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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Zweites Vierteljahr.

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mehr." Er gründet eine Revanchezeitschrift, die für Wiedergewinnung der ver¬
lorenen Provinzen arbeitet. Die Straffung des Volksgeistes ist die eine
Seite, die Wiedererlangung der verlorenen Bündnisfähigkeit die anderer Seite
seines Strebens. Gambetta hat schon 1877 ein interessantes Gespräch mit dein
späteren Eduard Vit. und bahnt 1875 die Entente mit Rußland an, vierzig
Jahre vor dem Ziel, so lange, zäh, geduldig, konsequent arbeitet diese
Politik. Nach Gambettas Tod wird die außenpolitische Linie mit' Erfolg
durch Freycinet, die innerpolitische Propaganda, die nationale Volkserziehung'
durch D6roulöde, den in Deutschland mit Unrecht verspotteten, weitergeführt.
Die Gründung der Patriotenliga 1882 ist ein großer Einschnitt. Man lese bei
Kühn nach, wie sie gearbeitet hat. Man verfolgt bewundernd die Summe von
Kraft, Hingebung und Intelligenz, die auf die Nationalisierung der verschiedenen
Schichten des Volks verwendet worden ist. Der übliche deutsche Standpunkt,
über den Chauvinismus die Achseln zu zucken, ist wirklich durch die Ereignisse
überholt. Man lernt aus dem Buch nachfühlen, mit wie großen Schwierigkeiten
die Nationalisten zu kämpfen hatten. In den neunziger Jahren schien ihre
Propaganda zu ermatten. Da aber kam durch Delcassö die außenpolitische
Bündniskette zum Abschluß. Und nun, seit 1904 vornehmlich, gelangt unter
bewußter, tätigster Pflege der Regierung (der Name Poincarö war hier ein
Programm) und der Intelligenz das Werk der geistigen Vorbereitung auf den
Rache- und Angriffskrieg zum Kulminationspunkt. Kubus Mitarbeiter haben
mit großer Gründlichkeit die einzelnen Zweige und Vehikel der Nationalisierung
verfolgt, die Arbeit in der Schule, im Roman, auf der Bühne, im Kino, in der
Militärliteratur, durch die Geschichtspslege, durch die Freimaurerei ebensowohl wie
durch die Kirche. Hier wirkte alles zusammen, und das "nationale Credo" wurde
der einigende Ersatz für das religiöse. Selbst die Börse wird rationalistisch
(S. 40, 319). Bemerkenswert ist, mit wie wenig Angst die Franzosen, seit sie
sich durch Bundesgenossen gedeckt wußten, der Gefahr einer zeitweiligen Über¬
flutung ihres eigenen Landes durch deutsche Heere entgegensahen. Man vergleiche
die den Schlieffenplan umstürzende Furcht der deutschen Regierungen vor einem
französischen Einfall nach Süddeutschland mit diesem disziplinierten Mut! Die
Franzosen wußten überdies, daß dieses Unglück niemals von Deutschland herauf¬
beschworen würde, denn, wie die Autorin 1901 schreibt: "Wenn die Wirkung deS
russischen Bündnisses die ist, daß es uns nicht unsere verlorenen Provinzen wieder¬
gibt, dann hätten wir es gar nicht nötig, gegen Deutschland geschützt zu sein,
das nur die Erhaltung des bestehenden Zustandes wünscht." Für die Frage der
Kriegsschuld enthält auch dies Buch erdrückendes Material. Die Offenheit, mit
welcher die französischen Militärs etwa seit 1912 den nahen Angriffskrieg
siegessicher verkünden, ist geradezu überwältigend. Davon weiß man bei uns
noch viel zu wenig. Auch die moralische Hauptschuld Englands tritt klar ins
Licht. Während die im ganzen friedliche und vermittelnde Haltung Nikolaus
des Zweiten die Franzosen meist enttäuscht, ist die Welle des Nationalgeistes und
der offensiven Bolksverhetzung unaufhörlich im Steigen, seit 1904, seit man
England auf dem Sprunge weiß. Jetzt reift die geduldig gesäte Ernte des Volks¬
hasses. So groß die Schuld Frankreichs ist, so sehr muß man aber auch die
gesunden und feinen Züge in der Pflege seines Nationalgefühls nach 1870 aner¬
kennen, die versuchte Ausmerzung der Nationalfehler, welche die Niederlage ver¬
schuldet hatten, das Lernen vom Sieger, die Pflege des Gemeingeistes, des Stolzes,
der Überlieferungen, des Heimatsinns. Wir können auch in dieser Hinsicht aus
dem Buche unerschöpflich lernen. Daß die Elsässer 1870 Wider ihren Willen
durch Deutschland zurückgeholt waren, während Frankreich in Savoyen und
Nizza abstimmen ließ, daß also Frankreich das Recht geschützt durch die Macht
verkörpere, Deutschland Gewalt vor Recht gehen lasse, ist nur eines der von der
deutschen Oppositionspresse der Zeit den Franzosen bereitgestellten Schlagwörter.
