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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Zweites Vierteljahr.

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Artikel IX des Abkommens mit sehr gemischten Gefühlen aufnehmen mußte, durste
nicht mucksen, da man im Augenblick die Unterstützung Llod Georges bei Durch¬
führung der "Sanktionen" braucht, die vom 1. Mai ab in ganz großem Stile
angewandt werden sollen. Die englischen Gegner des Abkommens, die Konser¬
vativen und die Northcliffepresse, konnten sich also nicht auf den Unwillen der
Bundesgenossen berufen und den Arbeitern, die, wenn sie auch von den Idealen
der Moskaner Internationale nicht allzu viel wissen wollen, auf der Aussöhnung
mit Rußland wie auf einem Glaubensartikel bestanden, wurde mit Abschluß des
Abkommens viel Propagandawind aus den Segeln genommen. Den auf diese
Weise gewonnenen taktischen Erfolg hat Llvhd George dann, ohne Zweifel auch
unter dein für das Weiterbestehen der Koalition sehr bedrohlichen Rücktritt Bonar
Laws, sogleich ausgenutzt durch seine große Rede gegen die Labour Party durch
die er sich zwar die Torys nicht versöhnte, den unabhängigen Liberalen aber jede
Sondereristenzberechtigung nahm. Auch hier hat man wieder von der schillernden
Unzuverlässigkeit des' englische": Premiers gesprochen. Es kommt aber Llvhd
George, dessen staatsmännische Qualitäten nicht überschätzt werden sollen, dessen
Geschicklichkeit aber unbestreitbar ist, nicht darauf an, als ein Mann von unverrück¬
baren Grundsätzen zu gelten, sondern sichtlich vor allem darauf, seinem Lande,
dessen Parteiverhältnisse infolge des Krieges zerrüttet sind, möglichst lange eine
möglichst starke und aktivnssiihige Regierung zu erhalten. Klarsichtige Politiker
in England wissen denn auch ganz genau, daß man mit Llohd George in sehr
vielen Punkten unzufrieden sein kann, daß er und die Koalition oder doch irgend¬
eine koalitionierte starke Mehrheit gegenwärtig, zumal solange das irische Problem
noch nicht gelöst ist, immer noch das kleinere Übel darstellt. Immer noch kommen
bald die Schutzzöllner (durch die KVProzentige Ausfuhrtaxe), bald die Unionisten,
bald die Koalitionslibcralen, bald die Arbeiter irgendwie auf ihre Kosten, und
trotz aller Schwierigkeiten der inneren und äußeren Lage erscheint die Position
Lloyd Georges, gerade infolge seiner erstaunlichen Elastizität, noch immer als
sehr sicher.

An dem gleichen 16. März, an dem das englisch-russische Abkommen unter¬
zeichnet wurde, hatten die Russen noch einen anderen großen Erfolg zu verzeichnen:
das Abkommen mit den Kemalisten, das eine Art Schutz- und Trutzbündnis
darstellt. Beide Teile verpflichten sich, keinerlei internationales Abkommen anzu¬
nehmen, das einem von ihnen mit Gewalt aufgedrängt wird, sowie ans ihrem
Gebiet die Bildung keiner Formation zuzulassen, die Anspruch macht, das Land
des Partners zu regieren oder zu bekämpfen. Mit anderen Worten, Rußland
verspricht den Türken Beistand in der Konstantinopelfrage und die Türkei lehnt
es ab, sich von Frankreich im Kaukasus als Vormacht gegen Nußland gebrauchen
zu lassen. Die Leidtragenden sind zunächst die Franzosen, die gehofft hatten, die
in London geschlossene Waffenruhe an der nordsyrischen Front zu einem Bündnis
gegen Nußland ausbauen zu können, in Tiflis aber von einer sowjctistischen
Revolution überrascht wurden und nun auch Batna haben räumen müssen, das
Georgien bleibt, aber weitgehende lokale Autonomie zugunsten der Türken be¬
kommen soll, die sich auch des größten Teils von Armenien wieder bemächtigt
haben. Den Engländern aber ist die in London so jäh hervorgetreten" französische
Türkenfreundschaft, verbunden mit dein Eintreten der Franzosen für ein autonomes,
den Bulgaren Zugang zum ägäischen Meer ermöglichendes Thrazien, und der
Besorgnis vor den noch immer in Stärke von 45 000 Mann in nächster Nähe
von Konstantinopel lagernden mit Frankreich Verbündeten, wenn auch offiziell
jetzt aufgegebenen Wrangeltruppen unheimlich geworden, weshalb man denn
den griechischen Widerstand gegen die in London vorgeschlagene Revision des
Vertrages von Sevres unter der Hand gern ermutigt haben wird, um zunächst
einmal die Hoffnungen der in London gar zu einig aufgetretenen Türken etwas
hinabzudrücken, was angesichts der großen Anfangserfolge'der griechischen Offensive
ur auch zu gelingen scheint. Das nächste wird sein, daß England die armenische
Frage benutzen wird, um Bolschewisten und Türken wieder auseinanderzusprengen,


