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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Zweites Vierteljahr.

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Ganze riskiert. Was würde -- im besten Falle -- ein selbständiges Eingreifen
regulärer oder irregulärer deutscher Truppen in Oberschlesien, das infolge der
Übergriffe der Korfanty-Banden, der erwiesenen Mitschuld der Polen, der durch
den französischen Ministerpräsidenten selbst eingestandenen Parteilichkeit der fran¬
zösischen Truppen moralisch nur allzu gerechtfertigt wäre, erzielen? Die Insur¬
genten würden zurückgeschlagen. Gut. Was wirb die Folge sein? Selbst wenn
die Polen. Irreguläre oder Reguläre, ihren bedrängten Freunden keine Hilfe
brächten, was den allgemeinen Krieg an der Ostgrenze nach sich ziehen würde,
selbst wenn die Insurgenten, wozu sie nach Korfantys mehr oder weniger
offenen Drohungen und den Anzeichen von Bolschewismus entschlossen zu sein
scheinen, vor der Räumung den ganzen besetzten Jndustriebezirk nicht kurz und
klein schlügen, meint man, die Franzosen würden sich auch nur einen Augenblick
besinnen, ins Nuhrgebiet einzurücken? Der Wortlaut des polnisch-französischen
Abkommens, von dem Briand gesprochen hat, ist nicht bekannt, aber selbst wenn
es in dieser Beziehung keine bestimmten Abmachungen enthielte, würden die
Franzosen dennoch das Nuhrgebiet besetzen.

Aber ist nicht Lloyd George dagegen und hat sich nicht in der oberschlesischen
Frage fast die gesamte öffentliche Meinung hinter ihn gestellt? Hat nicht Lloyd
George selbst fair für Deutschland verlangt?

Jak Und obwohl Lloyd George seinen festen Willen zum iair pia^ Deutsch¬
land gegenüber bis jetzt höchstens mit Worten bekundet hat, soll die Aufrichtigkeit
dieses Willens garnicht in Zweifel gezogen werden. Aber welche Macht hat
denn Lloyd George, diesen Willen durchzusetzen? Vergißt man, das? England
seine wenigen Truppen dringend für Irland braucht, vergißt man, daß England
infolge des immer noch andauernden Bergarbeiterstreiks dicht vor einer schweren
revolutionären Krise steht? Kein Mensch hat zu mucksen gewagt, als Briand
offen das Bestehen eines polnisch-französischen Abkommens zugab, obwohl dies
Abkommen dem Völkerbund nicht zur Kenntnisnahme unterbreitet worden ist und
somit gegen den Friedensvertrag verstößt. Alle die zahlreichen Völkerbundfreunde
in England, die aufrichtigen sowohl wie diejenigen, die es aus politischen, an
dieser Stelle oftmals auseinandergesetzten Gründen zu sein vorgeben, hätten
sofort und laut dagegen protestieren müssen. Das ist nicht geschehen, weil man
über keinerlei Machtmittel verfügte, Frankreich zu zwingen. Es ist ganz richtig,
daß man es in Frankreich nicht gern zum offenen Bruch der englisch-französischen
Entente kommen lassen will. Geschieht es aber doch, so ist ein Eingreifen Eng¬
lands unmittelbar -- und darauf allein kommt es an -- garnicht möglich.

Vor allem aber hat man bei der Beurteilung der auf Oberschlesien bezüg¬
lichen Äußerungen Lloyd Georges ganz übersehen, daß sie einem unmittelbaren
politischen Ziel dienten: der Verhinderung der Besetzung des Nuhrgebiets. Es
kann als sicher angenommen werden, daß der oberschlestsche Aufstand von Polen
und Frankreich gerade in die Tage der Londoner Ultimatums-Verhandlungen
verlegt wurde, sowohl um die Deutschen zu einer Gegenaktion zu provozieren
wie die Unterzeichnung des Ultimatums, ohne daß Frankreich sich zuvor in den
Besitz seiner Pfänder, gesetzt hätte, zu verhindern. Die Ratschläge englischer Per¬
sönlichkeiten zur, Annahme des Ultimatums, von denen die französische Presse
erzählt, waren, falls sie wirklich erteilt wurden, aus den Wunsch Englands zurück¬
zuführen, die Besetzung des Nuhrgebiets, die Frankreich eine von England wie
von Italien gefürchtete Monopolstellung für Kohle- und Eisenproduktion geben
würden, zu verhindern. Nun aber herrschte in der französischen Kammer bekannt¬
lich große Erregung über das Londoner Abkommen und trotzdem Briaud es
durch die über den Kopf des noch immer zu weiterem Aufschub geneigten Senats
erfolgte provisorische Ernennung eines französischen Botschafters beim Vatikan
verstanden hatte, einen Teil der Gegner des Abkommens und Anhänger der Be¬
setzung des Ruhrgebiets für sich zu gewinnen, bestand Gefahr, daß er von den
Royalisten, von derem Anhang, von den Militaristen, von den Sozialisten und
den über diesen seinen innerpolitischen Schachzug erbitterten Radikal-Sozialisten,


