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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr.

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Das angebliche Bündnisangebot Englands von <8Y5

Gelegenheit wahr, Chirol auf den Zahn zu fühlen, ob er Salisburys Darstellung
des Gespräches kenne, beziehungsweise welche Ansicht in gut unterrichteten Kreisen
Englands im Umlauf sei. Wenn Chirol darauf mit dem besten Willen keine
Auskunft geben konnte, so verfehlte er doch nicht, sich im Foreign Office zu er¬
kundigen, ob Salisbmy eine Aufzeichnung über das Gespräch von Cowes dort
hinterlassen habe. Die Antwort lautete, nein: Salisbury habe als Staatssekretär
oft die wichtigsten Dinge in privaten, vertraulichen Briefen an britische Abgeordnete
behandelt. Chirol kann sich jedoch nicht denken, daß über eine so bedeutungsvolle
Unterredung, noch dazu mit einem Monarchen, dem Salisbmy so wenig traute,
keine Aufzeichnung vorhanden sei. Wenn Salisbury zunächst die Tragweite des
Gesprächs unterschätzt habe, so könne es ihm doch nicht lange entgangen sein,
welche Auslegung ihm der Kaiser gegeben habe.

Die Frage, was der Timesmann mit diesem Artikel bezweckt hat, ist leicht
beantwortet. Ein Teil der Enthüllungen Eckardsteins klang den Engländern wie
Musik in den Ohren. Von dem offenen Bekenntnis Salisburys zum nackten
Imperialismus wollen sie nichts hören. Chirol sagt, er habe anfangs das Aus¬
wärtige Amt in Verdacht gehabt, die Aufzeichnung des Kaisers für ihn zurecht
gemacht zu haben, er halte aber das Dokument jetzt für echt, wenn auch auf der
Hand liege, daß der Kaiser für Salisburys Eröffnungen kein einwandfreier Zeuge
sei. Immerhin lasse die Aufzeichnung besser als Eckardstein-Marschall erkennen,
wie der Leiter der englischen Politik sich ausgedrückt hat. Kann man es Salis¬
bmy verargen, daß sein christliches Gefühl sich über die Armeniergreuel empört
hat, daß er aus diesem Grunde der Türkei die Daseinsberechtigung absprach, so
wie heute Deutschland seine Kolonien beileibe nicht wegen des Kolonialhungers
seiner Gegner, sondern wegen seiner "Kvlonialfrevel" abgesprochen wurden? In¬
dem Chirol dem englischen Leser die Geschichte mundgerecht macht, will er zugleich
dem Foreign Office einen Wink geben, daß es für ihre politisch erwünschte Ver¬
wendung den aktenmäßigen Beweis erbringt. Sein Artikel ist somit eine vorläufige
Warnung vor Eckardsteins Erzählung und ein Versuch, die Negierung zu zwingen, ihre
Zurückhaltung aufzugeben. Der historischen Wahrheit dient er dabei insofern, als
er zu diesem Zwecke veröffentlicht, was 1896 und 1901 zu seiner Kenntnis gelangt ist.

Daß er selbst etwa seine Erinnerungen gefälscht habe, ist jedoch nicht an¬
zunehmen. Der Wortlaut der kaiserlichen Aufzeichnung könnte ihn ja jederzeit
widerlegen. Marschalls Vorgeschichte paßt zu ihr, nicht zu Eckardstein. Wir
dürfen also annehmen, daß die Dinge im wesentlichen so verlaufen find, wie
Marschall und der Kaiser es nach Chirol dargestellt haben, wenn auch zugegeben
werden soll, daß Salisbury seine Gedanken vielleicht mehr eingewickelt hat, als
es nach den deutschen Zeugenaussagen scheinen könnte.

So ergibt sich vorbehaltlich weiterer Ergänzungen ein Bild der deutschen,
wie der englischen Politik, das meine Kritik an Eckardstein nachträglich rechtfertigt.
Die Erzählung des Botschaftsrats von dem "Vorschlag einer Teilung des gesamten
türkischen Reiches zwischen England, Deutschland und Osterreich" ist ein Märchen;
seine Behauptung, daß "die Annahme dieses so genialen und weittragenden Vor-
schlages automatisch den offiziellen Beitritt Englands zum Dreibund zur Folge
gehabt hätte", entbehrt jeder Grundlage. Das angebliche Bündnisangebot Salis¬
burys entpuppt sich als Fühler seiner Orientpolitik.


