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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Zweites Vierteljahr.

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Stätten der deutschen Sage

Dorothea G. Schumacher

MM
W> e chichte verschwimmt allmählich zur Sage -- Sage verflüchtigt sich
zum Naturmythos. Das Märchen ist der dem Verständnis
des Volkes angepaßte Naturmythos -- oder es ist verkleinerte,
ausgeschmückte, familiär dargestellte Sage; dies gilt von den echten
Märchen, wie zum Beispiel "Dornröschen" und "Schneewittchen",
in denen man die Herkunft vom Naturmythos am deutlichsten wahrzunehmen
vermag.

So enthalten Sage und Märchen aber auch meistens Kerne fernen, wirk¬
lichen Geschehens; sie sind ausgeschmückte Überbleibsel von längst Vergessenen.
Oft überwuchert die Ausschmückung so stark, daß der wahre Kern kaum noch darin
zu finden ist.

Schon Karl der Große und die ihn umgebenden Personen erscheinen halb
als sagenhafte Figuren; vieles in ihrem Wesen und Tun wird ungewiß und
willkürlich ausgemalt. Die geschichtlichen Beweise und Anhaltspunkte fehlen in
der Schilderung der Person. Andererseits ist sein Leben und Wirken geschichtlich
mannigfach verbürgt. Auch Armin, der Befreier, erscheint als Sagenfigur, denn
man weiß nicht einmal gewiß, ob er auch von seinen Stammesgenossen "Armin"
genannt wurde. Manche nennen ihn "Herrmann", andere verknüpfen ihn mit
der mythischen Figur des Siegfried, wollen ihn zum Begriff des Befreiers von
Winter und Kälte auflösen -- dagegen machen römische Geschichtsquellen sein
menschliches Dasein (als schlauer, rümpfender Cherusker) unzweifelhaft. Die Sage
idealisiert und es gibt noch immer Köpfe, die eine kleine Wirklichkeit zur großen
UnWirklichkeit verflüchtigen, um sie mit allen Attributen erhabenen Heldentums
ausstatten zu können.

In der Gegend von Detmold sangen vor Jahrzehnten noch die Kinder ein
Liedchen: ^- " ^

Man will das Lied als Erinnerung an Armin darstellen. Die einzige
Berechtigung hierzu läge in dem Namen Varus -- allein dieser ist von dem
Sammler des Liedes in dieses hineingebracht worden.

Nach Mommsen ist die Örtlichkeit der Hermannschlacht das Verner Moor,
nahe Osnabrück; es bestehen daneben noch mehrere andere Meinungen.

Sehr viele Sagen sind Nachklänge unterdrückten Heidentuines und Vor¬
stellungen aus heidnischer Götterwelt, unter christliche Namen verborgen. Die
Sage der Weißen Frau ist fast allen alten Geschlechtern gemeinsam und scheint
zu beweisen, daß diese Erscheinung die Personifikation einer heidnischen Unglücks¬
gottheit oder eines warnenden Dämonen darstellt.

In zahlreichen Fällen schwebt die Sage hartnäckig an Orten, an denen
dann auch irgend eine Ausgrabung gemacht wird. Viele sogenannte Depotfunde
sind gehoben worden, wo der Volksmund von versunkenen Schätzen wisperte.


Wren^boten II 1921 17
Stätten der deutschen Sage

Dorothea G. Schumacher

MM
W> e chichte verschwimmt allmählich zur Sage — Sage verflüchtigt sich
zum Naturmythos. Das Märchen ist der dem Verständnis
des Volkes angepaßte Naturmythos — oder es ist verkleinerte,
ausgeschmückte, familiär dargestellte Sage; dies gilt von den echten
Märchen, wie zum Beispiel „Dornröschen" und „Schneewittchen",
in denen man die Herkunft vom Naturmythos am deutlichsten wahrzunehmen
vermag.

So enthalten Sage und Märchen aber auch meistens Kerne fernen, wirk¬
lichen Geschehens; sie sind ausgeschmückte Überbleibsel von längst Vergessenen.
Oft überwuchert die Ausschmückung so stark, daß der wahre Kern kaum noch darin
zu finden ist.

Schon Karl der Große und die ihn umgebenden Personen erscheinen halb
als sagenhafte Figuren; vieles in ihrem Wesen und Tun wird ungewiß und
willkürlich ausgemalt. Die geschichtlichen Beweise und Anhaltspunkte fehlen in
der Schilderung der Person. Andererseits ist sein Leben und Wirken geschichtlich
mannigfach verbürgt. Auch Armin, der Befreier, erscheint als Sagenfigur, denn
man weiß nicht einmal gewiß, ob er auch von seinen Stammesgenossen „Armin"
genannt wurde. Manche nennen ihn „Herrmann", andere verknüpfen ihn mit
der mythischen Figur des Siegfried, wollen ihn zum Begriff des Befreiers von
Winter und Kälte auflösen — dagegen machen römische Geschichtsquellen sein
menschliches Dasein (als schlauer, rümpfender Cherusker) unzweifelhaft. Die Sage
idealisiert und es gibt noch immer Köpfe, die eine kleine Wirklichkeit zur großen
UnWirklichkeit verflüchtigen, um sie mit allen Attributen erhabenen Heldentums
ausstatten zu können.