Dabei wa-r es für die Franzosen gar nicht leicht, die Massen im Haß zu erhalten.
Bedrückte doch Deutschland die Franzosen nicht im mindesten, ja die ganze Kriegs-


Aus neuen Büchern

mehr." Er gründet eine Revanchezeitschrift, die für Wiedergewinnung der ver¬
lorenen Provinzen arbeitet. Die Straffung des Volksgeistes ist die eine
Seite, die Wiedererlangung der verlorenen Bündnisfähigkeit die anderer Seite
seines Strebens. Gambetta hat schon 1877 ein interessantes Gespräch mit dein
späteren Eduard Vit. und bahnt 1875 die Entente mit Rußland an, vierzig
Jahre vor dem Ziel, so lange, zäh, geduldig, konsequent arbeitet diese
Politik. Nach Gambettas Tod wird die außenpolitische Linie mit' Erfolg
durch Freycinet, die innerpolitische Propaganda, die nationale Volkserziehung'
durch D6roulöde, den in Deutschland mit Unrecht verspotteten, weitergeführt.
Die Gründung der Patriotenliga 1882 ist ein großer Einschnitt. Man lese bei
Kühn nach, wie sie gearbeitet hat. Man verfolgt bewundernd die Summe von
Kraft, Hingebung und Intelligenz, die auf die Nationalisierung der verschiedenen
Schichten des Volks verwendet worden ist. Der übliche deutsche Standpunkt,
über den Chauvinismus die Achseln zu zucken, ist wirklich durch die Ereignisse
überholt. Man lernt aus dem Buch nachfühlen, mit wie großen Schwierigkeiten
die Nationalisten zu kämpfen hatten. In den neunziger Jahren schien ihre
Propaganda zu ermatten. Da aber kam durch Delcassö die außenpolitische
Bündniskette zum Abschluß. Und nun, seit 1904 vornehmlich, gelangt unter
bewußter, tätigster Pflege der Regierung (der Name Poincarö war hier ein
Programm) und der Intelligenz das Werk der geistigen Vorbereitung auf den
Rache- und Angriffskrieg zum Kulminationspunkt. Kubus Mitarbeiter haben
mit großer Gründlichkeit die einzelnen Zweige und Vehikel der Nationalisierung
verfolgt, die Arbeit in der Schule, im Roman, auf der Bühne, im Kino, in der
Militärliteratur, durch die Geschichtspslege, durch die Freimaurerei ebensowohl wie
durch die Kirche. Hier wirkte alles zusammen, und das „nationale Credo" wurde
der einigende Ersatz für das religiöse. Selbst die Börse wird rationalistisch
(S. 40, 319). Bemerkenswert ist, mit wie wenig Angst die Franzosen, seit sie
sich durch Bundesgenossen gedeckt wußten, der Gefahr einer zeitweiligen Über¬
flutung ihres eigenen Landes durch deutsche Heere entgegensahen. Man vergleiche
die den Schlieffenplan umstürzende Furcht der deutschen Regierungen vor einem
französischen Einfall nach Süddeutschland mit diesem disziplinierten Mut! Die
Franzosen wußten überdies, daß dieses Unglück niemals von Deutschland herauf¬
beschworen würde, denn, wie die Autorin 1901 schreibt: „Wenn die Wirkung deS
russischen Bündnisses die ist, daß es uns nicht unsere verlorenen Provinzen wieder¬
gibt, dann hätten wir es gar nicht nötig, gegen Deutschland geschützt zu sein,
das nur die Erhaltung des bestehenden Zustandes wünscht." Für die Frage der
Kriegsschuld enthält auch dies Buch erdrückendes Material. Die Offenheit, mit
