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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Erstes Vierteljahr.

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Die Lage der Sudetendcutschen

führungen folgte, erschaudernd gleichsam, ein Stück ums andere aus dein lebendigen
Volksganzen herausgerissen, fremdem ErobereUvillen anheimgegeben. . . .

Nur an einer Stelle schien dem Beobachter keine Änderung eingetreten,
erschien es ihm, als hätte der Friedensvertrag nur eben noch ein paar Handvoll
Erde auf ein Grab geschaufelt, in dem die nationale Kultur eines einst deutsch
gewesenen Volksstammes schon vordem ruhte. Er sagt nämlich: "Die Deutschen
Böhmens, mehr denn zwei Millionen zählend, waren bereits im alten Kaiserstaate
ausgeliefert, so daß die Neuordnung der Verhältnisse kaum eine Änderung herbei¬
geführt hat. Gleiches gilt für Mähren und die schlesischen Grenzlande."

In der Tat -- hier scheint Zorn und Empörung innezuhalten, einer stilleren
Trauer Platz zu macheu. "Hier ist nichts mehr zu machen", denkt der Leser, macht
sein Krenz und wendet sich zum nächsten Absatz.

Um so nachdrücklicher mochte der Schreiber dieser Zeilen darauf hinweisen,
daß das deutsche Volk der Sudctcnlande in seiner herben Kampfesfreudigkeit nie
''von dein Schlage war, der sich willenlos "ausliefern" ließe, daß aber anderseits
auch die "Neuordnung der Verhältnisse" an seiner Lage keineswegs so spurlos
vorübergegangen ist, sondern deren überaus gefährlichen, wenn auch nicht ver¬
zweifelten Ernst nun erst voll und ganz ermessen läßt.

Professor Günther hat selbstverständlich vollkommen recht, wenn er daran
erinnert, daß die Sudetendeutschen schon im alten Osterreich um ihre nationale
Existenz beständig zu kämpfen hatten. (Wenn auch dieser rüstige Kampf selbst mit
einem überkräftigen Gegner durch das Bild des "AusgeliefcrtseiuS" nicht richtig
veranschaulicht wird!) Aber im Interesse der gemeinsamen Sache, der wir beide
dienen, glaube ich dennoch mit allem Nachdruck betonen zu sollen, daß der hoch¬
verdiente Gelehrte im Irrtum ist, wenn er glaubt, daß diese iunerösterrcichische Kampf-
situation nicht durch den Ausgang des Weltkrieges eine sehr merkbare und bedenk¬
liche Verschärfung erfahren hat. Ist es nicht schon vo ipso aus dem hartnäckigen
Widerstande deutlich, den dieSndetendeutschenselbst derEinverleibung in den tschechischen
Staat entgegensetzten, daß sie von dieser Verschiebung ihrer Staatsangehörigkeit
das Schlimmste für ihre nationale Existenz erwarteten? Würden sie, wo nicht
ernste Gefahren im Spiele gewesen wären, das unvermeidliche Odium des
monatelangen Frondierens auf sich geladen haben?

In der Tat: wenn auch gewiß die kulturelle Leistungsfähigkeit der Tschechen,
die redlich humanitäre Grundeinstellung ihres Staatsoberhauptes nicht angezweifelt
werden soll, so kann man sich doch der traurigen Erkenntnis nicht verschließen, daß
diese so Plötzlich zu weltpolitischer Bedeutung emporgeschnellte Nation im neuen
Staate sofort daran gegangen ist, ihre Offensive zur Stellung gegenüber den
deutschen Landesbewohnern faktisch und legislatorisch höchst unmißverständlich fest¬
zulegen.

Wir halten uns bei der Begründung dieses Urteils nicht an die Mitteilungen
sudctischer Nachrichtenstellen, um jeden Vovwurf propagandistischer Übertreibung
". limino abweisen zu können. Neben unzweifelhaften und unbestrittenen Tatsachen
der Gesetzgebung und Machtverteilung sollen vielmehr nur die Stimmen der
tschechischen Presse selbst berücksichtigt werden, die, einer hyperbolischer Darstellung
der deutschen Bedrängnisse unverdächtig, zugleich wertvolle Einblicke in Kampfes-
und Anschauungsweise der Gegenseite eröffnet.


