Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr.Erzberger und kein Lüde Kein Wunder, daß darob in der Zentrumspartei eine Krisis ausbrach. Der Und so kam es am M. Juni zu jener Reichsansschuß-Sitzung, von der Es kam ganz anders. Erzberger hatte sich auf die Sitzung großzügig vor¬ Erzberger und kein Lüde Kein Wunder, daß darob in der Zentrumspartei eine Krisis ausbrach. Der Und so kam es am M. Juni zu jener Reichsansschuß-Sitzung, von der Es kam ganz anders. Erzberger hatte sich auf die Sitzung großzügig vor¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0110" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/339259"/> <fw type="header" place="top"> Erzberger und kein Lüde</fw><lb/> <p xml:id="ID_365"> Kein Wunder, daß darob in der Zentrumspartei eine Krisis ausbrach. Der<lb/> Reichskanzler Fehrenbach erklärte in seiner allerdings nur persönlich zugespitzten<lb/> Wut, daß er mit Erzberger niemals mehr an einem Tisch sitzen würde. Die<lb/> „Kölnische Volkszeitung", die ihren Feind aus dem Jahre 1917 seit Leraumex<lb/> Zeit nichr wie schonend behandelt hatte, veröffentlichte einen Redaktionsartikel<lb/> gegen ihn, der mit den Worten schloß: Es müßte baldigst Klarheit geschaffen,<lb/> werden, je länger man die Dinge laufen ließe, desto schlimmer würden sie. Die<lb/> „Essener Volkszeitung" ward noch deutlicher. Der Artikel klang in den Ruf ans:<lb/> Hinweg mit ihm! Auch das Dortmunder Zentrumsorgan, die „Tremonia", dessen<lb/> Verleger, Herr Lensing, in der Organisation der Zentrumspresse führender<lb/> Mann ist, ließ einen Alarmruf ertönen. Er bezeichnete die Politik Erzbergers<lb/> schlankweg als einen Stoß ins Herz des Zentrums. Auch die Zentrumspresse in<lb/> Münster (Westfalen) rief zum Kampf wider Erzberger auf. Die „Augsburger Post-<lb/> zeitung" nahm öffentlich gegen ihn Stellung. Selbst die „Germania" schwenkte<lb/> ein, bemühte sich in einen: Interview um Stcgerwald und druckte ohne Kommen¬<lb/> tar Stcgerwalds Erklärungen gegen Erzbergers Friedenspolitik vom Jahre 1917<lb/> und die noch deutlichere Erklärung gegen Erzbergers Linkskurs in der Frage der<lb/> Umbildung des Preußenkabinetts ab. Der Arbeitsminister Dr. Brauns drängte<lb/> mit Macht auf Entscheidung. Und die Presseorganisation des Zentrums, der<lb/> Augustinusverein, verlangte nicht minder kategorisch eine endgültige Klärung.</p><lb/> <p xml:id="ID_366"> Und so kam es am M. Juni zu jener Reichsansschuß-Sitzung, von der<lb/> eingangs die Rede war. Nach der Fanfare, eine Chamade. Das „Hinweg mit<lb/> ihm" der „Essener Volkszeitung" verstummte. Das Zentrum ließ sich den Stoß ins<lb/> Herz, von dem die „Tremonia" gesprochen hatte, wie ein Leichnam gefallen.<lb/> Optimistische Gegner Erzbergers hatten vorher freudestrahlend verkündet, daß<lb/> 80 Prozent der Mitglieder des Reichsausschusses Gegner Erzbergers seien und mit<lb/> ihm gehörig umspringen würden. Man konnte auch vielfach vorher die These ver¬<lb/> nehmen, daß der Beschluß des Reichsaussckusses gegen Erzbi rger schon im voraus fest¬<lb/> gelegt worden sei, daß die Sitzung vom 29. Juni nur eine Formsache werden würde.</p><lb/> <p xml:id="ID_367" next="#ID_368"> Es kam ganz anders. Erzberger hatte sich auf die Sitzung großzügig vor¬<lb/> bereitet. Mit seinem Rechtsanwalt hatte er Wege ausfindig gemacht, um zu er¬<lb/> reichen, daß die Gerichtserklärung über die Einstellung des Meincidsverfahrens<lb/> zu geeigneter Zeit bekannt wurde. Als überraschende Neuigkeit sollte sie am<lb/> 29. Juni in der Neichsausschuß-Sitzung verkündet werden. Erzberger ist Massen¬<lb/> psychologe aus Instinkt. Er weiß, daß eine Parlamentsmasse oder eine Fraktions¬<lb/> masse sich von einer Volksversammlungsmasse psychosisch keineswegs unterscheidet.<lb/> Vielleicht weiß er es auch nicht. Aber er handelt aus einem richtigen Instinkt, als<lb/> ob er es wüßte. Die Gerichtserklärung mußte jedenfalls massenpsychologisch<lb/> Wunder wirken. Seine eigenen Anhänger konnten darob in Verzückung geraten.<lb/> Aus der Defensive durften sie zur Offensive übergehen. Er selbst wollte mit der<lb/> Gloriole des „Unschuldigen" die dicke Lust des in Moabit um ihn gelegten<lb/> Gerichtsurteils wie eine 'Sonne durchbrechen. Wunderbar! Erzberger hatte auch<lb/> dafür gesorgt, daß der Reichskanzler Wirth in seiner Front aufmarschierte.<lb/> Wenige Tage vorher hatte er sich mit ihm geheimnisvoll getroffen (geheimnisvoll<lb/> deswegen, weil der Reichskanzler Wirth urbi et orbi verkündet, daß er mit Erz¬<lb/> berger gar nichts, aber auch gar nichts zu tun Habe!). In jener Zusammenkunft</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0110]
