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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Zweites Vierteljahr.

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Romain Rolland

brechen" 1871 an dem elsässischen Volke begangen worden sei. Und der Musiker
sieht das deutsche Unrecht ein. Einsichtsvoll bemerkt Rolland, "ein anständiger
Deutscher beweist in einer Auseinandersetzung eine Ehrlichkeit, die die leiden¬
schaftliche Eigenliebe eines Lateiners, so aufrichtig dieser auch sein mag, nicht
immer aufbringt" und bekennt, daß Frankreich im Siege auch nicht maßvoller
gewesen sein würde. Er weiß, daß das Beste der europäischen Zivilisation ver¬
loren geht, wenn der "brudermörderische Zwist zwischen den beiden Nationen,
die mehr als alle dazu geschaffen sind, sich zu verständigen", von neuem aus¬
bricht, aber er behauptet, daß es Frankreichs Rolle sei, das Versuchsfeld für den
menschlichen Fortschritt abzugeben, und daß alle neuen Ideen, um zu blühen, mit
Frankreichs Blut getränkt sein müssen. Die Größe der "beiden feindlichen Über¬
zeugungen" müsse früher oder später einmal miteinander in Kampf geraten.

In der sozialistischen Bewegung sieht er neben dem ihm widerwärtigen
"bürgerlichen, feilschenden, friedensseligen" Sozialismus der Engländer die großen
Revolutionäre, welche die tragische Vorstellung eines Weltalls, das von be¬
ständigen Opfern lebt, hegen. "Ihr berauschter Pessimismus, ihre heldenhafte
Lebensraserei, ihr begeisterter Glaube an den Krieg (welchen?) und den Opfermut
glichen dem soldatischen und religiösen Ideal eines deutschen Ritterordens." In
Frankreich beherrsche der Kampf für die Vernunft alle anderen Bedürfnisse;
"wenige Kämpfe ehren das Leben mehr als die ewige Schlacht, die Frankreich
für oder gegen die Vernunft ausgefochten hat."

Neben dieser Auslese der Erhabenen lebt das Volk sorglos dahin, sich nicht
um die Marktschreierei der politischen Schaumschläger kümmernd. Die Erde ist
es, die den Franzosen an Frankreich fesselt. Der einzelne, der sich in seine
Parzelle abschließt, ist einsam, aber beständig. Die Juden möchte Rolland nicht
ausgewiesen sehen; sie sind oft fast die einzigen, mit denen man ein freies Wort
sprechen kann; sie sind im heutigen Europa die zähesten Agenten alles Guten,
aber auch alles Bösen, denn sie befördern aufs Geratewohl den Samen des
Gedankens; unsere kranke Kultur würde verkümmern, wenn man einen ihrer
lebendigsten Zweige abschnitte.

So treffen wir überall auf geistreiche, vorurteilsfreie Gedanken. Ein auf¬
richtiger höchst gebildeter, die Aufgaben seines Volkes fest ins Auge fassender
Franzose spricht zu uns. Manche der Urteile über seine Landsleute sind durch
den Gang des Weltenschicksals als unrichtig erwiesen worden, trotzdem muß man
sagen, daß hier ein Bild Frankreichs entrollt worden ist, das man hätte lieben
können, wenn es sich so bewährt hätte, wie Rolland wohl annahm.




Romain Rolland

brechen" 1871 an dem elsässischen Volke begangen worden sei. Und der Musiker
sieht das deutsche Unrecht ein. Einsichtsvoll bemerkt Rolland, „ein anständiger
Deutscher beweist in einer Auseinandersetzung eine Ehrlichkeit, die die leiden¬
schaftliche Eigenliebe eines Lateiners, so aufrichtig dieser auch sein mag, nicht
immer aufbringt" und bekennt, daß Frankreich im Siege auch nicht maßvoller
gewesen sein würde. Er weiß, daß das Beste der europäischen Zivilisation ver¬
loren geht, wenn der „brudermörderische Zwist zwischen den beiden Nationen,
die mehr als alle dazu geschaffen sind, sich zu verständigen", von neuem aus¬
bricht, aber er behauptet, daß es Frankreichs Rolle sei, das Versuchsfeld für den
menschlichen Fortschritt abzugeben, und daß alle neuen Ideen, um zu blühen, mit
Frankreichs Blut getränkt sein müssen. Die Größe der „beiden feindlichen Über¬
zeugungen" müsse früher oder später einmal miteinander in Kampf geraten.

In der sozialistischen Bewegung sieht er neben dem ihm widerwärtigen
„bürgerlichen, feilschenden, friedensseligen" Sozialismus der Engländer die großen
Revolutionäre, welche die tragische Vorstellung eines Weltalls, das von be¬
ständigen Opfern lebt, hegen. „Ihr berauschter Pessimismus, ihre heldenhafte
Lebensraserei, ihr begeisterter Glaube an den Krieg (welchen?) und den Opfermut
glichen dem soldatischen und religiösen Ideal eines deutschen Ritterordens." In
Frankreich beherrsche der Kampf für die Vernunft alle anderen Bedürfnisse;
„wenige Kämpfe ehren das Leben mehr als die ewige Schlacht, die Frankreich
für oder gegen die Vernunft ausgefochten hat."

