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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Erstes Vierteljahr.

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Anthroposophie, ZZiologie und Christentum

der Anthrvposoph nicht mit Leib, Seele und Geist aus, bei welcher Dreiheit die
Menschen sich zu allen Zeiten etwas, und zwar in der Hauptsache das gleiche
haben denken können?

Die Antwort scheint mir die zu sein, daß hier einer der Hauptpunkte ist,
wo das naturwissenschaftliche Denken in das indisch-mystische hereinbricht. -- Der
Anthroposvph, der ja alles erkennt, kann sich nicht damit begnügen, das Geistige
und das Physische als zwei total verschiedene Sphären nebeneinander stehen zu
lassen und ihre Einheit in der Wirklichkeit des lebendigen Menschen gläubig hin¬
zunehmen, er muß sie "verstehen". Und so benutzt er zum Verstehen die Sprache
der Physik, die Infinitesimalrechnung. Um den Übergang eines Systems von
einem Zustand in den andern verstehen, d. h. aussprechen zu können, betrachtet
der Physiker die Zustandsänderung in kleinen, immer noch kleineren Zeiten, um
schließlich mit der mathematischen Operation des GrenzübergaugS zu den denkbar
kleinsten Differenzen die lückenlose Kurve des Ablaufs, d. h. die vollständige
Sprache des Geschehens zu bekommen. -- Dein analog schaltet der Anthrvposoph
verschiedene Zwischenglieder zwischen die der Definition nach nicht in einer
Sprache zu benennenden Wesenheiten und will dadurch ihr Einswerden in der
Wirklichkeit verstehen! Er schüttet die ganze Schale seiner Verachtung über die
Materialisten aus, die am bloßen Stoffe kleben, während er "die irdische Brust
im Morgenröte des Geistes bade"/ aber wenn dieses nicht die gröbste Materiali¬
sierung des Geistes ist, dann weiß ich nicht, was man noch Materialismus nennen
soll. -- Oder nein, der ehrliche Materialist braucht sich diesen Mißbrauch seines
Namens nicht gefallen zu lassen, dies ist nur Vermischung von Sinnlichkeit und
Geist. Entweder gibt es "Geist", und dann ist er etwas total anderes als
"Leib", so anders, daß von Übergängen, ja auch nur von Grenzen zu reden,
Unsinn ist, etwas, dessen Verwirklichung im Leibe in jedem Einzelfalle das
Wunder bleibt, daS in der Sprache deS Evangeliums "das Wort ward Fleisch"
genannt wird. Oder es gibt den Geist nicht. Der konsequente Materialismus
als Weltanschauung ist jedenfalls reinlicher als diese Scheingeistigkeit.

"Der Geist des Wirklichen ist das wahre Ideelle", sagt Goethe. Da ist
nicht neben, bei oder an dein Physischen etwas Geistiges, sondern das Physische
ist das Geistige, wofern es den "großen Gedanken der Schöpfung" an seinem
Teile reinlich ausdrückt.

Ranke hat das für die Geschichte in dem schönen Worte ausgesprochen:
^Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott". Von der Natur aus könnte man es so
sagen: Es ist kein weiterer Weg zum Reiche Gottes von der entfalteten Blüte
als von dem erfülltesten Gläubigen.

Wie "geistig" übrigens diese Lehre ist, das illustriert die Angabe Steiners,
die Aura deö Menschen, 'also die Geistesübergestalt, die nur das GeistcSauge zu
sehen vermag, sei im Durchschnitt doppelt so hoch und viermal so breit wie der
physische Leib. -- (Schluß folgt.)




Anthroposophie, ZZiologie und Christentum

der Anthrvposoph nicht mit Leib, Seele und Geist aus, bei welcher Dreiheit die
Menschen sich zu allen Zeiten etwas, und zwar in der Hauptsache das gleiche
haben denken können?

Die Antwort scheint mir die zu sein, daß hier einer der Hauptpunkte ist,
wo das naturwissenschaftliche Denken in das indisch-mystische hereinbricht. — Der
Anthroposvph, der ja alles erkennt, kann sich nicht damit begnügen, das Geistige
und das Physische als zwei total verschiedene Sphären nebeneinander stehen zu
lassen und ihre Einheit in der Wirklichkeit des lebendigen Menschen gläubig hin¬
zunehmen, er muß sie „verstehen". Und so benutzt er zum Verstehen die Sprache
der Physik, die Infinitesimalrechnung. Um den Übergang eines Systems von
einem Zustand in den andern verstehen, d. h. aussprechen zu können, betrachtet
der Physiker die Zustandsänderung in kleinen, immer noch kleineren Zeiten, um
schließlich mit der mathematischen Operation des GrenzübergaugS zu den denkbar
kleinsten Differenzen die lückenlose Kurve des Ablaufs, d. h. die vollständige
Sprache des Geschehens zu bekommen. — Dein analog schaltet der Anthrvposoph
verschiedene Zwischenglieder zwischen die der Definition nach nicht in einer
Sprache zu benennenden Wesenheiten und will dadurch ihr Einswerden in der
Wirklichkeit verstehen! Er schüttet die ganze Schale seiner Verachtung über die
Materialisten aus, die am bloßen Stoffe kleben, während er „die irdische Brust
im Morgenröte des Geistes bade"/ aber wenn dieses nicht die gröbste Materiali¬
sierung des Geistes ist, dann weiß ich nicht, was man noch Materialismus nennen
soll. — Oder nein, der ehrliche Materialist braucht sich diesen Mißbrauch seines
Namens nicht gefallen zu lassen, dies ist nur Vermischung von Sinnlichkeit und
Geist. Entweder gibt es „Geist", und dann ist er etwas total anderes als
„Leib", so anders, daß von Übergängen, ja auch nur von Grenzen zu reden,
Unsinn ist, etwas, dessen Verwirklichung im Leibe in jedem Einzelfalle das
Wunder bleibt, daS in der Sprache deS Evangeliums „das Wort ward Fleisch"
genannt wird. Oder es gibt den Geist nicht. Der konsequente Materialismus
als Weltanschauung ist jedenfalls reinlicher als diese Scheingeistigkeit.

