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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Erstes Vierteljahr.

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Zur Schiildfrage

Mensch, der der Gnade bedürftig ist, hier gilt das Titanenwort! "Hast du nicht
alles selbst vollendet, heilig glühend Herz?!" --

Man wolle das nicht mißverstehen. Wenn ich auch der Meinung bin, daß
die Anthrvposophie keine christliche Philosophie ist, so will ich damit keineswegs
behaupten, daß kein Anhänger Steiners ein Christ sein könne. Es haben ja viele
Widersprüche in der Menschenbrust Platz.

Aber freilich: die Frage, ob den Christen die Anthroposophic angehe, ob sie-
christlichen Geistes sei, die beantworte ich auch mit Nein.




Die Zeit, in der wir leben, ist allen Grenzen abhold. Die Ideologie dieser
Zeit ist nicht die Überwindung der Grenzen, sondern ihre Beseitigung. Die
Menschen glauben heute, daß sich die Nachbarn lieben werden, wenn man die
Mauer zwischen ihren Gärten niederlegt. Ich vermag diesen Glauben nicht zu
teilen. Mir ist es in meiner Wissenschaft und in meiner menschlichen Erfahrung
immer so erschienen, das "Leben" bedeutet: Sich -- abgrenzen. -- Liebe aber,
Liebe, die diesen heute mißbranchtcstcn Namen verdient, ist Grenze und Über¬
windung der Grenze. In jeder wirklichen Liebe ist dieses "Dennoch" darin.

Wir sind heute das Volk ohne Grenzen. Die äußeren Grenzen unseres
Bolksleibes sind durchlöchert, die inneren, die der Organe lösen sich ans, und der
Pöbel aller Völker und aller Stände jubelt dazu.

Früher trugen wir das leibliche Schwert, unsre Grenzen zu wahren. Heute
können wir nur das geistige tragen, und es ist wahrlich das schlechtere nicht. Kein
"nßcrcr Feind kann es uns nehmen, nur wir selbst können eS stumpf werden lassen.

Scharf aber heißt nicht Ja -- sondern: Nein!

"Mein Reich ist nicht von dieser Welt."




Zur Schuldfrage

ter Untersuchungsausschuß des Reichstags hat in seiner Sitzung vom
9. März 1921 die Annahme folgender Feststellung beschlossen:

"Der Ausschuß hat die von den Sachverständigen erstatteten
Referate nebst den von ihnen beigebrachten Belegen aus den deut¬
schen, österreichisch-ungarischen und russischen Akten, aus dem eng-
" lischen Admiralstabswerk über den Weltkrieg und aus verschiedenen
"Etlichen französischen Angaben geprüft. Er hat zunächst festgestellt, daß

weder in Deutschland noch Osterreich-Ungarn

Anordnungen ergangen sind, denen der Charakter einer geheimen Mobilmachung
^gewohnt hätte. Die Frage, ob Rußland während eines längeren Zeitraumes
°r der amtlichen Mobilmachung im geheimen unmittelbare Kriegsvorbereitnnqen
troffen hat, soll noch geklärt werden.


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Zur Schiildfrage

Mensch, der der Gnade bedürftig ist, hier gilt das Titanenwort! „Hast du nicht
alles selbst vollendet, heilig glühend Herz?!" —

Man wolle das nicht mißverstehen. Wenn ich auch der Meinung bin, daß
die Anthrvposophie keine christliche Philosophie ist, so will ich damit keineswegs
behaupten, daß kein Anhänger Steiners ein Christ sein könne. Es haben ja viele
Widersprüche in der Menschenbrust Platz.

Aber freilich: die Frage, ob den Christen die Anthroposophic angehe, ob sie-
christlichen Geistes sei, die beantworte ich auch mit Nein.




Die Zeit, in der wir leben, ist allen Grenzen abhold. Die Ideologie dieser
Zeit ist nicht die Überwindung der Grenzen, sondern ihre Beseitigung. Die
Menschen glauben heute, daß sich die Nachbarn lieben werden, wenn man die
Mauer zwischen ihren Gärten niederlegt. Ich vermag diesen Glauben nicht zu
teilen. Mir ist es in meiner Wissenschaft und in meiner menschlichen Erfahrung
immer so erschienen, das „Leben" bedeutet: Sich — abgrenzen. — Liebe aber,
Liebe, die diesen heute mißbranchtcstcn Namen verdient, ist Grenze und Über¬
windung der Grenze. In jeder wirklichen Liebe ist dieses „Dennoch" darin.

