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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Erstes Vierteljahr.

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Der französische Revanchegedanke und deutsche Französeloi

jahrhundert Europa herausfordernd betrachtet, und das Europa heute
mit scheelen Blicken ansieht. Sie sind es, die dadurch, daß sie Deutsch¬
land verpreußten, ihm die Sympathie nahmen, die einst seine tiefe
Wissenschaft und seine arbeitsame Bescheidenheit umgab) sie sind es, die
aus dem Schoße von Sitten, die man gemildert glaubte, tausend
barbarische Leidenschaften hervorsprießen ließen? und der Haß, der zu
dieser Stunde allmählich sein Volk (das Volk Wilhelms II.) überzieht,
ist trotz allem ein schöner Haß,' denn es ist der Haß gegen die Macht,
den Despotismus und die Brutalität."

Verbrämt mit wohlbekannten Freiheits- und Kulturphrasen, deren Hohlheit
die Gewalttat von Versailles, die Knechtung Deutschlands im allgemeinen und
die französische Willkttrherrschaft über Oberschlesien im besonderen fast mit jedem
. neuen Tage von frischem erhärten, klingt durch diesen "Haßgesang" der Schrei
nach Rache für Sadowa, für die Begründung einer starken, geeinten, gleich¬
berechtigten deutschen Großmacht als solchen,' das Bismarckisch-Wilhelminische
Werk an sich, nicht die auswärtige Politik ihrer Nachfolger wird als die einzige
Quelle des Hasses gegen Deutschland namhaft gemacht, und die Sehnsucht nach
den Zeiten, da die Deutschen nur das Volk der Dichter und Denker waren,
findet in der Darlegung des "Matin" einen geradezu klassischen Ausdruck. Dieser
Bestandteil der französischen Revanchepolitik darf in Deutschland um so weniger
übersehen werden, je eindringlicher er -- den Cl6meneeau und Fons in Fleisch
und Blut übergegangen -- zur Wachsamkeit gegenüber der künftigen Politik
Frankreichs mahnt, das die vollständige Zertrümmerung Deutschlands bisher
noch nicht erreicht hat. Während des Zeitraumes 1898--1905 überwog natur¬
gemäß der Revanchegcdanke im engeren Sinne, das heißt wegen Elsaß-Lothringens.
Auch eine Dresdener Korrespondenz, die der "Temps" am 22. November 1903
veröffentlichte, feiert das französische Volk als die auf dem Gebiete der inter¬
nationalen Schiedsgerichte am meisten vorgeschrittene Nation, um folgendes Be¬
kenntnis zum Nevanchegedanken abzulegen:


"Wir haben aber die Pflicht, indem wir von dem fernen Ideal
träumen, nicht die nahe Wirklichkeit aus dem Auge zu verlieren. Wir
haben Zurückforderungen zu formulieren, die wir niemals
vergessen sollten. Und in der zukünftigen Zeit muß der französische
Gedanke energisch repräsentiert werden, wenn wir wollen, daß er den
Platz einnimmt, der ihm gebührt. Hüten wir uns zu glauben, daß die
deutsche Seele, die italienische Seele, um nur von den nächsten Völkern
zu sprechen, sich auf derselben Stufe des Fortschritts befinden wie die
französische Seele. Wir sind weit voraus, und deswegen ohne
Zweifel träumen wir von universaler Brüderlichkeit (!), während die
anderen noch die nationale Brüderlichkeit verlangen."