welcher die französischen Militärs etwa seit 1912 den nahen Angriffskrieg
siegessicher verkünden, ist geradezu überwältigend. Davon weiß man bei uns
noch viel zu wenig. Auch die moralische Hauptschuld Englands tritt klar ins
Licht. Während die im ganzen friedliche und vermittelnde Haltung Nikolaus
des Zweiten die Franzosen meist enttäuscht, ist die Welle des Nationalgeistes und
der offensiven Bolksverhetzung unaufhörlich im Steigen, seit 1904, seit man
England auf dem Sprunge weiß. Jetzt reift die geduldig gesäte Ernte des Volks¬
hasses. So groß die Schuld Frankreichs ist, so sehr muß man aber auch die
gesunden und feinen Züge in der Pflege seines Nationalgefühls nach 1870 aner¬
kennen, die versuchte Ausmerzung der Nationalfehler, welche die Niederlage ver¬
schuldet hatten, das Lernen vom Sieger, die Pflege des Gemeingeistes, des Stolzes,
der Überlieferungen, des Heimatsinns. Wir können auch in dieser Hinsicht aus
dem Buche unerschöpflich lernen. Daß die Elsässer 1870 Wider ihren Willen
durch Deutschland zurückgeholt waren, während Frankreich in Savoyen und
Nizza abstimmen ließ, daß also Frankreich das Recht geschützt durch die Macht
verkörpere, Deutschland Gewalt vor Recht gehen lasse, ist nur eines der von der
deutschen Oppositionspresse der Zeit den Franzosen bereitgestellten Schlagwörter.
Dabei wa-r es für die Franzosen gar nicht leicht, die Massen im Haß zu erhalten.
Bedrückte doch Deutschland die Franzosen nicht im mindesten, ja die ganze Kriegs-


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[0162] Aus neuen Büchern mehr." Er gründet eine Revanchezeitschrift, die für Wiedergewinnung der ver¬ lorenen Provinzen arbeitet. Die Straffung des Volksgeistes ist die eine Seite, die Wiedererlangung der verlorenen Bündnisfähigkeit die anderer Seite seines Strebens. Gambetta hat schon 1877 ein interessantes Gespräch mit dein späteren Eduard Vit. und bahnt 1875 die Entente mit Rußland an, vierzig Jahre vor dem Ziel, so lange, zäh, geduldig, konsequent arbeitet diese Politik. Nach Gambettas Tod wird die außenpolitische Linie mit' Erfolg durch Freycinet, die innerpolitische Propaganda, die nationale Volkserziehung' durch D6roulöde, den in Deutschland mit Unrecht verspotteten, weitergeführt. Die Gründung der Patriotenliga 1882 ist ein großer Einschnitt. Man lese bei Kühn nach, wie sie gearbeitet hat. Man verfolgt bewundernd die Summe von Kraft, Hingebung und Intelligenz, die auf die Nationalisierung der verschiedenen Schichten des Volks verwendet worden ist. Der übliche deutsche Standpunkt, über den Chauvinismus die Achseln zu zucken, ist wirklich durch die Ereignisse überholt. Man lernt aus dem Buch nachfühlen, mit wie großen Schwierigkeiten die Nationalisten zu kämpfen hatten. In den neunziger Jahren schien ihre Propaganda zu ermatten. Da aber kam durch Delcassö die außenpolitische Bündniskette zum Abschluß. Und nun, seit 1904 vornehmlich, gelangt unter bewußter, tätigster Pflege der Regierung (der Name Poincarö