Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Erstes Vierteljahr.Das deutsche Volk und das Deutsche Reich Selbstverständlich konnte diese Lösung nicht ohne Härten vollzogen werden. Eine unhistorische Betrachtungsweise, die sich allein durch die Versäumnisse, Wenn freilich die historische Betrachtung das rechte Augenmaß gibt zur Das deutsche Volk und das Deutsche Reich Selbstverständlich konnte diese Lösung nicht ohne Härten vollzogen werden. Eine unhistorische Betrachtungsweise, die sich allein durch die Versäumnisse, Wenn freilich die historische Betrachtung das rechte Augenmaß gibt zur <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0053" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/338486"/> <fw type="header" place="top"> Das deutsche Volk und das Deutsche Reich</fw><lb/> <p xml:id="ID_136"> Selbstverständlich konnte diese Lösung nicht ohne Härten vollzogen werden.<lb/> Nur durch Blut und Eisen, durch einen Bruderkrieg mit all seinen seelischen<lb/> Nöten wurde die Klarheit über die Vormacht in Deutschland geschaffen. Und<lb/> ein Teil des deutschen Volkes mußte dem neuen Reiche fernbleiben, weil der<lb/> dynastische Stolz der Habsburger sich dem glücklicheren Nebenbuhler ebensowenig<lb/> beugen mochte, wie das eigentümliche Gebilde der österreichisch-ungarischen<lb/> Monarchie in das national geschlossene Deutsche Reich hineinpaßte. Auch konnte<lb/> das feste Gerüst, das seit 1866 Norddeutschland, seit 1871 ganz Deutschland<lb/> schützend umgab, nicht aufgerichtet werden, ohne daß hier und da ein Nagel<lb/> schmerzhaft eingeschlagen wurde.</p><lb/> <p xml:id="ID_137"> Eine unhistorische Betrachtungsweise, die sich allein durch die Versäumnisse,<lb/> Fehler und Enttäuschungen der letzten Jahre bestimmen läßt, liebt es heute, das<lb/> Werk Bismarcks in den Staub zu ziehen, seinen Wert durch übertriebene Betonung<lb/> der Mängel und Schwächen, die ihm anhafteten, zu bestreiten. Aber wer den<lb/> ganzen Lauf unserer Geschichte überblickt, wer bedenkt, wie schwer das deutsche<lb/> Staatsleben seit tausend Jahren unter dem unstaätlichen Wesen des deutschen Volkes<lb/> gelitten hat, der wird vielmehr anerkennen müssen, daß die Einigung des deutschen<lb/> Volks in dem Bismarckschen Reich eine große Leistung gewesen ist. Die feste<lb/> politische Organisation, die seit 1871 die deutschen Einzelstaaten umschloß, hielt<lb/> nicht allein den Frieden im Innern und nach außen aufrecht, sondern gab auch<lb/> der wirtschaftlichen Kraft des deutschen Volkes den Rückhalt, ohne den sie sich<lb/> der Erweiterung des Betätigungsfeldes im neuen Reich nicht so unbesorgt hätte<lb/> erfreuen können. Der ungeheure Aufschwung unseres wirtschaftlichen Lebens bis<lb/> 1914 ist die unmittelbare Frucht der Reichsgründung gewesen. Aber auch politisch<lb/> stellt diese eine große Tat dar. Sie schuf ein glückliches Gleichgewicht zwischen<lb/> Reich und Einzelstaaten, Zentralisation und Partikularismus. Wohl wuchsen die<lb/> Aufgaben und damit der Verwaltungsapparat des Reichs unaufhaltsam) aber sie<lb/> taten das nicht so sehr, indem sie den Einzelstaaten Dinge wegnahmen, die sie<lb/> bisher gehabt hatten, als indem sie neu entstehende Gebiete wie das der Sozial¬<lb/> politik für sich in Anspruch nahmen. Darum vollzog sich dieses Wachsen des Reichs,<lb/> ohne daß es zu der in früherer Zeit üblichen Untreue des Partikularismus gegen<lb/> die Gesamtheit gekommen wäre. Mit einer in aller deutschen Geschichte uner¬<lb/> hörten Einheitlichkeit und Geschlossenheit konnte so das deutsche Volk 1914 in<lb/> den Kampf um sein weltpolitisches Dasein ziehen. Diese Einheit danken wir dem<lb/> Kaiserreich auch heute.</p><lb/> <p xml:id="ID_138" next="#ID_139"> Wenn freilich die historische Betrachtung das rechte Augenmaß gibt zur<lb/> Beurteilung dessen, was Bismarck geleistet hat, so schärft sie andererseits auch den<lb/> Blick für die Aufgaben, die er noch ungelöst gelassen hat. Die Reichsgründung<lb/> war ein Anfang, kein Abschluß. Sie gab dem deutschen Volk den äußeren Rahmen<lb/> eines starken Staatswesens,- ihn auszufüllen mit dem lebendigen Geiste der Staats¬<lb/> gesinnung, das hätte der Inhalt der Geschichte der folgenden Jahrzehnte werden<lb/> müssen. Eine solche Festigung des Reichs von innen heraus wurde um so<lb/> dringlicher, je stärker der machtpolitische Druck von außen her auf dem Reiche<lb/> lastete. Aber gerade diese Aufgabe ist nicht recht erkannt worden, weder von der<lb/> Reichsregierung, noch von dem deutschen Volke. Bismarck hat wohl im Kultur¬<lb/> kampf und im Sozialistengesetz den Versuch gemacht, politische Richtungen, die ihm</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0053]
Das deutsche Volk und das Deutsche Reich
Selbstverständlich konnte diese Lösung nicht ohne Härten vollzogen werden.
