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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr.

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Heimatbildung in Deutsch-Böhmen

ist; und zwar gilt das für beide Teile der Bevölkerung, die Schicht der "Gebildeten"
wie die Masse des Volkes, wenn auch in sehr verschiedener Weise.

Der Gebildete lebt in einer erdfernen abstrakten Wissenswelt; aber die
Alltagsumgebung, in die er doch auch hineingestellt ist, hat er geistig nicht durch¬
gearbeitet. So lebt er in zwei Welten, die Bildung hat ihn ins Allgemeine
erhoben; aber da er blind ist für die konkreten Einzelerscheinungen der Heimat¬
welt, hat er ihren Zusammenhang mit dem Allgemeinen, ihren geistigen Gehalt
noch nicht entdeckt. Sie ist ihm stumm uni> leblos.

Umgekehrt der Mann aus der Masse. Er ist zwar (sofern er nicht zu den
Entwurzelten gehört) in den konkreten Einzelerscheinungen der Heimatwelt zu Hause,
aber da ihm die Erhebung ins Allgemeine fehlt, so kann er die Werte, die darin
latent vorhanden sind, nicht heben; ihm fehlt der Schlüssel dazu.

So ist also die Aufgabe: den einen aus dem dumpfen Zustand des Un¬
bewußten, aus einem bildungslosen vegetativen Heimatleben durch Anschluß an
die Welt des Allgemeinen zu einer wirklichen Heimatbildung zu verhelfen, den
andern aus seiner abstrakten Welt in die Heimat zurückzuführen und ihn zur
Heimatbildung zu führen. "Die breiten Massen und die Gebildeten müssen sich
in der Heimat wieder zusammenfinden."

Der Weg ist also für beide Gruppen verschieden, das Ziel dasselbe.

Die geistige Eroberung der Heimat nun besteht darin, daß alles Wissens¬
werte und Wißbare an den Heimaterscheinungen aufgezeigt wird, daß also z. B.
jeder bemerkenswerte Baum und Strauch, jeder Berg und Hügel, jedes Bauwerk:
Burg, Schloß, Kirche und die typischen Siedlungsanlagen und Hausformen in
ihrer Stellung zum Wissenssystem bewußt werden und nach ihrem Wissenswert
bekannt sind. Überall also die Aufzeigung des Allgemeinen im Konkreter, das
Hineinstellen des einzelnen in den großen Zusammenhang. Die Erdgestaltung
der heimatlichen Landschaft erscheint als ein Ausschnitt aus der großen Geschichte
der Erdbildung, in der Geschichte des Heimatgaus spiegelt sich die große Staaten-
und Weltgeschichte, und so fort. Auf diese Weise kann die ganze Heimatwelt bis
ins Kleinste durchgeistigt und beseelt werden.

Eine ungeheure lebensvolle Mannigfaltigkeit ergibt sich hier. Denn jede
"Heimat", jede Landschaft, hat bei aller Verwandtschaft mit der Nachbar-Heimat
doch immer ihr spezifisches Eigenleben, ihr Eigengepräge. Daher ist es unmöglich
(und hiergegen wird heutzutage auch von vielen Wohlmeinenden gesündigt), etwas
als volkstümlich schlechthin zu pflegen, etwa "das" Volkslied oder "die" Volks-
tracht. Es gibt so viele Nuancen und Variationen, und es gilt, die für den
betreffenden Heimatkreis passende Form zu erkennen, die fremde Gestaltung aber
von ihm fernzuhalten. "Wir können unsere vielgestaltigen Landschaften nicht will¬
kürlich überall mit den gleichen fremderwachsenen Volksliedern überschwemmen,
mögen sie an und für sich noch so gut klingen.. . . Wir sollen das seine Gefühl
nicht überhören, ob ein Lied hereinpaßt oder nicht. Wir müssen dem boden¬
ständigen Volkslied nachspüren und dem wohl ausgewählten Lied, das sich die
natürliche Dorfsängerschaft für den Dauerbestand aneignet." Ja, selbst allgemein
verbreitete Lieder differenzieren sich doch wieder landschaftlich: "Von den Liedern,
die über ganz Deutschland verbreitet sind, finden wir viele in mehrfachen Melodien.
Und schon hat man beobachtet, wie sie etwa in rauhen ärmlichen Gegenden zu


Heimatbildung in Deutsch-Böhmen

ist; und zwar gilt das für beide Teile der Bevölkerung, die Schicht der „Gebildeten"
wie die Masse des Volkes, wenn auch in sehr verschiedener Weise.

