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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr.

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Islam, Naturwissenschaften und Bolschewismus

Lehrsätze den höchsten Grad von Wahrscheinlichkeit besitzen, den sich der mensch¬
liche Geist überhaupt vorstellen kann. Mit ihrer Hilfe Ivird erst der Müdschtehid
der Verfechter des Jdschtihäd, imstande sein, zu reformieren, den Wunderglauben
und dogmatische Pflichten, die den Menschen unfrei machen, zu entheiligen, sie
vielleicht mit den Lehren der Geographie, der Namenforschung oder der Hygiene
zu erklären und dann unzweckmäßige auszumerzen.

Die Mehrzahl der Muslimw wird vorläufig natürlich eine Befreiung in
obigem Sinne ablehnen, aber die Vorgänge in Rußland üben einen zu starken
revolutionären Druck aus. Die Bolschewiki versuchen ihre Weltanschauung anderen
aufzuzwingen; sie soll wissenschaftlich sein, spricht aber jeder Biologie Hohn.
Nichtsdestoweniger hat sich aus national-politischen Gründen eine Annäherung
der Mohammedaner an Moskau vollzogen. Schon 1919 bildete sich in Moskau
ein "Zentralbüro der Muslimorganisation der kommunistischen Partei der
Russischen Republik". Bekannt ist auch der Mohammedanerkongreß in Baku,
wo es allerdings zu Reibereien kam und Sinowjew den Mohammedanern ins¬
besondere wegen des Khalifats kommunistische "Unreife" vorhielt. Eingehend
wurden dann im Oktober 1920 in der Liga zur Befreiung des Islam in Angora
unter dem Vorsitz Mustafa KjemÄls die Beziehungen zu den Sowjets theoretisch
erörtert. Natürlich kann eine gewisse Radikalisierung des Islam als Folge dieser
Kompromisse uicht ausbleiben, zumal überdies die europäischen Kultureinflüsse
in ähnlicher Richtung vorarbeiten. Es ist nun Sache der'MeMÄ, darauf zu achten,
daß die Entwicklung im Sinne des Koran vor sich geht, unter dessen Voraus¬
setzung der Islam selbstverständlich nie direkt bolschewisiert werden kann. Denn
der Islam verdammt jede Schädigung von Gut und Blut und betont ganz aus¬
drücklich die Eigentumsrechte von Einzelpersonen und Gemeinschaften.

Die Reformbewegung im Islam gewinnt aber dadurch noch erhöhte Be¬
deutung, daß der heute stark zersplitterte Bau der islamischen "Kirche" durch
ein geschicktes Vorgehen der Ulema wieder einheitlich aufgebaut werden kann,
so daß dann der von allen Gegnern Englands erträumte P a n i si am is mus
ein wirklich erreichbares Ziel darstellt, und hoffentlich haben die gar zu
gern geistreichelnden Franzosen diesmal wirklich recht, wenn sie sich den Pan-
islamismus als "un ersetz: du pÄNZermanisme" an die Wand malen!




Islam, Naturwissenschaften und Bolschewismus

Lehrsätze den höchsten Grad von Wahrscheinlichkeit besitzen, den sich der mensch¬
liche Geist überhaupt vorstellen kann. Mit ihrer Hilfe Ivird erst der Müdschtehid
der Verfechter des Jdschtihäd, imstande sein, zu reformieren, den Wunderglauben
und dogmatische Pflichten, die den Menschen unfrei machen, zu entheiligen, sie
vielleicht mit den Lehren der Geographie, der Namenforschung oder der Hygiene
zu erklären und dann unzweckmäßige auszumerzen.