Drei Tage nach dieser Veröffentlichung des "Temps", am 25. November 1903,
hat der Generalrat des Seinedepartements der "universalen Brüderlichkeit"
der Franzosen ein artiges Denkmal gesetzt: er lehnte alle Anträge ab, die von
ihm Beschlüsse zugunsten einer internationalen Abrüstung forderten, und beschloß,
den Wortlaut des 1371 in der Nationalversammlung zu Bordeaux von
den elsaß-lothringischen Abgeordneten verlesenen Protestes gegen die


Der französische Revanchegedanke und deutsche Französeloi

jahrhundert Europa herausfordernd betrachtet, und das Europa heute
mit scheelen Blicken ansieht. Sie sind es, die dadurch, daß sie Deutsch¬
land verpreußten, ihm die Sympathie nahmen, die einst seine tiefe
Wissenschaft und seine arbeitsame Bescheidenheit umgab) sie sind es, die
aus dem Schoße von Sitten, die man gemildert glaubte, tausend
barbarische Leidenschaften hervorsprießen ließen? und der Haß, der zu
dieser Stunde allmählich sein Volk (das Volk Wilhelms II.) überzieht,
ist trotz allem ein schöner Haß,' denn es ist der Haß gegen die Macht,
den Despotismus und die Brutalität."

Verbrämt mit wohlbekannten Freiheits- und Kulturphrasen, deren Hohlheit
die Gewalttat von Versailles, die Knechtung Deutschlands im allgemeinen und
die französische Willkttrherrschaft über Oberschlesien im besonderen fast mit jedem
. neuen Tage von frischem erhärten, klingt durch diesen „Haßgesang" der Schrei
nach Rache für Sadowa, für die Begründung einer starken, geeinten, gleich¬
berechtigten deutschen Großmacht als solchen,' das Bismarckisch-Wilhelminische
Werk an sich, nicht die auswärtige Politik ihrer Nachfolger wird als die einzige
Quelle des Hasses gegen Deutschland namhaft gemacht, und die Sehnsucht nach
den Zeiten, da die Deutschen nur das Volk der Dichter und Denker waren,
findet in der Darlegung des „Matin" einen geradezu klassischen Ausdruck. Dieser
Bestandteil der französischen Revanchepolitik darf in Deutschland um so weniger
übersehen werden, je eindringlicher er — den Cl6meneeau und Fons in Fleisch
und Blut übergegangen — zur Wachsamkeit gegenüber der künftigen Politik
Frankreichs mahnt, das die vollständige Zertrümmerung Deutschlands bisher
noch nicht erreicht hat. Während des Zeitraumes 1898—1905 überwog natur¬
gemäß der Revanchegcdanke im engeren Sinne, das heißt wegen Elsaß-Lothringens.
Auch eine Dresdener Korrespondenz, die der „Temps" am 22. November 1903
veröffentlichte, feiert das französische Volk als die auf dem Gebiete der inter¬
nationalen Schiedsgerichte am meisten vorgeschrittene Nation, um folgendes Be¬
kenntnis zum Nevanchegedanken abzulegen:


„Wir haben aber die Pflicht, indem wir von dem fernen Ideal
träumen, nicht die nahe Wirklichkeit aus dem Auge zu verlieren. Wir
haben Zurückforderungen zu formulieren, die wir niemals
vergessen sollten. Und in der zukünftigen Zeit muß der französische
Gedanke energisch repräsentiert werden, wenn wir wollen, daß er den
Platz einnimmt, der ihm gebührt. Hüten wir uns zu glauben, daß die
deutsche Seele, die italienische Seele, um nur von den nächsten Völkern
zu sprechen, sich auf derselben Stufe des Fortschritts befinden wie die
französische Seele. Wir sind weit voraus, und deswegen ohne
Zweifel träumen wir von universaler Brüderlichkeit (!), während die
anderen noch die nationale Brüderlichkeit verlangen."

