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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Zweites Vierteljahr.

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Stätten der deutschen Sage

Eines der schönsten Beispiele vom wahren Kern vieler Sagen ist der Fund im
"Königsgrabhügel" von Seddin in der westlichen Prignitz:

Seit alters erzählte das Volk, daß in jenem (auffallenden) Hügel ein König
mit seinem Roß begraben liege -- und zwar in einem goldenen Sarge, der
wieder in einem tönernen Sarge stehe. Im Jahre 1900 endlich begann man
unter Leitung der Professoren. Friedel und Kiekebusch mit der Ausgrabung und
fand in der Tat, wenn auch keine Särge, so doch ein großes Tongefäß in der
Grabkammer und in diesem Gefäß ein sehr fein ausgeführtes Bronzegesäß, welches
die Brandreste und Schmuckbeigaben eines vorzeitlichen Fürsten nebst seinem Reit¬
pferd enthielt.

Ähnliche Sagen haben ähnliche Funde in Menge bestätigt; so sind Berichte
der Altvorderen durch mehrere Jahrtausende von Mund zu Mund bis auf unsere
Tage gelangt. Aber wie viele andere reiche Depotfunde mögen für immer ver¬
borgen bleiben, nur weil der einzige Mann, der um sie wußte, ins Grab sank,
ehe er es anderen weitergeben konnte. Andererseits sind wieder großartige Funde
gemacht worden, von denen keine Sage etwas meldete; so zum Beispiel der
große Hildesheimer Silberschatz, eine ganze Reihe römischer Gesäße von höchster
technischer und künstlerischer Vollendung, der durch Alter und Fundort beweist,
daß er aus den Zeiten des Varus und Armin stammt.

Die Phantasie vergrößerte die kleine Wirklichkeit; das "Jägerlatein" und
das "Seemannsgarn" zeigen den Weg. wie Märchen entstanden, um die angeblich
geschehenen und erlebten Dinge, die die bewundernd lauschenden Hörer
doch nicht nachprüfen konntenl

Seit den Tagen der ersten Heidenbekehrer ist unsäglich vieles zerstört, erstickt
und ausgerottet worden an Überlieferungen, Gebräuchen und Denkmälern unserer
Vorzeit -- so daß man sich nur ein sehr lückenhaftes Bild von ihr machen kann.
Opferstätten, Weißtümer, Zaubersprüche, Gebräuche, Götternamen sind von der
frühmittelalterlichen Geschichtsschreibung totgeschwiegen und in Grund und Boden
verflucht worden -- noch ehe Reste davon sich in die aufgeklärtere Jetztzeit hin¬
überretten konnte. Vieles blieb zufällig und wunderbar erhalten, weil es unter
tiefem Schütte lag. Aber es sind kleinste Bruchstücke I Während wir aus den
Liedern, Urkunden und Denkmälern der nordischen Germanen genaue Vorstellungen
von Göttern, Opfern, Tempeln, Gesetzen und Gebräuchen haben, so stehen wir
vor der deutschen Vorzeit wie vor tiefer Dunkelheit. Aus den verschüttet ge¬
wesenen Stücken kann man immerhin oft aufs weitere schließen. Die einzelnen
Holzkirchlein Schlesiens zeigen zum Beispiel den Zustand der Bauart um das
Jahr 1200; wenn sie auch nicht aus so fernen Tagen stammen, so ist diese
Bauart doch noch lange geübt worden, während anderswo neue fremde Ein¬
flüsse neue Formen brachten. Der Holzbau ging dem Steinbau voraus. Die
Kirche von Großkinder in Hessen ist eine der ältesten Deutschlands und zeigt <in
ihrem steinernen Torbogen rohe Skulpturen altertümlichster heidnischer Art von
einer Technik, die sehr an Holzschnitzerei erinnert. Die Schüler des Apostels
Bonifatius sollen von diesem Kirchlein aus in die deutschen Gaue hinausgewandert
sein; Bonifatius selbst soll in der ersten hölzernen Kirche daselbst gepredigt haben.
Auch am Erfurter Dom wird ein uraltes Häuslein als Bonifatiuskapelle be--
zeichnet.