In der Gegend von Detmold sangen vor Jahrzehnten noch die Kinder ein
Liedchen: ^- » ^

Man will das Lied als Erinnerung an Armin darstellen. Die einzige
Berechtigung hierzu läge in dem Namen Varus — allein dieser ist von dem
Sammler des Liedes in dieses hineingebracht worden.

Nach Mommsen ist die Örtlichkeit der Hermannschlacht das Verner Moor,
nahe Osnabrück; es bestehen daneben noch mehrere andere Meinungen.

Sehr viele Sagen sind Nachklänge unterdrückten Heidentuines und Vor¬
stellungen aus heidnischer Götterwelt, unter christliche Namen verborgen. Die
Sage der Weißen Frau ist fast allen alten Geschlechtern gemeinsam und scheint
zu beweisen, daß diese Erscheinung die Personifikation einer heidnischen Unglücks¬
gottheit oder eines warnenden Dämonen darstellt.

In zahlreichen Fällen schwebt die Sage hartnäckig an Orten, an denen
dann auch irgend eine Ausgrabung gemacht wird. Viele sogenannte Depotfunde
sind gehoben worden, wo der Volksmund von versunkenen Schätzen wisperte.


Wren^boten II 1921 17
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[0279] Stätten der deutschen Sage Dorothea G. Schumacher MM W> e chichte verschwimmt allmählich zur Sage — Sage verflüchtigt sich zum Naturmythos. Das Märchen ist der dem Verständnis des Volkes angepaßte Naturmythos — oder es ist verkleinerte, ausgeschmückte, familiär dargestellte Sage; dies gilt von den echten Märchen, wie zum Beispiel „Dornröschen" und „Schneewittchen", in denen man die Herkunft vom Naturmythos am deutlichsten wahrzunehmen vermag. So enthalten Sage und Märchen aber auch meistens Kerne fernen, wirk¬ lichen Geschehens; sie sind ausgeschmückte Überbleibsel von längst Vergessenen. Oft überwuchert die Ausschmückung so stark, daß der wahre Kern kaum noch darin zu finden ist. Schon Karl der Große und die ihn umgebenden Personen erscheinen halb als sagenhafte Figuren; vieles in ihrem Wesen und Tun wird ungewiß und willkürlich ausgemalt. Die geschichtlichen Beweise und Anhaltspunkte fehlen in der Schilderung der Person. Andererseits ist sein Leben und Wirken geschichtlich mannigfach verbürgt. Auch Armin, der Befreier, erscheint als Sagenfigur, denn man weiß nicht einmal gewiß, ob er auch von seinen Stammesgenossen „Armin" genannt wurde. Manche nennen ihn „Herrmann", andere verknüpfen ihn mit der mythischen Figur des Siegfried, wollen ihn zum Begriff des Befreiers von Winter und Kälte auflösen — dagegen machen römische Geschichtsquellen sein menschliches Dasein (als schlauer, rümpfender Cherusker) unzweifelhaft. Die Sage idealisiert und es gibt noch immer Köpfe, die eine kleine Wirklichkeit zur großen UnWirklichkeit verflüchtigen, um sie mit allen Attributen erhabenen Heldentums ausstatten zu können. In der Gegend von Detmold sangen vor Jahrzehnten noch die Kinder ein Liedchen: ^- » ^ Man will das Lied als Erinnerung an Armin darstellen. Die einzige Berechtigung hierzu läge in dem Namen Varus — allein dieser ist von dem Sammler des Liedes in dieses hineingebracht worden. Nach Mommsen ist die Örtlichkeit der Hermannschlacht das Verner Moor, nahe Osnabrück; es bestehen daneben noch mehrere andere Meinungen. Sehr viele Sagen sind Nachklänge unterdrückten Heidentuines und Vor¬ stellungen aus heidnischer Götterwelt, unter christliche Namen verborgen. Die Sage der Weißen Frau ist fast allen alten Geschlechtern gemeinsam und scheint zu beweisen, daß diese Erscheinung die Personifikation einer heidnischen Unglücks¬ gottheit oder eines warnenden Dämonen darstellt. In zahlreichen Fällen schwebt die Sage hartnäckig an Orten, an denen dann auch irgend eine Ausgrabung gemacht wird. Viele sogenannte Depotfunde sind gehoben worden, wo der Volksmund von versunkenen Schätzen wisperte. Wren^boten II 1921 17

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_338800/279>, abgerufen am 23.07.2024.