Nur durch Blut und Eisen, durch einen Bruderkrieg mit all seinen seelischen
Nöten wurde die Klarheit über die Vormacht in Deutschland geschaffen. Und
ein Teil des deutschen Volkes mußte dem neuen Reiche fernbleiben, weil der
dynastische Stolz der Habsburger sich dem glücklicheren Nebenbuhler ebensowenig
beugen mochte, wie das eigentümliche Gebilde der österreichisch-ungarischen
Monarchie in das national geschlossene Deutsche Reich hineinpaßte. Auch konnte
das feste Gerüst, das seit 1866 Norddeutschland, seit 1871 ganz Deutschland
schützend umgab, nicht aufgerichtet werden, ohne daß hier und da ein Nagel
schmerzhaft eingeschlagen wurde.
Eine unhistorische Betrachtungsweise, die sich allein durch die Versäumnisse,
Fehler und Enttäuschungen der letzten Jahre bestimmen läßt, liebt es heute, das
Werk Bismarcks in den Staub zu ziehen, seinen Wert durch übertriebene Betonung
der Mängel und Schwächen, die ihm anhafteten, zu bestreiten. Aber wer den
ganzen Lauf unserer Geschichte überblickt, wer bedenkt, wie schwer das deutsche
Staatsleben seit tausend Jahren unter dem unstaätlichen Wesen des deutschen Volkes
gelitten hat, der wird vielmehr anerkennen müssen, daß die Einigung des deutschen
Volks in dem Bismarckschen Reich eine große Leistung gewesen ist. Die feste
politische Organisation, die seit 1871 die deutschen Einzelstaaten umschloß, hielt
nicht allein den Frieden im Innern und nach außen aufrecht, sondern gab auch
der wirtschaftlichen Kraft des deutschen Volkes den Rückhalt, ohne den sie sich
der Erweiterung des Betätigungsfeldes im neuen Reich nicht so unbesorgt hätte
erfreuen können. Der ungeheure Aufschwung unseres wirtschaftlichen Lebens bis
1914 ist die unmittelbare Frucht der Reichsgründung gewesen. Aber auch politisch
stellt diese eine große Tat dar. Sie schuf ein glückliches Gleichgewicht zwischen
Reich und Einzelstaaten, Zentralisation und Partikularismus. Wohl wuchsen die
Aufgaben und damit der Verwaltungsapparat des Reichs unaufhaltsam) aber sie
taten das nicht so sehr, indem sie den Einzelstaaten Dinge wegnahmen, die sie
bisher gehabt hatten, als indem sie neu entstehende Gebiete wie das der Sozial¬
politik für sich in Anspruch nahmen. Darum vollzog sich dieses Wachsen des Reichs,
ohne daß es zu der in früherer Zeit üblichen Untreue des Partikularismus gegen
die Gesamtheit gekommen wäre. Mit einer in aller deutschen Geschichte uner¬
hörten Einheitlichkeit und Geschlossenheit konnte so das deutsche Volk 1914 in
den Kampf um sein weltpolitisches Dasein ziehen. Diese Einheit danken wir dem
Kaiserreich auch heute.
Wenn freilich die historische Betrachtung das rechte Augenmaß gibt zur
Beurteilung dessen, was Bismarck geleistet hat, so schärft sie andererseits auch den
Blick für die Aufgaben, die er noch ungelöst gelassen hat. Die Reichsgründung
war ein Anfang, kein Abschluß. Sie gab dem deutschen Volk den äußeren Rahmen
eines starken Staatswesens,- ihn auszufüllen mit dem lebendigen Geiste der Staats¬
gesinnung, das hätte der Inhalt der Geschichte der folgenden Jahrzehnte werden
müssen. Eine solche Festigung des Reichs von innen heraus wurde um so
dringlicher, je stärker der machtpolitische Druck von außen her auf dem Reiche
lastete. Aber gerade diese Aufgabe ist nicht recht erkannt worden, weder von der
Reichsregierung, noch von dem deutschen Volke. Bismarck hat wohl im Kultur¬
kampf und im Sozialistengesetz den Versuch gemacht, politische Richtungen, die ihm
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