Die Mehrzahl der Muslimw wird vorläufig natürlich eine Befreiung in
obigem Sinne ablehnen, aber die Vorgänge in Rußland üben einen zu starken
revolutionären Druck aus. Die Bolschewiki versuchen ihre Weltanschauung anderen
aufzuzwingen; sie soll wissenschaftlich sein, spricht aber jeder Biologie Hohn.
Nichtsdestoweniger hat sich aus national-politischen Gründen eine Annäherung
der Mohammedaner an Moskau vollzogen. Schon 1919 bildete sich in Moskau
ein „Zentralbüro der Muslimorganisation der kommunistischen Partei der
Russischen Republik". Bekannt ist auch der Mohammedanerkongreß in Baku,
wo es allerdings zu Reibereien kam und Sinowjew den Mohammedanern ins¬
besondere wegen des Khalifats kommunistische „Unreife" vorhielt. Eingehend
wurden dann im Oktober 1920 in der Liga zur Befreiung des Islam in Angora
unter dem Vorsitz Mustafa KjemÄls die Beziehungen zu den Sowjets theoretisch
erörtert. Natürlich kann eine gewisse Radikalisierung des Islam als Folge dieser
Kompromisse uicht ausbleiben, zumal überdies die europäischen Kultureinflüsse
in ähnlicher Richtung vorarbeiten. Es ist nun Sache der'MeMÄ, darauf zu achten,
daß die Entwicklung im Sinne des Koran vor sich geht, unter dessen Voraus¬
setzung der Islam selbstverständlich nie direkt bolschewisiert werden kann. Denn
der Islam verdammt jede Schädigung von Gut und Blut und betont ganz aus¬
drücklich die Eigentumsrechte von Einzelpersonen und Gemeinschaften.

Die Reformbewegung im Islam gewinnt aber dadurch noch erhöhte Be¬
deutung, daß der heute stark zersplitterte Bau der islamischen „Kirche" durch
ein geschicktes Vorgehen der Ulema wieder einheitlich aufgebaut werden kann,
so daß dann der von allen Gegnern Englands erträumte P a n i si am is mus
ein wirklich erreichbares Ziel darstellt, und hoffentlich haben die gar zu
gern geistreichelnden Franzosen diesmal wirklich recht, wenn sie sich den Pan-
islamismus als „un ersetz: du pÄNZermanisme" an die Wand malen!




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[0167] Islam, Naturwissenschaften und Bolschewismus Lehrsätze den höchsten Grad von Wahrscheinlichkeit besitzen, den sich der mensch¬ liche Geist überhaupt vorstellen kann. Mit ihrer Hilfe Ivird erst der Müdschtehid der Verfechter des Jdschtihäd, imstande sein, zu reformieren, den Wunderglauben und dogmatische Pflichten, die den Menschen unfrei machen, zu entheiligen, sie vielleicht mit den Lehren der Geographie, der Namenforschung oder der Hygiene zu erklären und dann unzweckmäßige auszumerzen. Die Mehrzahl der Muslimw wird vorläufig natürlich eine Befreiung in obigem Sinne ablehnen, aber die Vorgänge in Rußland üben einen zu starken revolutionären Druck aus. Die Bolschewiki versuchen ihre Weltanschauung anderen aufzuzwingen; sie soll wissenschaftlich sein, spricht aber jeder Biologie Hohn. Nichtsdestoweniger hat sich aus national-politischen Gründen eine Annäherung der Mohammedaner an Moskau vollzogen. Schon 1919 bildete sich in Moskau ein „Zentralbüro der Muslimorganisation der kommunistischen Partei der Russischen Republik". Bekannt ist auch der Mohammedanerkongreß in Baku, wo es allerdings zu Reibereien kam und Sinowjew den Mohammedanern ins¬ besondere wegen des Khalifats kommunistische „Unreife" vorhielt. Eingehend wurden dann im Oktober 1920 in der Liga zur Befreiung des Islam in Angora unter dem Vorsitz Mustafa KjemÄls die Beziehungen zu den Sowjets theoretisch erörtert. Natürlich kann eine gewisse Radikalisierung des Islam als Folge dieser Kompromisse uicht ausbleiben, zumal überdies die europäischen Kultureinflüsse in ähnlicher Richtung vorarbeiten. Es ist nun Sache der'MeMÄ, darauf zu achten, daß die Entwicklung im Sinne des Koran vor sich geht, unter dessen Voraus¬ setzung der Islam selbstverständlich nie direkt bolschewisiert werden kann. Denn der Islam verdammt jede Schädigung von Gut und Blut und betont ganz aus¬ drücklich die Eigentumsrechte von Einzelpersonen und Gemeinschaften. Die Reformbewegung im Islam gewinnt aber dadurch noch erhöhte Be¬ deutung, daß der heute stark zersplitterte Bau der islamischen „Kirche" durch ein geschicktes Vorgehen der Ulema wieder einheitlich aufgebaut werden kann, so daß dann der von allen Gegnern Englands erträumte P a n i si am is mus ein wirklich erreichbares Ziel darstellt, und hoffentlich haben die gar zu gern geistreichelnden Franzosen diesmal wirklich recht, wenn sie sich den Pan- islamismus als „un ersetz: du pÄNZermanisme" an die Wand malen!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339148/167>, abgerufen am 23.12.2024.