Das angebliche Bündnisangebot Englands von <8Y5

Gelegenheit wahr, Chirol auf den Zahn zu fühlen, ob er Salisburys Darstellung
des Gespräches kenne, beziehungsweise welche Ansicht in gut unterrichteten Kreisen
Englands im Umlauf sei. Wenn Chirol darauf mit dem besten Willen keine
Auskunft geben konnte, so verfehlte er doch nicht, sich im Foreign Office zu er¬
kundigen, ob Salisbmy eine Aufzeichnung über das Gespräch von Cowes dort
hinterlassen habe. Die Antwort lautete, nein: Salisbury habe als Staatssekretär
oft die wichtigsten Dinge in privaten, vertraulichen Briefen an britische Abgeordnete
behandelt. Chirol kann sich jedoch nicht denken, daß über eine so bedeutungsvolle
Unterredung, noch dazu mit einem Monarchen, dem Salisbmy so wenig traute,
keine Aufzeichnung vorhanden sei. Wenn Salisbury zunächst die Tragweite des
Gesprächs unterschätzt habe, so könne es ihm doch nicht lange entgangen sein,
welche Auslegung ihm der Kaiser gegeben habe.

Die Frage, was der Timesmann mit diesem Artikel bezweckt hat, ist leicht
beantwortet. Ein Teil der Enthüllungen Eckardsteins klang den Engländern wie
Musik in den Ohren. Von dem offenen Bekenntnis Salisburys zum nackten
Imperialismus wollen sie nichts hören. Chirol sagt, er habe anfangs das Aus¬
wärtige Amt in Verdacht gehabt, die Aufzeichnung des Kaisers für ihn zurecht
gemacht zu haben, er halte aber das Dokument jetzt für echt, wenn auch auf der
Hand liege, daß der Kaiser für Salisburys Eröffnungen kein einwandfreier Zeuge
sei. Immerhin lasse die Aufzeichnung besser als Eckardstein-Marschall erkennen,
wie der Leiter der englischen Politik sich ausgedrückt hat. Kann man es Salis¬
bmy verargen, daß sein christliches Gefühl sich über die Armeniergreuel empört
hat, daß er aus diesem Grunde der Türkei die Daseinsberechtigung absprach, so
wie heute Deutschland seine Kolonien beileibe nicht wegen des Kolonialhungers
seiner Gegner, sondern wegen seiner „Kvlonialfrevel" abgesprochen wurden? In¬
dem Chirol dem englischen Leser die Geschichte mundgerecht macht, will er zugleich
dem Foreign Office einen Wink geben, daß es für ihre politisch erwünschte Ver¬
wendung den aktenmäßigen Beweis erbringt. Sein Artikel ist somit eine vorläufige
Warnung vor Eckardsteins Erzählung und ein Versuch, die Negierung zu zwingen, ihre
Zurückhaltung aufzugeben. Der historischen Wahrheit dient er dabei insofern, als
er zu diesem Zwecke veröffentlicht, was 1896 und 1901 zu seiner Kenntnis gelangt ist.

Daß er selbst etwa seine Erinnerungen gefälscht habe, ist jedoch nicht an¬
zunehmen. Der Wortlaut der kaiserlichen Aufzeichnung könnte ihn ja jederzeit
widerlegen. Marschalls Vorgeschichte paßt zu ihr, nicht zu Eckardstein. Wir
dürfen also annehmen, daß die Dinge im wesentlichen so verlaufen find, wie
Marschall und der Kaiser es nach Chirol dargestellt haben, wenn auch zugegeben
werden soll, daß Salisbury seine Gedanken vielleicht mehr eingewickelt hat, als
es nach den deutschen Zeugenaussagen scheinen könnte.

So ergibt sich vorbehaltlich weiterer Ergänzungen ein Bild der deutschen,
wie der englischen Politik, das meine Kritik an Eckardstein nachträglich rechtfertigt.
Die Erzählung des Botschaftsrats von dem „Vorschlag einer Teilung des gesamten
türkischen Reiches zwischen England, Deutschland und Osterreich" ist ein Märchen;
seine Behauptung, daß „die Annahme dieses so genialen und weittragenden Vor-
schlages automatisch den offiziellen Beitritt Englands zum Dreibund zur Folge
gehabt hätte", entbehrt jeder Grundlage. Das angebliche Bündnisangebot Salis¬
burys entpuppt sich als Fühler seiner Orientpolitik.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339148/188>, abgerufen am 23.12.2024.