich selbst in Frankreich ein neuer, vorläufig allerdings Vorzugs-
weise wirtschaftlich orientierter Regionalismus. Doch gerade Deutschland mit
seiner Bundesstaatsverfassung könnte, begünstigt durch seine zentrale Lage, für die
Organisierung Europas vorbildlich wirken. Nur muß man ihm Muße und
Lebenslust lassen, dieser immanenten Aufgabe nachzukommen. Wehe den Staaten
Europas, wenn sie. die Glieder des neuen Organismus, um sich selbst zu nähren,
das Herz, die Seele Europas verkümmern lassen. Es ist vom egoistischen Staaten¬
standpunkt von jeher der Fehler der Deutschen gewesen, mehr an die Welt als
an sich gedacht zu haben; Europa hat es in der Hand, diesen Fehler in einen
Vorzug zu verwandeln. Nur setze es dem Bannerträger nicht in einer Weise zu,
daß er um seiner Selbsterhaltung das Banner sinken lassen, daß er zum Schwert
greifen muß, um sein nacktes Dasein zu verteidigen.

Um eine gewisse Intensität dieser europäischen Kulturarbeit zu gewährleisten,
muß die Schaffung allzu kleiner Einzelzellen verhütet werden. Es wäre ein
Unglück, und nicht, wie die Franzosen meinen, die in dieser Beziehung immer noch in
den Zeiten des vierzehnten Ludwigs und Napoleons leben, ein Glück für Europa,
wenn Deutschland wieder in viele kleine Einzelstaaten zerfiele. Zu viele kleine
Einzelstaaten bedeuten, das lehrt die Geschichte des Balkans im neunzehnten
Jahrhundert, ewige Unruhe, ewige Eifersüchteleien, ständig wechselnde Gruppen¬
bildungen, Eingriffe mächtigerer Nachbarn, Kraftvergeudung für Lappalien. Schon
jetzt schließt sich ein Teil der österreichischen Nachfolgerstaaten wieder zusammen,
schon jetzt machen die großen Flüsse ihren Charakter als einigende Leitseile
geltend. Schon jetzt erheben sich selbst in Frankreich gewichtige Stimmen, die für
einen europäischen Zollverein eintreten.

Dies alles ist möglich, ohne daß die individuellen Rechts der einzelnen
Volksstämme gekränkt zu werden brauchen. Es muß eine Trennung der Gewalten
eintreten. Kulturelle Autonomie kann überall durchgeführt werden, wenn man
die Ideen der Wirtschaft einer Revision in dem Sinne vollzieht, daß Wirtschaft
nicht Monopolisierung, sondern wirklichen, intensivsten Austausch bedeutet. Die
Möglichkeiten der Wirtschaft sind heute derartig gesteigert, die wirtschaftlichen
Bedürfnisse derartig groß, daß jedes Volk Gegenwerte zu bieten hat. Nur muß
man aufhören, mit dem Gendarmen regieren zu wollen.

Der Gendarm Europas ist vorläufig Frankreich und leider scheint es sich
in dieser Rolle zu gefallen. Gerade die Geschichte Oesterreichs aber beweist im
Kleinen, daß mit dem Gendarmen heute nicht mehr regiert werden kann. Deutsch¬
land wird durch Schläge nicht klein, sondern hart werden. Die Franzosen be¬
klagen sich über den wachsenden Haß, der ihnen überall in Deutschland in
Flammen entgegenschlägt. Sie führen ihn auf die Hetzpropaganda der Schwer¬
industrie und der Altdeutschen zurück. Aber auch die intensivste Propaganda kann
nur Keime entwickeln, keine Kerne schaffen und ist ohnmächtig, wenn man ihr
den Boden entzieht. Doch vom unverschämten Kapitänslümmel, der wider alle
europäischen Umgangsformen im Schlafwagen raucht, bis zum Ministerpräsidenten,
dem das höchste deutsche Gericht gerade gut genug ist, um es, eines innerpolitischen
Effektes willen zu verunglimpfen, tun die Franzosen täglich und stündlich alles,