Drei Tage nach dieser Veröffentlichung des „Temps", am 25. November 1903,
hat der Generalrat des Seinedepartements der „universalen Brüderlichkeit"
der Franzosen ein artiges Denkmal gesetzt: er lehnte alle Anträge ab, die von
ihm Beschlüsse zugunsten einer internationalen Abrüstung forderten, und beschloß,
den Wortlaut des 1371 in der Nationalversammlung zu Bordeaux von
den elsaß-lothringischen Abgeordneten verlesenen Protestes gegen die


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[0108] Der französische Revanchegedanke und deutsche Französeloi jahrhundert Europa herausfordernd betrachtet, und das Europa heute mit scheelen Blicken ansieht. Sie sind es, die dadurch, daß sie Deutsch¬ land verpreußten, ihm die Sympathie nahmen, die einst seine tiefe Wissenschaft und seine arbeitsame Bescheidenheit umgab) sie sind es, die aus dem Schoße von Sitten, die man gemildert glaubte, tausend barbarische Leidenschaften hervorsprießen ließen? und der Haß, der zu dieser Stunde allmählich sein Volk (das Volk Wilhelms II.) überzieht, ist trotz allem ein schöner Haß,' denn es ist der Haß gegen die Macht, den Despotismus und die Brutalität." Verbrämt mit wohlbekannten Freiheits- und Kulturphrasen, deren Hohlheit die Gewalttat von Versailles, die Knechtung Deutschlands im allgemeinen und die französische Willkttrherrschaft über Oberschlesien im besonderen fast mit jedem . neuen Tage von frischem erhärten, klingt durch diesen „Haßgesang" der Schrei nach Rache für Sadowa, für die Begründung einer starken, geeinten, gleich¬ berechtigten deutschen Großmacht als solchen,' das Bismarckisch-Wilhelminische Werk an sich, nicht die auswärtige Politik ihrer Nachfolger wird als die einzige Quelle des Hasses gegen Deutschland namhaft gemacht, und die Sehnsucht nach den Zeiten, da die Deutschen nur das Volk der Dichter und Denker waren, findet in der Darlegung des „Matin" einen geradezu klassischen Ausdruck. Dieser Bestandteil der französischen Revanchepolitik darf in Deutschland um so weniger übersehen werden, je eindringlicher er — den Cl6meneeau und Fons in Fleisch und Blut übergegangen — zur Wachsamkeit gegenüber der künftigen Politik Frankreichs mahnt, das die vollständige Zertrümmerung Deutschlands bisher noch nicht erreicht hat. Während des Zeitraumes 1898—1905 überwog natur¬ gemäß der Revanchegcdanke im engeren Sinne, das heißt wegen Elsaß-Lothringens. Auch eine Dresdener Korrespondenz, die der „Temps" am 22. November 1903 veröffentlichte, feiert das französische Volk als die auf dem Gebiete der inter¬ nationalen Schiedsgerichte am meisten vorgeschrittene Nation, um folgendes Be¬ kenntnis zum Nevanchegedanken abzulegen: „Wir haben aber die Pflicht, indem wir von dem fernen Ideal träumen, nicht die nahe Wirklichkeit aus dem Auge zu verlieren. Wir haben Zurückforderungen zu formulieren, die wir niemals vergessen sollten. Und in der zukünftigen Zeit muß der französische Gedanke energisch repräsentiert werden, wenn wir wollen, daß er den Platz einnimmt, der ihm gebührt. Hüten wir uns zu glauben, daß die deutsche Seele, die italienische Seele, um nur von den nächsten Völkern zu sprechen, sich auf derselben Stufe des Fortschritts befinden wie die französische Seele. Wir sind weit voraus, und deswegen ohne Zweifel träumen wir von universaler Brüderlichkeit (!), während die anderen noch die nationale Brüderlichkeit verlangen." Drei Tage nach dieser Veröffentlichung des „Temps", am 25. November 1903, hat der Generalrat des Seinedepartements der „universalen Brüderlichkeit" der Franzosen ein artiges Denkmal gesetzt: er lehnte alle Anträge ab, die von ihm Beschlüsse zugunsten einer internationalen Abrüstung forderten, und beschloß, den Wortlaut des 1371 in der Nationalversammlung zu Bordeaux von den elsaß-lothringischen Abgeordneten verlesenen Protestes gegen die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_338432/108>, abgerufen am 29.12.2024.