Neben dieser Auslese der Erhabenen lebt das Volk sorglos dahin, sich nicht
um die Marktschreierei der politischen Schaumschläger kümmernd. Die Erde ist
es, die den Franzosen an Frankreich fesselt. Der einzelne, der sich in seine
Parzelle abschließt, ist einsam, aber beständig. Die Juden möchte Rolland nicht
ausgewiesen sehen; sie sind oft fast die einzigen, mit denen man ein freies Wort
sprechen kann; sie sind im heutigen Europa die zähesten Agenten alles Guten,
aber auch alles Bösen, denn sie befördern aufs Geratewohl den Samen des
Gedankens; unsere kranke Kultur würde verkümmern, wenn man einen ihrer
lebendigsten Zweige abschnitte.

So treffen wir überall auf geistreiche, vorurteilsfreie Gedanken. Ein auf¬
richtiger höchst gebildeter, die Aufgaben seines Volkes fest ins Auge fassender
Franzose spricht zu uns. Manche der Urteile über seine Landsleute sind durch
den Gang des Weltenschicksals als unrichtig erwiesen worden, trotzdem muß man
sagen, daß hier ein Bild Frankreichs entrollt worden ist, das man hätte lieben
können, wenn es sich so bewährt hätte, wie Rolland wohl annahm.




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[0285] Romain Rolland brechen" 1871 an dem elsässischen Volke begangen worden sei. Und der Musiker sieht das deutsche Unrecht ein. Einsichtsvoll bemerkt Rolland, „ein anständiger Deutscher beweist in einer Auseinandersetzung eine Ehrlichkeit, die die leiden¬ schaftliche Eigenliebe eines Lateiners, so aufrichtig dieser auch sein mag, nicht immer aufbringt" und bekennt, daß Frankreich im Siege auch nicht maßvoller gewesen sein würde. Er weiß, daß das Beste der europäischen Zivilisation ver¬ loren geht, wenn der „brudermörderische Zwist zwischen den beiden Nationen, die mehr als alle dazu geschaffen sind, sich zu verständigen", von neuem aus¬ bricht, aber er behauptet, daß es Frankreichs Rolle sei, das Versuchsfeld für den menschlichen Fortschritt abzugeben, und daß alle neuen Ideen, um zu blühen, mit Frankreichs Blut getränkt sein müssen. Die Größe der „beiden feindlichen Über¬ zeugungen" müsse früher oder später einmal miteinander in Kampf geraten. In der sozialistischen Bewegung sieht er neben dem ihm widerwärtigen „bürgerlichen, feilschenden, friedensseligen" Sozialismus der Engländer die großen Revolutionäre, welche die tragische Vorstellung eines Weltalls, das von be¬ ständigen Opfern lebt, hegen. „Ihr berauschter Pessimismus, ihre heldenhafte Lebensraserei, ihr begeisterter Glaube an den Krieg (welchen?) und den Opfermut glichen dem soldatischen und religiösen Ideal eines deutschen Ritterordens." In Frankreich beherrsche der Kampf für die Vernunft alle anderen Bedürfnisse; „wenige Kämpfe ehren das Leben mehr als die ewige Schlacht, die Frankreich für oder gegen die Vernunft ausgefochten hat." Neben dieser Auslese der Erhabenen lebt das Volk sorglos dahin, sich nicht um die Marktschreierei der politischen Schaumschläger kümmernd. Die Erde ist es, die den Franzosen an Frankreich fesselt. Der einzelne, der sich in seine Parzelle abschließt, ist einsam, aber beständig. Die Juden möchte Rolland nicht ausgewiesen sehen; sie sind oft fast die einzigen, mit denen man ein freies Wort sprechen kann; sie sind im heutigen Europa die zähesten Agenten alles Guten, aber auch alles Bösen, denn sie befördern aufs Geratewohl den Samen des Gedankens; unsere kranke Kultur würde verkümmern, wenn man einen ihrer lebendigsten Zweige abschnitte. So treffen wir überall auf geistreiche, vorurteilsfreie Gedanken. Ein auf¬ richtiger höchst gebildeter, die Aufgaben seines Volkes fest ins Auge fassender Franzose spricht zu uns. Manche der Urteile über seine Landsleute sind durch den Gang des Weltenschicksals als unrichtig erwiesen worden, trotzdem muß man sagen, daß hier ein Bild Frankreichs entrollt worden ist, das man hätte lieben können, wenn es sich so bewährt hätte, wie Rolland wohl annahm.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_338800/285>, abgerufen am 23.11.2024.