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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Viertes Vierteljahr.

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Vielleicht um auf der Völkerbundskonferenz weitere Nachgiebigkeit Englands durch¬
zusetzen, vielleicht (all die Faktoren können zur Zeit der Niederschrift noch nicht
mit voller Sicherheit beurteilt werden) auch um in der Wieoergutmachungs-
Kohlen- und Oberschlesienfrage englische Konzessionen zu erreichen und weiter infolge
des Zusammenbruchs der Wrangeloffensive, auf die man so große Hoffnungen ge¬
setzt hatte, sich ein Umschwung in der Politik Frankreichs vollzieht, dessen bedeut¬
samstes Anzeichen die vor dem Kammerausschuß abgegebenen, freilich alsbald durch
eine Erklärung des "Temps" abgeschwächten Erklärungen des Ministerpräsidenten
Levgnes betreffs Wiederaufnahme privater wirtschaftlicher Beziehungen zu Sowjet¬
rußland bilden. Es ist ohne weiteres klar, daß sich Frankreich damit auf den
Weg zur förmlichen Anerkennung der Sowjetrepublik begibt. In erster Linie
das lassen die letzten Leitartikel des "Temps" deutlich erkennen, geschieht
das wohl, um die Rechte der französischen Vorkriegsgläubiger sicherzustellen.
Man will verhüten, daß die Russen ohne Berücksichtigung der Schulden
des zaristischen Regimes Konzessionen und Vorrechte an England, Deutschland,
Amerika vergeben, und zu erreichen versuchen, daß die endgültige Wieder¬
aufnahme der englisch-russischen Handelsbeziehungen von der Anerkennung
der früheren russischen Staatsschuld an Frankreich abhängig gemacht wird.
Ob die Franzosen diese Forderung durchsetzen werden, muß einstweilen dahin¬
gestellt bleiben und ist ganz von dem Grade abhängig, in dem Lenin die Hilfe
Frankreichs braucht. Möglich, daß man einstweilen auch in Fragen der galizischen
Polen einen Druck ausüben will, dessen Angriff auf Wilna, schon weil es
dem nicht gern gesehenen Völkerbund Anlaß zum Einschreiten gab, in Paris stark
verstimmt hat; auf die Art wie Frankreich seine Freundschaft für Polen mit
einer gegen Nußland zum mindesten neutralen Politik vereinbaren wird, darf man
überhaupt gespannt sein, zum mindesten im Hinblick auf den Zeitpunkt, in dem
Frankreich, was auf die Dauer nicht ausbleiben kann, Rußlands (und der mit
Rußland verbündeten Anatolier) Unterstützung braucht, um Englands Kon¬
stantinopelstellung zu bedrohen. Damit wäre dann in der Tat, d. h. falls Deutschland
mittut und Polen zufriedengestellt werden kann (durch Verstärkung seines Ein¬
flusses in Danzig), die Möglichkeit eines Festlandblocks gegen England gegeben, die
Idee eines europäischen Völkerbundes unter englischer Führung lahmgelegt. Und
um England einstweilen die Möglichkeit rechtzeitiger Gegenwirkung zu nehmen,
bemüht man sich französischerseits gerade jetzt wieder um Abschluß eines förmlichen
englisch-französischen Bündnisses. Auf Grund eines solchen Bündnisses, für das
übrigens in England an sich kaum große Neigung bestehen wird, könnte man dann
innerhalb des Völkerbundes noch energischer auftreten und seine Aktion noch wirk¬
samer sabotieren oder auch gegebenenfalls sie als Vorspann zur Erreichung der
eigenen Ziele benutzen. Die Verhandlungen des Völkerbundes sollen, sobald sie
sich in ihrer Gesamtheit überblicken lassen, zusammenhängend gewürdigt werden.

Kompliziert wird die Lage dadurch, daß die Arbeiter nicht gesonnen sind,
die Politik ihrer Regierungen unter allen Umständen mitzumachen. Schon hat der
Londoner internationale Gewerkschaftskongreß, auf dem 24,8 Millionen organisierter
Arbeiter aus sechzehn verschiedenen Ländern, allerdings -- ein bedeutsames Moment
nicht die Amerikaner, vertreten waren, sich sehr kräftig gegen die Besetzung
des Nuhrgebiets ausgesprochen (die Stinnesschen Sozialisierungsoorschläge dürften
diesen auf Informationen durch Arbeiter des Ruhrbeckens beruhenden Protest be¬
schleunigt und verstärkt haben) und ein von Henderson, Macdonald, Vandervelde,
Troelstra, Engbjerg, Huysmans, Wels unterzeichneter Aufruf des Vollzugsaus¬
schusses der zweiten Internationale, dessen Sitz bezeichnenderweise nach London ver¬
legt worden und damit unter Einfluß der englischen Labour Party geraten ist, weist
darauf hin, daß die Arbeiter, ebenso wie der Kapitalismus, ihrerseits Weltpolitik
treiben müßten, um ihre Ziele zu erreichen. Möglich, daß auch hier Ansätze zu einer
gesamteuropäischen Politik liegen, die über kurz oder lang unumgänglich ist, falls
der alte Erdteil die Herrschaft über die Welt nicht einfach an den neuen abtreten will.