Erzberger und kein Lüde
Kein Wunder, daß darob in der Zentrumspartei eine Krisis ausbrach. Der
Reichskanzler Fehrenbach erklärte in seiner allerdings nur persönlich zugespitzten
Wut, daß er mit Erzberger niemals mehr an einem Tisch sitzen würde. Die
„Kölnische Volkszeitung", die ihren Feind aus dem Jahre 1917 seit Leraumex
Zeit nichr wie schonend behandelt hatte, veröffentlichte einen Redaktionsartikel
gegen ihn, der mit den Worten schloß: Es müßte baldigst Klarheit geschaffen,
werden, je länger man die Dinge laufen ließe, desto schlimmer würden sie. Die
„Essener Volkszeitung" ward noch deutlicher. Der Artikel klang in den Ruf ans:
Hinweg mit ihm! Auch das Dortmunder Zentrumsorgan, die „Tremonia", dessen
Verleger, Herr Lensing, in der Organisation der Zentrumspresse führender
Mann ist, ließ einen Alarmruf ertönen. Er bezeichnete die Politik Erzbergers
schlankweg als einen Stoß ins Herz des Zentrums. Auch die Zentrumspresse in
Münster (Westfalen) rief zum Kampf wider Erzberger auf. Die „Augsburger Post-
zeitung" nahm öffentlich gegen ihn Stellung. Selbst die „Germania" schwenkte
ein, bemühte sich in einen: Interview um Stcgerwald und druckte ohne Kommen¬
tar Stcgerwalds Erklärungen gegen Erzbergers Friedenspolitik vom Jahre 1917
und die noch deutlichere Erklärung gegen Erzbergers Linkskurs in der Frage der
Umbildung des Preußenkabinetts ab. Der Arbeitsminister Dr. Brauns drängte
mit Macht auf Entscheidung. Und die Presseorganisation des Zentrums, der
Augustinusverein, verlangte nicht minder kategorisch eine endgültige Klärung.
Und so kam es am M. Juni zu jener Reichsansschuß-Sitzung, von der
eingangs die Rede war. Nach der Fanfare, eine Chamade. Das „Hinweg mit
ihm" der „Essener Volkszeitung" verstummte. Das Zentrum ließ sich den Stoß ins
Herz, von dem die „Tremonia" gesprochen hatte, wie ein Leichnam gefallen.
Optimistische Gegner Erzbergers hatten vorher freudestrahlend verkündet, daß
80 Prozent der Mitglieder des Reichsausschusses Gegner Erzbergers seien und mit
ihm gehörig umspringen würden. Man konnte auch vielfach vorher die These ver¬
nehmen, daß der Beschluß des Reichsaussckusses gegen Erzbi rger schon im voraus fest¬
gelegt worden sei, daß die Sitzung vom 29. Juni nur eine Formsache werden würde.
Es kam ganz anders. Erzberger hatte sich auf die Sitzung großzügig vor¬
bereitet. Mit seinem Rechtsanwalt hatte er Wege ausfindig gemacht, um zu er¬
reichen, daß die Gerichtserklärung über die Einstellung des Meincidsverfahrens
zu geeigneter Zeit bekannt wurde. Als überraschende Neuigkeit sollte sie am
29. Juni in der Neichsausschuß-Sitzung verkündet werden. Erzberger ist Massen¬
psychologe aus Instinkt. Er weiß, daß eine Parlamentsmasse oder eine Fraktions¬
masse sich von einer Volksversammlungsmasse psychosisch keineswegs unterscheidet.
Vielleicht weiß er es auch nicht. Aber er handelt aus einem richtigen Instinkt, als
ob er es wüßte. Die Gerichtserklärung mußte jedenfalls massenpsychologisch
Wunder wirken. Seine eigenen Anhänger konnten darob in Verzückung geraten.
Aus der Defensive durften sie zur Offensive übergehen. Er selbst wollte mit der
Gloriole des „Unschuldigen" die dicke Lust des in Moabit um ihn gelegten
Gerichtsurteils wie eine 'Sonne durchbrechen. Wunderbar! Erzberger hatte auch
dafür gesorgt, daß der Reichskanzler Wirth in seiner Front aufmarschierte.
Wenige Tage vorher hatte er sich mit ihm geheimnisvoll getroffen (geheimnisvoll
deswegen, weil der Reichskanzler Wirth urbi et orbi verkündet, daß er mit Erz¬
berger gar nichts, aber auch gar nichts zu tun Habe!). In jener Zusammenkunft
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