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Möglichkeiten der einzelnen Staaten geschaffen werden. Wehe Europa, wenn es
kostbare Zeit mit Zänkereien um Einflußzonen vergeudet, wenn Rivalitäten durch
Reibungen Energieverluste entstehen lassen, anstatt daß Kameradschaften Wirksam¬
keiten vermehren. Wehe Europa, wenn planloses Fincmzkondottieretum unproduk¬
tive Gewinne rafft, wo Generationen ernten könnten. Es muß ein europäisches
Gewissen entstehen, das weder international noch anational zu sein braucht, so
wenig wie die einzelnen deutschen Stämme weniger gut deutsch zu sein brauchen,
weil sie eifersüchtig und zäh an ihrer Stammeseigenart hängen. Die Zeiten straff
konzentrierender, nur sich selbst gelten lassender Barockstaatskunst, als deren Schul¬
beispiel der Staat Ludwigs XIV. gelten kann, der im revolutionären Frankreich
die letzte konsequenteste Form erhielt, sind vorüber, die jungen Staaten Italien,
Deutschland haben die Entwicklung im neunzehnten Jahrhundert nachholen müssen,
aber schon regt sich selbst in Frankreich ein neuer, vorläufig allerdings Vorzugs-
weise wirtschaftlich orientierter Regionalismus. Doch gerade Deutschland mit
seiner Bundesstaatsverfassung könnte, begünstigt durch seine zentrale Lage, für die
Organisierung Europas vorbildlich wirken. Nur muß man ihm Muße und
Lebenslust lassen, dieser immanenten Aufgabe nachzukommen. Wehe den Staaten
Europas, wenn sie. die Glieder des neuen Organismus, um sich selbst zu nähren,
das Herz, die Seele Europas verkümmern lassen. Es ist vom egoistischen Staaten¬
standpunkt von jeher der Fehler der Deutschen gewesen, mehr an die Welt als
an sich gedacht zu haben; Europa hat es in der Hand, diesen Fehler in einen
Vorzug zu verwandeln. Nur setze es dem Bannerträger nicht in einer Weise zu,
daß er um seiner Selbsterhaltung das Banner sinken lassen, daß er zum Schwert
greifen muß, um sein nacktes Dasein zu verteidigen.

Um eine gewisse Intensität dieser europäischen Kulturarbeit zu gewährleisten,
muß die Schaffung allzu kleiner Einzelzellen verhütet werden. Es wäre ein
Unglück, und nicht, wie die Franzosen meinen, die in dieser Beziehung immer noch in
den Zeiten des vierzehnten Ludwigs und Napoleons leben, ein Glück für Europa,
wenn Deutschland wieder in viele kleine Einzelstaaten zerfiele. Zu viele kleine
Einzelstaaten bedeuten, das lehrt die Geschichte des Balkans im neunzehnten
Jahrhundert, ewige Unruhe, ewige Eifersüchteleien, ständig wechselnde Gruppen¬
bildungen, Eingriffe mächtigerer Nachbarn, Kraftvergeudung für Lappalien. Schon
jetzt schließt sich ein Teil der österreichischen Nachfolgerstaaten wieder zusammen,
schon jetzt machen die großen Flüsse ihren Charakter als einigende Leitseile
geltend. Schon jetzt erheben sich selbst in Frankreich gewichtige Stimmen, die für
einen europäischen Zollverein eintreten.

Dies alles ist möglich, ohne daß die individuellen Rechts der einzelnen
Volksstämme gekränkt zu werden brauchen. Es muß eine Trennung der Gewalten
eintreten. Kulturelle Autonomie kann überall durchgeführt werden, wenn man
die Ideen der Wirtschaft einer Revision in dem Sinne vollzieht, daß Wirtschaft
nicht Monopolisierung, sondern wirklichen, intensivsten Austausch bedeutet. Die
Möglichkeiten der Wirtschaft sind heute derartig gesteigert, die wirtschaftlichen
Bedürfnisse derartig groß, daß jedes Volk Gegenwerte zu bieten hat. Nur muß
man aufhören, mit dem Gendarmen regieren zu wollen.

Der Gendarm Europas ist vorläufig Frankreich und leider scheint es sich
in dieser Rolle zu gefallen. Gerade die Geschichte Oesterreichs aber beweist im
Kleinen, daß mit dem Gendarmen heute nicht mehr regiert werden kann. Deutsch¬
land wird durch Schläge nicht klein, sondern hart werden. Die Franzosen be¬
klagen sich über den wachsenden Haß, der ihnen überall in Deutschland in
Flammen entgegenschlägt. Sie führen ihn auf die Hetzpropaganda der Schwer¬
industrie und der Altdeutschen zurück. Aber auch die intensivste Propaganda kann
nur Keime entwickeln, keine Kerne schaffen und ist ohnmächtig, wenn man ihr
den Boden entzieht. Doch vom unverschämten Kapitänslümmel, der wider alle
europäischen Umgangsformen im Schlafwagen raucht, bis zum Ministerpräsidenten,
dem das höchste deutsche Gericht gerade gut genug ist, um es, eines innerpolitischen
Effektes willen zu verunglimpfen, tun die Franzosen täglich und stündlich alles,