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Ganze riskiert. Was würde — im besten Falle — ein selbständiges Eingreifen
regulärer oder irregulärer deutscher Truppen in Oberschlesien, das infolge der
Übergriffe der Korfanty-Banden, der erwiesenen Mitschuld der Polen, der durch
den französischen Ministerpräsidenten selbst eingestandenen Parteilichkeit der fran¬
zösischen Truppen moralisch nur allzu gerechtfertigt wäre, erzielen? Die Insur¬
genten würden zurückgeschlagen. Gut. Was wirb die Folge sein? Selbst wenn
die Polen. Irreguläre oder Reguläre, ihren bedrängten Freunden keine Hilfe
brächten, was den allgemeinen Krieg an der Ostgrenze nach sich ziehen würde,
selbst wenn die Insurgenten, wozu sie nach Korfantys mehr oder weniger
offenen Drohungen und den Anzeichen von Bolschewismus entschlossen zu sein
scheinen, vor der Räumung den ganzen besetzten Jndustriebezirk nicht kurz und
klein schlügen, meint man, die Franzosen würden sich auch nur einen Augenblick
besinnen, ins Nuhrgebiet einzurücken? Der Wortlaut des polnisch-französischen
Abkommens, von dem Briand gesprochen hat, ist nicht bekannt, aber selbst wenn
es in dieser Beziehung keine bestimmten Abmachungen enthielte, würden die
Franzosen dennoch das Nuhrgebiet besetzen.

Aber ist nicht Lloyd George dagegen und hat sich nicht in der oberschlesischen
Frage fast die gesamte öffentliche Meinung hinter ihn gestellt? Hat nicht Lloyd
George selbst fair für Deutschland verlangt?

Jak Und obwohl Lloyd George seinen festen Willen zum iair pia^ Deutsch¬
land gegenüber bis jetzt höchstens mit Worten bekundet hat, soll die Aufrichtigkeit
dieses Willens garnicht in Zweifel gezogen werden. Aber welche Macht hat
denn Lloyd George, diesen Willen durchzusetzen? Vergißt man, das? England
seine wenigen Truppen dringend für Irland braucht, vergißt man, daß England
infolge des immer noch andauernden Bergarbeiterstreiks dicht vor einer schweren
revolutionären Krise steht? Kein Mensch hat zu mucksen gewagt, als Briand
offen das Bestehen eines polnisch-französischen Abkommens zugab, obwohl dies
Abkommen dem Völkerbund nicht zur Kenntnisnahme unterbreitet worden ist und
somit gegen den Friedensvertrag verstößt. Alle die zahlreichen Völkerbundfreunde
in England, die aufrichtigen sowohl wie diejenigen, die es aus politischen, an
dieser Stelle oftmals auseinandergesetzten Gründen zu sein vorgeben, hätten
sofort und laut dagegen protestieren müssen. Das ist nicht geschehen, weil man
über keinerlei Machtmittel verfügte, Frankreich zu zwingen. Es ist ganz richtig,
daß man es in Frankreich nicht gern zum offenen Bruch der englisch-französischen
Entente kommen lassen will. Geschieht es aber doch, so ist ein Eingreifen Eng¬
lands unmittelbar — und darauf allein kommt es an — garnicht möglich.

Vor allem aber hat man bei der Beurteilung der auf Oberschlesien bezüg¬
lichen Äußerungen Lloyd Georges ganz übersehen, daß sie einem unmittelbaren
politischen Ziel dienten: der Verhinderung der Besetzung des Nuhrgebiets. Es
kann als sicher angenommen werden, daß der oberschlestsche Aufstand von Polen
und Frankreich gerade in die Tage der Londoner Ultimatums-Verhandlungen
verlegt wurde, sowohl um die Deutschen zu einer Gegenaktion zu provozieren
wie die Unterzeichnung des Ultimatums, ohne daß Frankreich sich zuvor in den
Besitz seiner Pfänder, gesetzt hätte, zu verhindern. Die Ratschläge englischer Per¬
sönlichkeiten zur, Annahme des Ultimatums, von denen die französische Presse
erzählt, waren, falls sie wirklich erteilt wurden, aus den Wunsch Englands zurück¬
zuführen, die Besetzung des Nuhrgebiets, die Frankreich eine von England wie
von Italien gefürchtete Monopolstellung für Kohle- und Eisenproduktion geben
würden, zu verhindern. Nun aber herrschte in der französischen Kammer bekannt¬
lich große Erregung über das Londoner Abkommen und trotzdem Briaud es
durch die über den Kopf des noch immer zu weiterem Aufschub geneigten Senats
erfolgte provisorische Ernennung eines französischen Botschafters beim Vatikan
verstanden hatte, einen Teil der Gegner des Abkommens und Anhänger der Be¬
setzung des Ruhrgebiets für sich zu gewinnen, bestand Gefahr, daß er von den
Royalisten, von derem Anhang, von den Militaristen, von den Sozialisten und
den über diesen seinen innerpolitischen Schachzug erbitterten Radikal-Sozialisten,