Wir sind heute das Volk ohne Grenzen. Die äußeren Grenzen unseres
Bolksleibes sind durchlöchert, die inneren, die der Organe lösen sich ans, und der
Pöbel aller Völker und aller Stände jubelt dazu.

Früher trugen wir das leibliche Schwert, unsre Grenzen zu wahren. Heute
können wir nur das geistige tragen, und es ist wahrlich das schlechtere nicht. Kein
"nßcrcr Feind kann es uns nehmen, nur wir selbst können eS stumpf werden lassen.

Scharf aber heißt nicht Ja — sondern: Nein!

„Mein Reich ist nicht von dieser Welt."




Zur Schuldfrage

ter Untersuchungsausschuß des Reichstags hat in seiner Sitzung vom
9. März 1921 die Annahme folgender Feststellung beschlossen:

„Der Ausschuß hat die von den Sachverständigen erstatteten
Referate nebst den von ihnen beigebrachten Belegen aus den deut¬
schen, österreichisch-ungarischen und russischen Akten, aus dem eng-
» lischen Admiralstabswerk über den Weltkrieg und aus verschiedenen
"Etlichen französischen Angaben geprüft. Er hat zunächst festgestellt, daß

weder in Deutschland noch Osterreich-Ungarn

Anordnungen ergangen sind, denen der Charakter einer geheimen Mobilmachung
^gewohnt hätte. Die Frage, ob Rußland während eines längeren Zeitraumes
°r der amtlichen Mobilmachung im geheimen unmittelbare Kriegsvorbereitnnqen
troffen hat, soll noch geklärt werden.


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[0321] Zur Schiildfrage Mensch, der der Gnade bedürftig ist, hier gilt das Titanenwort! „Hast du nicht alles selbst vollendet, heilig glühend Herz?!" — Man wolle das nicht mißverstehen. Wenn ich auch der Meinung bin, daß die Anthrvposophie keine christliche Philosophie ist, so will ich damit keineswegs behaupten, daß kein Anhänger Steiners ein Christ sein könne. Es haben ja viele Widersprüche in der Menschenbrust Platz. Aber freilich: die Frage, ob den Christen die Anthroposophic angehe, ob sie- christlichen Geistes sei, die beantworte ich auch mit Nein. Die Zeit, in der wir leben, ist allen Grenzen abhold. Die Ideologie dieser Zeit ist nicht die Überwindung der Grenzen, sondern ihre Beseitigung. Die Menschen glauben heute, daß sich die Nachbarn lieben werden, wenn man die Mauer zwischen ihren Gärten niederlegt. Ich vermag diesen Glauben nicht zu teilen. Mir ist es in meiner Wissenschaft und in meiner menschlichen Erfahrung immer so erschienen, das „Leben" bedeutet: Sich — abgrenzen. — Liebe aber, Liebe, die diesen heute mißbranchtcstcn Namen verdient, ist Grenze und Über¬ windung der Grenze. In jeder wirklichen Liebe ist dieses „Dennoch" darin. Wir sind heute das Volk ohne Grenzen. Die äußeren Grenzen unseres Bolksleibes sind durchlöchert, die inneren, die der Organe lösen sich ans, und der Pöbel aller Völker und aller Stände jubelt dazu. Früher trugen wir das leibliche Schwert, unsre Grenzen zu wahren. Heute können wir nur das geistige tragen, und es ist wahrlich das schlechtere nicht. Kein "nßcrcr Feind kann es uns nehmen, nur wir selbst können eS stumpf werden lassen. Scharf aber heißt nicht Ja — sondern: Nein! „Mein Reich ist nicht von dieser Welt." Zur Schuldfrage ter Untersuchungsausschuß des Reichstags hat in seiner Sitzung vom 9. März 1921 die Annahme folgender Feststellung beschlossen: „Der Ausschuß hat die von den Sachverständigen erstatteten Referate nebst den von ihnen beigebrachten Belegen aus den deut¬ schen, österreichisch-ungarischen und russischen Akten, aus dem eng- » lischen Admiralstabswerk über den Weltkrieg und aus verschiedenen "Etlichen französischen Angaben geprüft. Er hat zunächst festgestellt, daß weder in Deutschland noch Osterreich-Ungarn Anordnungen ergangen sind, denen der Charakter einer geheimen Mobilmachung ^gewohnt hätte. Die Frage, ob Rußland während eines längeren Zeitraumes °r der amtlichen Mobilmachung im geheimen unmittelbare Kriegsvorbereitnnqen troffen hat, soll noch geklärt werden. 20'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_338432/321>, abgerufen am 24.07.2024.