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Artikel IX des Abkommens mit sehr gemischten Gefühlen aufnehmen mußte, durste
nicht mucksen, da man im Augenblick die Unterstützung Llod Georges bei Durch¬
führung der „Sanktionen" braucht, die vom 1. Mai ab in ganz großem Stile
angewandt werden sollen. Die englischen Gegner des Abkommens, die Konser¬
vativen und die Northcliffepresse, konnten sich also nicht auf den Unwillen der
Bundesgenossen berufen und den Arbeitern, die, wenn sie auch von den Idealen
der Moskaner Internationale nicht allzu viel wissen wollen, auf der Aussöhnung
mit Rußland wie auf einem Glaubensartikel bestanden, wurde mit Abschluß des
Abkommens viel Propagandawind aus den Segeln genommen. Den auf diese
Weise gewonnenen taktischen Erfolg hat Llvhd George dann, ohne Zweifel auch
unter dein für das Weiterbestehen der Koalition sehr bedrohlichen Rücktritt Bonar
Laws, sogleich ausgenutzt durch seine große Rede gegen die Labour Party durch
die er sich zwar die Torys nicht versöhnte, den unabhängigen Liberalen aber jede
Sondereristenzberechtigung nahm. Auch hier hat man wieder von der schillernden
Unzuverlässigkeit des' englische«: Premiers gesprochen. Es kommt aber Llvhd
George, dessen staatsmännische Qualitäten nicht überschätzt werden sollen, dessen
Geschicklichkeit aber unbestreitbar ist, nicht darauf an, als ein Mann von unverrück¬
baren Grundsätzen zu gelten, sondern sichtlich vor allem darauf, seinem Lande,
dessen Parteiverhältnisse infolge des Krieges zerrüttet sind, möglichst lange eine
möglichst starke und aktivnssiihige Regierung zu erhalten. Klarsichtige Politiker
in England wissen denn auch ganz genau, daß man mit Llohd George in sehr
vielen Punkten unzufrieden sein kann, daß er und die Koalition oder doch irgend¬
eine koalitionierte starke Mehrheit gegenwärtig, zumal solange das irische Problem
noch nicht gelöst ist, immer noch das kleinere Übel darstellt. Immer noch kommen
bald die Schutzzöllner (durch die KVProzentige Ausfuhrtaxe), bald die Unionisten,
bald die Koalitionslibcralen, bald die Arbeiter irgendwie auf ihre Kosten, und
trotz aller Schwierigkeiten der inneren und äußeren Lage erscheint die Position
Lloyd Georges, gerade infolge seiner erstaunlichen Elastizität, noch immer als
sehr sicher.

An dem gleichen 16. März, an dem das englisch-russische Abkommen unter¬
zeichnet wurde, hatten die Russen noch einen anderen großen Erfolg zu verzeichnen:
das Abkommen mit den Kemalisten, das eine Art Schutz- und Trutzbündnis
darstellt. Beide Teile verpflichten sich, keinerlei internationales Abkommen anzu¬
nehmen, das einem von ihnen mit Gewalt aufgedrängt wird, sowie ans ihrem
Gebiet die Bildung keiner Formation zuzulassen, die Anspruch macht, das Land
des Partners zu regieren oder zu bekämpfen. Mit anderen Worten, Rußland
verspricht den Türken Beistand in der Konstantinopelfrage und die Türkei lehnt
es ab, sich von Frankreich im Kaukasus als Vormacht gegen Nußland gebrauchen
zu lassen. Die Leidtragenden sind zunächst die Franzosen, die gehofft hatten, die
in London geschlossene Waffenruhe an der nordsyrischen Front zu einem Bündnis
gegen Nußland ausbauen zu können, in Tiflis aber von einer sowjctistischen
Revolution überrascht wurden und nun auch Batna haben räumen müssen, das
Georgien bleibt, aber weitgehende lokale Autonomie zugunsten der Türken be¬
kommen soll, die sich auch des größten Teils von Armenien wieder bemächtigt
haben. Den Engländern aber ist die in London so jäh hervorgetreten« französische
Türkenfreundschaft, verbunden mit dein Eintreten der Franzosen für ein autonomes,
den Bulgaren Zugang zum ägäischen Meer ermöglichendes Thrazien, und der
Besorgnis vor den noch immer in Stärke von 45 000 Mann in nächster Nähe
von Konstantinopel lagernden mit Frankreich Verbündeten, wenn auch offiziell
jetzt aufgegebenen Wrangeltruppen unheimlich geworden, weshalb man denn
den griechischen Widerstand gegen die in London vorgeschlagene Revision des
Vertrages von Sevres unter der Hand gern ermutigt haben wird, um zunächst
einmal die Hoffnungen der in London gar zu einig aufgetretenen Türken etwas
hinabzudrücken, was angesichts der großen Anfangserfolge'der griechischen Offensive
ur auch zu gelingen scheint. Das nächste wird sein, daß England die armenische
Frage benutzen wird, um Bolschewisten und Türken wieder auseinanderzusprengen,