Nenenius
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Vielleicht um auf der Völkerbundskonferenz weitere Nachgiebigkeit Englands durch¬
zusetzen, vielleicht (all die Faktoren können zur Zeit der Niederschrift noch nicht
mit voller Sicherheit beurteilt werden) auch um in der Wieoergutmachungs-
Kohlen- und Oberschlesienfrage englische Konzessionen zu erreichen und weiter infolge
des Zusammenbruchs der Wrangeloffensive, auf die man so große Hoffnungen ge¬
setzt hatte, sich ein Umschwung in der Politik Frankreichs vollzieht, dessen bedeut¬
samstes Anzeichen die vor dem Kammerausschuß abgegebenen, freilich alsbald durch
eine Erklärung des „Temps" abgeschwächten Erklärungen des Ministerpräsidenten
Levgnes betreffs Wiederaufnahme privater wirtschaftlicher Beziehungen zu Sowjet¬
rußland bilden. Es ist ohne weiteres klar, daß sich Frankreich damit auf den
Weg zur förmlichen Anerkennung der Sowjetrepublik begibt. In erster Linie
das lassen die letzten Leitartikel des „Temps" deutlich erkennen, geschieht
das wohl, um die Rechte der französischen Vorkriegsgläubiger sicherzustellen.
Man will verhüten, daß die Russen ohne Berücksichtigung der Schulden
des zaristischen Regimes Konzessionen und Vorrechte an England, Deutschland,
Amerika vergeben, und zu erreichen versuchen, daß die endgültige Wieder¬
aufnahme der englisch-russischen Handelsbeziehungen von der Anerkennung
der früheren russischen Staatsschuld an Frankreich abhängig gemacht wird.
Ob die Franzosen diese Forderung durchsetzen werden, muß einstweilen dahin¬
gestellt bleiben und ist ganz von dem Grade abhängig, in dem Lenin die Hilfe
Frankreichs braucht. Möglich, daß man einstweilen auch in Fragen der galizischen
Polen einen Druck ausüben will, dessen Angriff auf Wilna, schon weil es
dem nicht gern gesehenen Völkerbund Anlaß zum Einschreiten gab, in Paris stark
verstimmt hat; auf die Art wie Frankreich seine Freundschaft für Polen mit
einer gegen Nußland zum mindesten neutralen Politik vereinbaren wird, darf man
überhaupt gespannt sein, zum mindesten im Hinblick auf den Zeitpunkt, in dem
Frankreich, was auf die Dauer nicht ausbleiben kann, Rußlands (und der mit
Rußland verbündeten Anatolier) Unterstützung braucht, um Englands Kon¬
stantinopelstellung zu bedrohen. Damit wäre dann in der Tat, d. h. falls Deutschland
mittut und Polen zufriedengestellt werden kann (durch Verstärkung seines Ein¬
flusses in Danzig), die Möglichkeit eines Festlandblocks gegen England gegeben, die
Idee eines europäischen Völkerbundes unter englischer Führung lahmgelegt. Und
um England einstweilen die Möglichkeit rechtzeitiger Gegenwirkung zu nehmen,
bemüht man sich französischerseits gerade jetzt wieder um Abschluß eines förmlichen
englisch-französischen Bündnisses. Auf Grund eines solchen Bündnisses, für das
übrigens in England an sich kaum große Neigung bestehen wird, könnte man dann
innerhalb des Völkerbundes noch energischer auftreten und seine Aktion noch wirk¬
samer sabotieren oder auch gegebenenfalls sie als Vorspann zur Erreichung der
eigenen Ziele benutzen. Die Verhandlungen des Völkerbundes sollen, sobald sie
sich in ihrer Gesamtheit überblicken lassen, zusammenhängend gewürdigt werden.

Kompliziert wird die Lage dadurch, daß die Arbeiter nicht gesonnen sind,
die Politik ihrer Regierungen unter allen Umständen mitzumachen. Schon hat der
Londoner internationale Gewerkschaftskongreß, auf dem 24,8 Millionen organisierter
Arbeiter aus sechzehn verschiedenen Ländern, allerdings — ein bedeutsames Moment
nicht die Amerikaner, vertreten waren, sich sehr kräftig gegen die Besetzung
des Nuhrgebiets ausgesprochen (die Stinnesschen Sozialisierungsoorschläge dürften
diesen auf Informationen durch Arbeiter des Ruhrbeckens beruhenden Protest be¬
schleunigt und verstärkt haben) und ein von Henderson, Macdonald, Vandervelde,
Troelstra, Engbjerg, Huysmans, Wels unterzeichneter Aufruf des Vollzugsaus¬
schusses der zweiten Internationale, dessen Sitz bezeichnenderweise nach London ver¬
legt worden und damit unter Einfluß der englischen Labour Party geraten ist, weist
darauf hin, daß die Arbeiter, ebenso wie der Kapitalismus, ihrerseits Weltpolitik
treiben müßten, um ihre Ziele zu erreichen. Möglich, daß auch hier Ansätze zu einer
gesamteuropäischen Politik liegen, die über kurz oder lang unumgänglich ist, falls
der alte Erdteil die Herrschaft über die Welt nicht einfach an den neuen abtreten will.