war hier ein Programm) und der Intelligenz das Werk der geistigen Vorbereitung auf den Rache- und Angriffskrieg zum Kulminationspunkt. Kubus Mitarbeiter haben mit großer Gründlichkeit die einzelnen Zweige und Vehikel der Nationalisierung verfolgt, die Arbeit in der Schule, im Roman, auf der Bühne, im Kino, in der Militärliteratur, durch die Geschichtspslege, durch die Freimaurerei ebensowohl wie durch die Kirche. Hier wirkte alles zusammen, und das „nationale Credo" wurde der einigende Ersatz für das religiöse. Selbst die Börse wird rationalistisch (S. 40, 319). Bemerkenswert ist, mit wie wenig Angst die Franzosen, seit sie sich durch Bundesgenossen gedeckt wußten, der Gefahr einer zeitweiligen Über¬ flutung ihres eigenen Landes durch deutsche Heere entgegensahen. Man vergleiche die den Schlieffenplan umstürzende Furcht der deutschen Regierungen vor einem französischen Einfall nach Süddeutschland mit diesem disziplinierten Mut! Die Franzosen wußten überdies, daß dieses Unglück niemals von Deutschland herauf¬ beschworen würde, denn, wie die Autorin 1901 schreibt: „Wenn die Wirkung deS russischen Bündnisses die ist, daß es uns nicht unsere verlorenen Provinzen wieder¬ gibt, dann hätten wir es gar nicht nötig, gegen Deutschland geschützt zu sein, das nur die Erhaltung des bestehenden Zustandes wünscht." Für die Frage der Kriegsschuld enthält auch dies Buch erdrückendes Material. Die Offenheit, mit welcher die französischen Militärs etwa seit 1912 den nahen Angriffskrieg siegessicher verkünden, ist geradezu überwältigend. Davon weiß man bei uns noch viel zu wenig. Auch die moralische Hauptschuld Englands tritt klar ins Licht. Während die im ganzen friedliche und vermittelnde Haltung Nikolaus des Zweiten die Franzosen meist enttäuscht, ist die Welle des Nationalgeistes und der offensiven Bolksverhetzung unaufhörlich im Steigen, seit 1904, seit man England auf dem Sprunge weiß. Jetzt reift die geduldig gesäte Ernte des Volks¬ hasses. So groß die Schuld Frankreichs ist, so sehr muß man aber auch die gesunden und feinen Züge in der Pflege seines Nationalgefühls nach 1870 aner¬ kennen, die versuchte Ausmerzung der Nationalfehler, welche die Niederlage ver¬ schuldet hatten, das Lernen vom Sieger, die Pflege des Gemeingeistes, des Stolzes, der Überlieferungen, des Heimatsinns. Wir können auch in dieser Hinsicht aus dem Buche unerschöpflich lernen. Daß die Elsässer 1870 Wider ihren Willen durch Deutschland zurückgeholt waren, während Frankreich in Savoyen und Nizza abstimmen ließ, daß also Frankreich das Recht geschützt durch die Macht verkörpere, Deutschland Gewalt vor Recht gehen lasse, ist nur eines der von der deutschen Oppositionspresse der Zeit den Franzosen bereitgestellten Schlagwörter. Dabei wa-r es für die Franzosen gar nicht leicht, die Massen im Haß zu erhalten. Bedrückte doch Deutschland die Franzosen nicht im mindesten, ja die ganze Kriegs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_338800/162>, abgerufen am 23.11.2024.