Die Lage der Sudetendcutschen

führungen folgte, erschaudernd gleichsam, ein Stück ums andere aus dein lebendigen
Volksganzen herausgerissen, fremdem ErobereUvillen anheimgegeben. . . .

Nur an einer Stelle schien dem Beobachter keine Änderung eingetreten,
erschien es ihm, als hätte der Friedensvertrag nur eben noch ein paar Handvoll
Erde auf ein Grab geschaufelt, in dem die nationale Kultur eines einst deutsch
gewesenen Volksstammes schon vordem ruhte. Er sagt nämlich: „Die Deutschen
Böhmens, mehr denn zwei Millionen zählend, waren bereits im alten Kaiserstaate
ausgeliefert, so daß die Neuordnung der Verhältnisse kaum eine Änderung herbei¬
geführt hat. Gleiches gilt für Mähren und die schlesischen Grenzlande."

In der Tat — hier scheint Zorn und Empörung innezuhalten, einer stilleren
Trauer Platz zu macheu. „Hier ist nichts mehr zu machen", denkt der Leser, macht
sein Krenz und wendet sich zum nächsten Absatz.

Um so nachdrücklicher mochte der Schreiber dieser Zeilen darauf hinweisen,
daß das deutsche Volk der Sudctcnlande in seiner herben Kampfesfreudigkeit nie
''von dein Schlage war, der sich willenlos „ausliefern" ließe, daß aber anderseits
auch die „Neuordnung der Verhältnisse" an seiner Lage keineswegs so spurlos
vorübergegangen ist, sondern deren überaus gefährlichen, wenn auch nicht ver¬
zweifelten Ernst nun erst voll und ganz ermessen läßt.

Professor Günther hat selbstverständlich vollkommen recht, wenn er daran
erinnert, daß die Sudetendeutschen schon im alten Osterreich um ihre nationale
Existenz beständig zu kämpfen hatten. (Wenn auch dieser rüstige Kampf selbst mit
einem überkräftigen Gegner durch das Bild des „AusgeliefcrtseiuS" nicht richtig
veranschaulicht wird!) Aber im Interesse der gemeinsamen Sache, der wir beide
dienen, glaube ich dennoch mit allem Nachdruck betonen zu sollen, daß der hoch¬
verdiente Gelehrte im Irrtum ist, wenn er glaubt, daß diese iunerösterrcichische Kampf-
situation nicht durch den Ausgang des Weltkrieges eine sehr merkbare und bedenk¬
liche Verschärfung erfahren hat. Ist es nicht schon vo ipso aus dem hartnäckigen
Widerstande deutlich, den dieSndetendeutschenselbst derEinverleibung in den tschechischen
Staat entgegensetzten, daß sie von dieser Verschiebung ihrer Staatsangehörigkeit
das Schlimmste für ihre nationale Existenz erwarteten? Würden sie, wo nicht
ernste Gefahren im Spiele gewesen wären, das unvermeidliche Odium des
monatelangen Frondierens auf sich geladen haben?

In der Tat: wenn auch gewiß die kulturelle Leistungsfähigkeit der Tschechen,
die redlich humanitäre Grundeinstellung ihres Staatsoberhauptes nicht angezweifelt
werden soll, so kann man sich doch der traurigen Erkenntnis nicht verschließen, daß
diese so Plötzlich zu weltpolitischer Bedeutung emporgeschnellte Nation im neuen
Staate sofort daran gegangen ist, ihre Offensive zur Stellung gegenüber den
deutschen Landesbewohnern faktisch und legislatorisch höchst unmißverständlich fest¬
zulegen.

Wir halten uns bei der Begründung dieses Urteils nicht an die Mitteilungen
sudctischer Nachrichtenstellen, um jeden Vovwurf propagandistischer Übertreibung
«. limino abweisen zu können. Neben unzweifelhaften und unbestrittenen Tatsachen
der Gesetzgebung und Machtverteilung sollen vielmehr nur die Stimmen der
tschechischen Presse selbst berücksichtigt werden, die, einer hyperbolischer Darstellung
der deutschen Bedrängnisse unverdächtig, zugleich wertvolle Einblicke in Kampfes-
und Anschauungsweise der Gegenseite eröffnet.