Stätten der deutschen Sage

Eines der schönsten Beispiele vom wahren Kern vieler Sagen ist der Fund im
„Königsgrabhügel" von Seddin in der westlichen Prignitz:

Seit alters erzählte das Volk, daß in jenem (auffallenden) Hügel ein König
mit seinem Roß begraben liege — und zwar in einem goldenen Sarge, der
wieder in einem tönernen Sarge stehe. Im Jahre 1900 endlich begann man
unter Leitung der Professoren. Friedel und Kiekebusch mit der Ausgrabung und
fand in der Tat, wenn auch keine Särge, so doch ein großes Tongefäß in der
Grabkammer und in diesem Gefäß ein sehr fein ausgeführtes Bronzegesäß, welches
die Brandreste und Schmuckbeigaben eines vorzeitlichen Fürsten nebst seinem Reit¬
pferd enthielt.

Ähnliche Sagen haben ähnliche Funde in Menge bestätigt; so sind Berichte
der Altvorderen durch mehrere Jahrtausende von Mund zu Mund bis auf unsere
Tage gelangt. Aber wie viele andere reiche Depotfunde mögen für immer ver¬
borgen bleiben, nur weil der einzige Mann, der um sie wußte, ins Grab sank,
ehe er es anderen weitergeben konnte. Andererseits sind wieder großartige Funde
gemacht worden, von denen keine Sage etwas meldete; so zum Beispiel der
große Hildesheimer Silberschatz, eine ganze Reihe römischer Gesäße von höchster
technischer und künstlerischer Vollendung, der durch Alter und Fundort beweist,
daß er aus den Zeiten des Varus und Armin stammt.

Die Phantasie vergrößerte die kleine Wirklichkeit; das „Jägerlatein" und
das „Seemannsgarn" zeigen den Weg. wie Märchen entstanden, um die angeblich
geschehenen und erlebten Dinge, die die bewundernd lauschenden Hörer
doch nicht nachprüfen konntenl

Seit den Tagen der ersten Heidenbekehrer ist unsäglich vieles zerstört, erstickt
und ausgerottet worden an Überlieferungen, Gebräuchen und Denkmälern unserer
Vorzeit — so daß man sich nur ein sehr lückenhaftes Bild von ihr machen kann.
Opferstätten, Weißtümer, Zaubersprüche, Gebräuche, Götternamen sind von der
frühmittelalterlichen Geschichtsschreibung totgeschwiegen und in Grund und Boden
verflucht worden — noch ehe Reste davon sich in die aufgeklärtere Jetztzeit hin¬
überretten konnte. Vieles blieb zufällig und wunderbar erhalten, weil es unter
tiefem Schütte lag. Aber es sind kleinste Bruchstücke I Während wir aus den
Liedern, Urkunden und Denkmälern der nordischen Germanen genaue Vorstellungen
von Göttern, Opfern, Tempeln, Gesetzen und Gebräuchen haben, so stehen wir
vor der deutschen Vorzeit wie vor tiefer Dunkelheit. Aus den verschüttet ge¬
wesenen Stücken kann man immerhin oft aufs weitere schließen. Die einzelnen
Holzkirchlein Schlesiens zeigen zum Beispiel den Zustand der Bauart um das
Jahr 1200; wenn sie auch nicht aus so fernen Tagen stammen, so ist diese
Bauart doch noch lange geübt worden, während anderswo neue fremde Ein¬
flüsse neue Formen brachten. Der Holzbau ging dem Steinbau voraus. Die
Kirche von Großkinder in Hessen ist eine der ältesten Deutschlands und zeigt <in
ihrem steinernen Torbogen rohe Skulpturen altertümlichster heidnischer Art von
einer Technik, die sehr an Holzschnitzerei erinnert. Die Schüler des Apostels
Bonifatius sollen von diesem Kirchlein aus in die deutschen Gaue hinausgewandert
sein; Bonifatius selbst soll in der ersten hölzernen Kirche daselbst gepredigt haben.
Auch am Erfurter Dom wird ein uraltes Häuslein als Bonifatiuskapelle be--
zeichnet.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_338800/280>, abgerufen am 24.11.2024.