„Der Geist des Wirklichen ist das wahre Ideelle", sagt Goethe. Da ist
nicht neben, bei oder an dein Physischen etwas Geistiges, sondern das Physische
ist das Geistige, wofern es den „großen Gedanken der Schöpfung" an seinem
Teile reinlich ausdrückt.

Ranke hat das für die Geschichte in dem schönen Worte ausgesprochen:
^Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott". Von der Natur aus könnte man es so
sagen: Es ist kein weiterer Weg zum Reiche Gottes von der entfalteten Blüte
als von dem erfülltesten Gläubigen.

Wie „geistig" übrigens diese Lehre ist, das illustriert die Angabe Steiners,
die Aura deö Menschen, 'also die Geistesübergestalt, die nur das GeistcSauge zu
sehen vermag, sei im Durchschnitt doppelt so hoch und viermal so breit wie der
physische Leib. — (Schluß folgt.)




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[0283] Anthroposophie, ZZiologie und Christentum der Anthrvposoph nicht mit Leib, Seele und Geist aus, bei welcher Dreiheit die Menschen sich zu allen Zeiten etwas, und zwar in der Hauptsache das gleiche haben denken können? Die Antwort scheint mir die zu sein, daß hier einer der Hauptpunkte ist, wo das naturwissenschaftliche Denken in das indisch-mystische hereinbricht. — Der Anthroposvph, der ja alles erkennt, kann sich nicht damit begnügen, das Geistige und das Physische als zwei total verschiedene Sphären nebeneinander stehen zu lassen und ihre Einheit in der Wirklichkeit des lebendigen Menschen gläubig hin¬ zunehmen, er muß sie „verstehen". Und so benutzt er zum Verstehen die Sprache der Physik, die Infinitesimalrechnung. Um den Übergang eines Systems von einem Zustand in den andern verstehen, d. h. aussprechen zu können, betrachtet der Physiker die Zustandsänderung in kleinen, immer noch kleineren Zeiten, um schließlich mit der mathematischen Operation des GrenzübergaugS zu den denkbar kleinsten Differenzen die lückenlose Kurve des Ablaufs, d. h. die vollständige Sprache des Geschehens zu bekommen. — Dein analog schaltet der Anthrvposoph verschiedene Zwischenglieder zwischen die der Definition nach nicht in einer Sprache zu benennenden Wesenheiten und will dadurch ihr Einswerden in der Wirklichkeit verstehen! Er schüttet die ganze Schale seiner Verachtung über die Materialisten aus, die am bloßen Stoffe kleben, während er „die irdische Brust im Morgenröte des Geistes bade"/ aber wenn dieses nicht die gröbste Materiali¬ sierung des Geistes ist, dann weiß ich nicht, was man noch Materialismus nennen soll. — Oder nein, der ehrliche Materialist braucht sich diesen Mißbrauch seines Namens nicht gefallen zu lassen, dies ist nur Vermischung von Sinnlichkeit und Geist. Entweder gibt es „Geist", und dann ist er etwas total anderes als „Leib", so anders, daß von Übergängen, ja auch nur von Grenzen zu reden, Unsinn ist, etwas, dessen Verwirklichung im Leibe in jedem Einzelfalle das Wunder bleibt, daS in der Sprache deS Evangeliums „das Wort ward Fleisch" genannt wird. Oder es gibt den Geist nicht. Der konsequente Materialismus als Weltanschauung ist jedenfalls reinlicher als diese Scheingeistigkeit. „Der Geist des Wirklichen ist das wahre Ideelle", sagt Goethe. Da ist nicht neben, bei oder an dein Physischen etwas Geistiges, sondern das Physische ist das Geistige, wofern es den „großen Gedanken der Schöpfung" an seinem Teile reinlich ausdrückt. Ranke hat das für die Geschichte in dem schönen Worte ausgesprochen: ^Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott". Von der Natur aus könnte man es so sagen: Es ist kein weiterer Weg zum Reiche Gottes von der entfalteten Blüte als von dem erfülltesten Gläubigen. Wie „geistig" übrigens diese Lehre ist, das illustriert die Angabe Steiners, die Aura deö Menschen, 'also die Geistesübergestalt, die nur das GeistcSauge zu sehen vermag, sei im Durchschnitt doppelt so hoch und viermal so breit wie der physische Leib. — (Schluß folgt.)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_338432/283>, abgerufen am 04.07.2024.