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[0229] Die Lage der Sudetendcutschen führungen folgte, erschaudernd gleichsam, ein Stück ums andere aus dein lebendigen Volksganzen herausgerissen, fremdem ErobereUvillen anheimgegeben. . . . Nur an einer Stelle schien dem Beobachter keine Änderung eingetreten, erschien es ihm, als hätte der Friedensvertrag nur eben noch ein paar Handvoll Erde auf ein Grab geschaufelt, in dem die nationale Kultur eines einst deutsch gewesenen Volksstammes schon vordem ruhte. Er sagt nämlich: „Die Deutschen Böhmens, mehr denn zwei Millionen zählend, waren bereits im alten Kaiserstaate ausgeliefert, so daß die Neuordnung der Verhältnisse kaum eine Änderung herbei¬ geführt hat. Gleiches gilt für Mähren und die schlesischen Grenzlande." In der Tat — hier scheint Zorn und Empörung innezuhalten, einer stilleren Trauer Platz zu macheu. „Hier ist nichts mehr zu machen", denkt der Leser, macht sein Krenz und wendet sich zum nächsten Absatz. Um so nachdrücklicher mochte der Schreiber dieser Zeilen darauf hinweisen, daß das deutsche Volk der Sudctcnlande in seiner herben Kampfesfreudigkeit nie ''von dein Schlage war, der sich willenlos „ausliefern" ließe, daß aber anderseits auch die „Neuordnung der Verhältnisse" an seiner Lage keineswegs so spurlos vorübergegangen ist, sondern deren überaus gefährlichen, wenn auch nicht ver¬ zweifelten Ernst nun erst voll und ganz ermessen läßt. Professor Günther hat selbstverständlich vollkommen recht, wenn er daran erinnert, daß die Sudetendeutschen schon im alten Osterreich um ihre nationale Existenz beständig zu kämpfen hatten. (Wenn auch dieser rüstige Kampf selbst mit einem überkräftigen Gegner durch das Bild des „AusgeliefcrtseiuS" nicht richtig veranschaulicht wird!) Aber im Interesse der gemeinsamen Sache, der wir beide dienen, glaube ich dennoch mit allem Nachdruck betonen zu sollen, daß der hoch¬ verdiente Gelehrte im Irrtum ist, wenn er glaubt, daß diese iunerösterrcichische Kampf- situation nicht durch den Ausgang des Weltkrieges eine sehr merkbare und bedenk¬ liche Verschärfung erfahren hat. Ist es nicht schon vo ipso aus dem hartnäckigen Widerstande deutlich, den dieSndetendeutschenselbst derEinverleibung in den tschechischen Staat entgegensetzten, daß sie von dieser Verschiebung ihrer Staatsangehörigkeit das Schlimmste für ihre nationale Existenz erwarteten? Würden sie, wo nicht ernste Gefahren im Spiele gewesen wären, das unvermeidliche Odium des monatelangen Frondierens auf sich geladen haben? In der Tat: wenn auch gewiß die kulturelle Leistungsfähigkeit der Tschechen, die redlich humanitäre Grundeinstellung ihres Staatsoberhauptes nicht angezweifelt werden soll, so kann man sich doch der traurigen Erkenntnis nicht verschließen, daß diese so Plötzlich zu weltpolitischer Bedeutung emporgeschnellte Nation im neuen Staate sofort daran gegangen ist, ihre Offensive zur Stellung gegenüber den deutschen Landesbewohnern faktisch und legislatorisch höchst unmißverständlich fest¬ zulegen. Wir halten uns bei der Begründung dieses Urteils nicht an die Mitteilungen sudctischer Nachrichtenstellen, um jeden Vovwurf propagandistischer Übertreibung «. limino abweisen zu können. Neben unzweifelhaften und unbestrittenen Tatsachen der Gesetzgebung und Machtverteilung sollen vielmehr nur die Stimmen der tschechischen Presse selbst berücksichtigt werden, die, einer hyperbolischer Darstellung der deutschen Bedrängnisse unverdächtig, zugleich wertvolle Einblicke in Kampfes- und Anschauungsweise der Gegenseite eröffnet.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_338432/229>, abgerufen am 29.12.2024.