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[0252] lveltspiegel Ganze riskiert. Was würde — im besten Falle — ein selbständiges Eingreifen regulärer oder irregulärer deutscher Truppen in Oberschlesien, das infolge der Übergriffe der Korfanty-Banden, der erwiesenen Mitschuld der Polen, der durch den französischen Ministerpräsidenten selbst eingestandenen Parteilichkeit der fran¬ zösischen Truppen moralisch nur allzu gerechtfertigt wäre, erzielen? Die Insur¬ genten würden zurückgeschlagen. Gut. Was wirb die Folge sein? Selbst wenn die Polen. Irreguläre oder Reguläre, ihren bedrängten Freunden keine Hilfe brächten, was den allgemeinen Krieg an der Ostgrenze nach sich ziehen würde, selbst wenn die Insurgenten, wozu sie nach Korfantys mehr oder weniger offenen Drohungen und den Anzeichen von Bolschewismus entschlossen zu sein scheinen, vor der Räumung den ganzen besetzten Jndustriebezirk nicht kurz und klein schlügen, meint man, die Franzosen würden sich auch nur einen Augenblick besinnen, ins Nuhrgebiet einzurücken? Der Wortlaut des polnisch-französischen Abkommens, von dem Briand gesprochen hat, ist nicht bekannt, aber selbst wenn es in dieser Beziehung keine bestimmten Abmachungen enthielte, würden die Franzosen dennoch das Nuhrgebiet besetzen. Aber ist nicht Lloyd George dagegen und hat sich nicht in der oberschlesischen Frage fast die gesamte öffentliche Meinung hinter ihn gestellt? Hat nicht Lloyd George selbst fair für Deutschland verlangt? Jak Und obwohl Lloyd George seinen festen Willen zum iair pia^ Deutsch¬ land gegenüber bis jetzt höchstens mit Worten bekundet hat, soll die Aufrichtigkeit dieses Willens garnicht in Zweifel gezogen werden. Aber welche Macht hat denn Lloyd George, diesen Willen durchzusetzen? Vergißt man, das? England seine wenigen Truppen dringend für Irland braucht, vergißt man, daß England infolge des immer noch andauernden Bergarbeiterstreiks dicht vor einer schweren revolutionären Krise steht? Kein Mensch hat zu mucksen gewagt, als Briand offen das Bestehen eines polnisch-französischen Abkommens zugab, obwohl dies Abkommen dem Völkerbund nicht zur Kenntnisnahme unterbreitet worden ist und somit gegen den Friedensvertrag verstößt. Alle die zahlreichen Völkerbundfreunde in England, die aufrichtigen sowohl wie diejenigen, die es aus politischen, an dieser Stelle oftmals auseinandergesetzten Gründen zu sein vorgeben, hätten sofort und laut dagegen protestieren müssen. Das ist nicht geschehen, weil man über keinerlei Machtmittel verfügte, Frankreich zu zwingen. Es ist ganz richtig, daß man es in Frankreich nicht gern zum offenen Bruch der englisch-französischen Entente kommen lassen will. Geschieht es aber doch, so ist ein Eingreifen Eng¬ lands unmittelbar — und darauf allein kommt es an — garnicht möglich. Vor allem aber hat man bei der Beurteilung der auf Oberschlesien bezüg¬ lichen Äußerungen Lloyd Georges ganz übersehen, daß sie einem unmittelbaren politischen Ziel dienten: der Verhinderung der Besetzung des Nuhrgebiets. Es kann als sicher angenommen werden, daß der oberschlestsche Aufstand von Polen und Frankreich gerade in die Tage der Londoner Ultimatums-Verhandlungen verlegt wurde, sowohl um die Deutschen zu einer Gegenaktion zu provozieren wie die Unterzeichnung des Ultimatums, ohne daß Frankreich sich zuvor in den Besitz seiner Pfänder, gesetzt hätte, zu verhindern. Die Ratschläge englischer Per¬ sönlichkeiten zur, Annahme des Ultimatums, von denen die französische Presse erzählt, waren, falls sie wirklich erteilt wurden, aus den Wunsch Englands zurück¬ zuführen, die Besetzung des Nuhrgebiets, die Frankreich eine von England wie von Italien gefürchtete Monopolstellung für Kohle- und Eisenproduktion geben würden, zu verhindern. Nun aber herrschte in der französischen Kammer bekannt¬ lich große Erregung über das Londoner Abkommen und trotzdem Briaud es durch die über den Kopf des noch immer zu weiterem Aufschub geneigten Senats erfolgte provisorische Ernennung eines französischen Botschafters beim Vatikan verstanden hatte, einen Teil der Gegner des Abkommens und Anhänger der Be¬ setzung des Ruhrgebiets für sich zu gewinnen, bestand Gefahr, daß er von den Royalisten, von derem Anhang, von den Militaristen, von den Sozialisten und den über diesen seinen innerpolitischen Schachzug erbitterten Radikal-Sozialisten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_338800/252>, abgerufen am 27.11.2024.