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[0198] ZVeltspiegel Möglichkeiten der einzelnen Staaten geschaffen werden. Wehe Europa, wenn es kostbare Zeit mit Zänkereien um Einflußzonen vergeudet, wenn Rivalitäten durch Reibungen Energieverluste entstehen lassen, anstatt daß Kameradschaften Wirksam¬ keiten vermehren. Wehe Europa, wenn planloses Fincmzkondottieretum unproduk¬ tive Gewinne rafft, wo Generationen ernten könnten. Es muß ein europäisches Gewissen entstehen, das weder international noch anational zu sein braucht, so wenig wie die einzelnen deutschen Stämme weniger gut deutsch zu sein brauchen, weil sie eifersüchtig und zäh an ihrer Stammeseigenart hängen. Die Zeiten straff konzentrierender, nur sich selbst gelten lassender Barockstaatskunst, als deren Schul¬ beispiel der Staat Ludwigs XIV. gelten kann, der im revolutionären Frankreich die letzte konsequenteste Form erhielt, sind vorüber, die jungen Staaten Italien, Deutschland haben die Entwicklung im neunzehnten Jahrhundert nachholen müssen, aber schon regt sich selbst in Frankreich ein neuer, vorläufig allerdings Vorzugs- weise wirtschaftlich orientierter Regionalismus. Doch gerade Deutschland mit seiner Bundesstaatsverfassung könnte, begünstigt durch seine zentrale Lage, für die Organisierung Europas vorbildlich wirken. Nur muß man ihm Muße und Lebenslust lassen, dieser immanenten Aufgabe nachzukommen. Wehe den Staaten Europas, wenn sie. die Glieder des neuen Organismus, um sich selbst zu nähren, das Herz, die Seele Europas verkümmern lassen. Es ist vom egoistischen Staaten¬ standpunkt von jeher der Fehler der Deutschen gewesen, mehr an die Welt als an sich gedacht zu haben; Europa hat es in der Hand, diesen Fehler in einen Vorzug zu verwandeln. Nur setze es dem Bannerträger nicht in einer Weise zu, daß er um seiner Selbsterhaltung das Banner sinken lassen, daß er zum Schwert greifen muß, um sein nacktes Dasein zu verteidigen. Um eine gewisse Intensität dieser europäischen Kulturarbeit zu gewährleisten, muß die Schaffung allzu kleiner Einzelzellen verhütet werden. Es wäre ein Unglück, und nicht, wie die Franzosen meinen, die in dieser Beziehung immer noch in den Zeiten des vierzehnten Ludwigs und Napoleons leben, ein Glück für Europa, wenn Deutschland wieder in viele kleine Einzelstaaten zerfiele. Zu viele kleine Einzelstaaten bedeuten, das lehrt die Geschichte des Balkans im neunzehnten Jahrhundert, ewige Unruhe, ewige Eifersüchteleien, ständig wechselnde Gruppen¬ bildungen, Eingriffe mächtigerer Nachbarn, Kraftvergeudung für Lappalien. Schon jetzt schließt sich ein Teil der österreichischen Nachfolgerstaaten wieder zusammen, schon jetzt machen die großen Flüsse ihren Charakter als einigende Leitseile geltend. Schon jetzt erheben sich selbst in Frankreich gewichtige Stimmen, die für einen europäischen Zollverein eintreten. Dies alles ist möglich, ohne daß die individuellen Rechts der einzelnen Volksstämme gekränkt zu werden brauchen. Es muß eine Trennung der Gewalten eintreten. Kulturelle Autonomie kann überall durchgeführt werden, wenn man die Ideen der Wirtschaft einer Revision in dem Sinne vollzieht, daß Wirtschaft nicht Monopolisierung, sondern wirklichen, intensivsten Austausch bedeutet. Die Möglichkeiten der Wirtschaft sind heute derartig gesteigert, die wirtschaftlichen Bedürfnisse derartig groß, daß jedes Volk Gegenwerte zu bieten hat. Nur muß man aufhören, mit dem Gendarmen regieren zu wollen. Der Gendarm Europas ist vorläufig Frankreich und leider scheint es sich in dieser Rolle zu gefallen. Gerade die Geschichte Oesterreichs aber beweist im Kleinen, daß mit dem Gendarmen heute nicht mehr regiert werden kann. Deutsch¬ land wird durch Schläge nicht klein, sondern hart werden. Die Franzosen be¬ klagen sich über den wachsenden Haß, der ihnen überall in Deutschland in Flammen entgegenschlägt. Sie führen ihn auf die Hetzpropaganda der Schwer¬ industrie und der Altdeutschen zurück. Aber auch die intensivste Propaganda kann nur Keime entwickeln, keine Kerne schaffen und ist ohnmächtig, wenn man ihr den Boden entzieht. Doch vom unverschämten Kapitänslümmel, der wider alle europäischen Umgangsformen im Schlafwagen raucht, bis zum Ministerpräsidenten, dem das höchste deutsche Gericht gerade gut genug ist, um es, eines innerpolitischen Effektes willen zu verunglimpfen, tun die Franzosen täglich und stündlich alles,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339148/198>, abgerufen am 05.07.2024.