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[0046] Wvltspiegel Artikel IX des Abkommens mit sehr gemischten Gefühlen aufnehmen mußte, durste nicht mucksen, da man im Augenblick die Unterstützung Llod Georges bei Durch¬ führung der „Sanktionen" braucht, die vom 1. Mai ab in ganz großem Stile angewandt werden sollen. Die englischen Gegner des Abkommens, die Konser¬ vativen und die Northcliffepresse, konnten sich also nicht auf den Unwillen der Bundesgenossen berufen und den Arbeitern, die, wenn sie auch von den Idealen der Moskaner Internationale nicht allzu viel wissen wollen, auf der Aussöhnung mit Rußland wie auf einem Glaubensartikel bestanden, wurde mit Abschluß des Abkommens viel Propagandawind aus den Segeln genommen. Den auf diese Weise gewonnenen taktischen Erfolg hat Llvhd George dann, ohne Zweifel auch unter dein für das Weiterbestehen der Koalition sehr bedrohlichen Rücktritt Bonar Laws, sogleich ausgenutzt durch seine große Rede gegen die Labour Party durch die er sich zwar die Torys nicht versöhnte, den unabhängigen Liberalen aber jede Sondereristenzberechtigung nahm. Auch hier hat man wieder von der schillernden Unzuverlässigkeit des' englische«: Premiers gesprochen. Es kommt aber Llvhd George, dessen staatsmännische Qualitäten nicht überschätzt werden sollen, dessen Geschicklichkeit aber unbestreitbar ist, nicht darauf an, als ein Mann von unverrück¬ baren Grundsätzen zu gelten, sondern sichtlich vor allem darauf, seinem Lande, dessen Parteiverhältnisse infolge des Krieges zerrüttet sind, möglichst lange eine möglichst starke und aktivnssiihige Regierung zu erhalten. Klarsichtige Politiker in England wissen denn auch ganz genau, daß man mit Llohd George in sehr vielen Punkten unzufrieden sein kann, daß er und die Koalition oder doch irgend¬ eine koalitionierte starke Mehrheit gegenwärtig, zumal solange das irische Problem noch nicht gelöst ist, immer noch das kleinere Übel darstellt. Immer noch kommen bald die Schutzzöllner (durch die KVProzentige Ausfuhrtaxe), bald die Unionisten, bald die Koalitionslibcralen, bald die Arbeiter irgendwie auf ihre Kosten, und trotz aller Schwierigkeiten der inneren und äußeren Lage erscheint die Position Lloyd Georges, gerade infolge seiner erstaunlichen Elastizität, noch immer als sehr sicher. An dem gleichen 16. März, an dem das englisch-russische Abkommen unter¬ zeichnet wurde, hatten die Russen noch einen anderen großen Erfolg zu verzeichnen: das Abkommen mit den Kemalisten, das eine Art Schutz- und Trutzbündnis darstellt. Beide Teile verpflichten sich, keinerlei internationales Abkommen anzu¬ nehmen, das einem von ihnen mit Gewalt aufgedrängt wird, sowie ans ihrem Gebiet die Bildung keiner Formation zuzulassen, die Anspruch macht, das Land des Partners zu regieren oder zu bekämpfen. Mit anderen Worten, Rußland verspricht den Türken Beistand in der Konstantinopelfrage und die Türkei lehnt es ab, sich von Frankreich im Kaukasus als Vormacht gegen Nußland gebrauchen zu lassen. Die Leidtragenden sind zunächst die Franzosen, die gehofft hatten, die in London geschlossene Waffenruhe an der nordsyrischen Front zu einem Bündnis gegen Nußland ausbauen zu können, in Tiflis aber von einer sowjctistischen Revolution überrascht wurden und nun auch Batna haben räumen müssen, das Georgien bleibt, aber weitgehende lokale Autonomie zugunsten der Türken be¬ kommen soll, die sich auch des größten Teils von Armenien wieder bemächtigt haben. Den Engländern aber ist die in London so jäh hervorgetreten« französische Türkenfreundschaft, verbunden mit dein Eintreten der Franzosen für ein autonomes, den Bulgaren Zugang zum ägäischen Meer ermöglichendes Thrazien, und der Besorgnis vor den noch immer in Stärke von 45 000 Mann in nächster Nähe von Konstantinopel lagernden mit Frankreich Verbündeten, wenn auch offiziell jetzt aufgegebenen Wrangeltruppen unheimlich geworden, weshalb man denn den griechischen Widerstand gegen die in London vorgeschlagene Revision des Vertrages von Sevres unter der Hand gern ermutigt haben wird, um zunächst einmal die Hoffnungen der in London gar zu einig aufgetretenen Türken etwas hinabzudrücken, was angesichts der großen Anfangserfolge'der griechischen Offensive ur auch zu gelingen scheint. Das nächste wird sein, daß England die armenische Frage benutzen wird, um Bolschewisten und Türken wieder auseinanderzusprengen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_338800/46>, abgerufen am 27.11.2024.