Der Gebildete lebt in einer erdfernen abstrakten Wissenswelt; aber die
Alltagsumgebung, in die er doch auch hineingestellt ist, hat er geistig nicht durch¬
gearbeitet. So lebt er in zwei Welten, die Bildung hat ihn ins Allgemeine
erhoben; aber da er blind ist für die konkreten Einzelerscheinungen der Heimat¬
welt, hat er ihren Zusammenhang mit dem Allgemeinen, ihren geistigen Gehalt
noch nicht entdeckt. Sie ist ihm stumm uni> leblos.

Umgekehrt der Mann aus der Masse. Er ist zwar (sofern er nicht zu den
Entwurzelten gehört) in den konkreten Einzelerscheinungen der Heimatwelt zu Hause,
aber da ihm die Erhebung ins Allgemeine fehlt, so kann er die Werte, die darin
latent vorhanden sind, nicht heben; ihm fehlt der Schlüssel dazu.

So ist also die Aufgabe: den einen aus dem dumpfen Zustand des Un¬
bewußten, aus einem bildungslosen vegetativen Heimatleben durch Anschluß an
die Welt des Allgemeinen zu einer wirklichen Heimatbildung zu verhelfen, den
andern aus seiner abstrakten Welt in die Heimat zurückzuführen und ihn zur
Heimatbildung zu führen. „Die breiten Massen und die Gebildeten müssen sich
in der Heimat wieder zusammenfinden."

Der Weg ist also für beide Gruppen verschieden, das Ziel dasselbe.

Die geistige Eroberung der Heimat nun besteht darin, daß alles Wissens¬
werte und Wißbare an den Heimaterscheinungen aufgezeigt wird, daß also z. B.
jeder bemerkenswerte Baum und Strauch, jeder Berg und Hügel, jedes Bauwerk:
Burg, Schloß, Kirche und die typischen Siedlungsanlagen und Hausformen in
ihrer Stellung zum Wissenssystem bewußt werden und nach ihrem Wissenswert
bekannt sind. Überall also die Aufzeigung des Allgemeinen im Konkreter, das
Hineinstellen des einzelnen in den großen Zusammenhang. Die Erdgestaltung
der heimatlichen Landschaft erscheint als ein Ausschnitt aus der großen Geschichte
der Erdbildung, in der Geschichte des Heimatgaus spiegelt sich die große Staaten-
und Weltgeschichte, und so fort. Auf diese Weise kann die ganze Heimatwelt bis
ins Kleinste durchgeistigt und beseelt werden.

Eine ungeheure lebensvolle Mannigfaltigkeit ergibt sich hier. Denn jede
„Heimat", jede Landschaft, hat bei aller Verwandtschaft mit der Nachbar-Heimat
doch immer ihr spezifisches Eigenleben, ihr Eigengepräge. Daher ist es unmöglich
(und hiergegen wird heutzutage auch von vielen Wohlmeinenden gesündigt), etwas
als volkstümlich schlechthin zu pflegen, etwa „das" Volkslied oder „die" Volks-
tracht. Es gibt so viele Nuancen und Variationen, und es gilt, die für den
betreffenden Heimatkreis passende Form zu erkennen, die fremde Gestaltung aber
von ihm fernzuhalten. „Wir können unsere vielgestaltigen Landschaften nicht will¬
kürlich überall mit den gleichen fremderwachsenen Volksliedern überschwemmen,
mögen sie an und für sich noch so gut klingen.. . . Wir sollen das seine Gefühl
nicht überhören, ob ein Lied hereinpaßt oder nicht. Wir müssen dem boden¬
ständigen Volkslied nachspüren und dem wohl ausgewählten Lied, das sich die
natürliche Dorfsängerschaft für den Dauerbestand aneignet." Ja, selbst allgemein
verbreitete Lieder differenzieren sich doch wieder landschaftlich: „Von den Liedern,
die über ganz Deutschland verbreitet sind, finden wir viele in mehrfachen Melodien.
Und schon hat man beobachtet, wie sie etwa in rauhen ärmlichen Gegenden zu


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[0158] Heimatbildung in Deutsch-Böhmen ist; und zwar gilt das für beide Teile der Bevölkerung, die Schicht der „Gebildeten" wie die Masse des Volkes, wenn auch in sehr verschiedener Weise. Der Gebildete lebt in einer erdfernen abstrakten Wissenswelt; aber die Alltagsumgebung, in die er doch auch hineingestellt ist, hat er geistig nicht durch¬ gearbeitet. So lebt er in zwei Welten, die Bildung hat ihn ins Allgemeine erhoben; aber da er blind ist für die konkreten Einzelerscheinungen der Heimat¬ welt, hat er ihren Zusammenhang mit dem Allgemeinen, ihren geistigen Gehalt noch nicht entdeckt. Sie ist ihm stumm uni> leblos. Umgekehrt der Mann aus der Masse. Er ist zwar (sofern er nicht zu den Entwurzelten gehört) in den konkreten Einzelerscheinungen der Heimatwelt zu Hause, aber da ihm die Erhebung ins Allgemeine fehlt, so kann er die Werte, die darin latent vorhanden sind, nicht heben; ihm fehlt der Schlüssel dazu. So ist also die Aufgabe: den einen aus dem dumpfen Zustand des Un¬ bewußten, aus einem bildungslosen vegetativen Heimatleben durch Anschluß an die Welt des Allgemeinen zu einer wirklichen Heimatbildung zu verhelfen, den andern aus seiner abstrakten Welt in die Heimat zurückzuführen und ihn zur Heimatbildung zu führen. „Die breiten Massen und die Gebildeten müssen sich in der Heimat wieder zusammenfinden." Der Weg ist also für beide Gruppen verschieden, das Ziel dasselbe. Die geistige Eroberung der Heimat nun besteht darin, daß alles Wissens¬ werte und Wißbare an den Heimaterscheinungen aufgezeigt wird, daß also z. B. jeder bemerkenswerte Baum und Strauch, jeder Berg und Hügel, jedes Bauwerk: Burg, Schloß, Kirche und die typischen Siedlungsanlagen und Hausformen in ihrer Stellung zum Wissenssystem bewußt werden und nach ihrem Wissenswert bekannt sind. Überall also die Aufzeigung des Allgemeinen im Konkreter, das Hineinstellen des einzelnen in den großen Zusammenhang. Die Erdgestaltung der heimatlichen Landschaft erscheint als ein Ausschnitt aus der großen Geschichte der Erdbildung, in der Geschichte des Heimatgaus spiegelt sich die große Staaten- und Weltgeschichte, und so fort. Auf diese Weise kann die ganze Heimatwelt bis ins Kleinste durchgeistigt und beseelt werden. Eine ungeheure lebensvolle Mannigfaltigkeit ergibt sich hier. Denn jede „Heimat", jede Landschaft, hat bei aller Verwandtschaft mit der Nachbar-Heimat doch immer ihr spezifisches Eigenleben, ihr Eigengepräge. Daher ist es unmöglich (und hiergegen wird heutzutage auch von vielen Wohlmeinenden gesündigt), etwas als volkstümlich schlechthin zu pflegen, etwa „das" Volkslied oder „die" Volks- tracht. Es gibt so viele Nuancen und Variationen, und es gilt, die für den betreffenden Heimatkreis passende Form zu erkennen, die fremde Gestaltung aber von ihm fernzuhalten. „Wir können unsere vielgestaltigen Landschaften nicht will¬ kürlich überall mit den gleichen fremderwachsenen Volksliedern überschwemmen, mögen sie an und für sich noch so gut klingen.. . . Wir sollen das seine Gefühl nicht überhören, ob ein Lied hereinpaßt oder nicht. Wir müssen dem boden¬ ständigen Volkslied nachspüren und dem wohl ausgewählten Lied, das sich die natürliche Dorfsängerschaft für den Dauerbestand aneignet." Ja, selbst allgemein verbreitete Lieder differenzieren sich doch wieder landschaftlich: „Von den Liedern, die über ganz Deutschland verbreitet sind, finden wir viele in mehrfachen Melodien. Und schon hat man beobachtet, wie sie etwa in rauhen ärmlichen Gegenden zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339148/158>, abgerufen am 23.12.2024.