Nenenius
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[0313] Weltspiegel Vielleicht um auf der Völkerbundskonferenz weitere Nachgiebigkeit Englands durch¬ zusetzen, vielleicht (all die Faktoren können zur Zeit der Niederschrift noch nicht mit voller Sicherheit beurteilt werden) auch um in der Wieoergutmachungs- Kohlen- und Oberschlesienfrage englische Konzessionen zu erreichen und weiter infolge des Zusammenbruchs der Wrangeloffensive, auf die man so große Hoffnungen ge¬ setzt hatte, sich ein Umschwung in der Politik Frankreichs vollzieht, dessen bedeut¬ samstes Anzeichen die vor dem Kammerausschuß abgegebenen, freilich alsbald durch eine Erklärung des „Temps" abgeschwächten Erklärungen des Ministerpräsidenten Levgnes betreffs Wiederaufnahme privater wirtschaftlicher Beziehungen zu Sowjet¬ rußland bilden. Es ist ohne weiteres klar, daß sich Frankreich damit auf den Weg zur förmlichen Anerkennung der Sowjetrepublik begibt. In erster Linie das lassen die letzten Leitartikel des „Temps" deutlich erkennen, geschieht das wohl, um die Rechte der französischen Vorkriegsgläubiger sicherzustellen. Man will verhüten, daß die Russen ohne Berücksichtigung der Schulden des zaristischen Regimes Konzessionen und Vorrechte an England, Deutschland, Amerika vergeben, und zu erreichen versuchen, daß die endgültige Wieder¬ aufnahme der englisch-russischen Handelsbeziehungen von der Anerkennung der früheren russischen Staatsschuld an Frankreich abhängig gemacht wird. Ob die Franzosen diese Forderung durchsetzen werden, muß einstweilen dahin¬ gestellt bleiben und ist ganz von dem Grade abhängig, in dem Lenin die Hilfe Frankreichs braucht. Möglich, daß man einstweilen auch in Fragen der galizischen Polen einen Druck ausüben will, dessen Angriff auf Wilna, schon weil es dem nicht gern gesehenen Völkerbund Anlaß zum Einschreiten gab, in Paris stark verstimmt hat; auf die Art wie Frankreich seine Freundschaft für Polen mit einer gegen Nußland zum mindesten neutralen Politik vereinbaren wird, darf man überhaupt gespannt sein, zum mindesten im Hinblick auf den Zeitpunkt, in dem Frankreich, was auf die Dauer nicht ausbleiben kann, Rußlands (und der mit Rußland verbündeten Anatolier) Unterstützung braucht, um Englands Kon¬ stantinopelstellung zu bedrohen. Damit wäre dann in der Tat, d. h. falls Deutschland mittut und Polen zufriedengestellt werden kann (durch Verstärkung seines Ein¬ flusses in Danzig), die Möglichkeit eines Festlandblocks gegen England gegeben, die Idee eines europäischen Völkerbundes unter englischer Führung lahmgelegt. Und um England einstweilen die Möglichkeit rechtzeitiger Gegenwirkung zu nehmen, bemüht man sich französischerseits gerade jetzt wieder um Abschluß eines förmlichen englisch-französischen Bündnisses. Auf Grund eines solchen Bündnisses, für das übrigens in England an sich kaum große Neigung bestehen wird, könnte man dann innerhalb des Völkerbundes noch energischer auftreten und seine Aktion noch wirk¬ samer sabotieren oder auch gegebenenfalls sie als Vorspann zur Erreichung der eigenen Ziele benutzen. Die Verhandlungen des Völkerbundes sollen, sobald sie sich in ihrer Gesamtheit überblicken lassen, zusammenhängend gewürdigt werden. Kompliziert wird die Lage dadurch, daß die Arbeiter nicht gesonnen sind, die Politik ihrer Regierungen unter allen Umständen mitzumachen. Schon hat der Londoner internationale Gewerkschaftskongreß, auf dem 24,8 Millionen organisierter Arbeiter aus sechzehn verschiedenen Ländern, allerdings — ein bedeutsames Moment nicht die Amerikaner, vertreten waren, sich sehr kräftig gegen die Besetzung des Nuhrgebiets ausgesprochen (die Stinnesschen Sozialisierungsoorschläge dürften diesen auf Informationen durch Arbeiter des Ruhrbeckens beruhenden Protest be¬ schleunigt und verstärkt haben) und ein von Henderson, Macdonald, Vandervelde, Troelstra, Engbjerg, Huysmans, Wels unterzeichneter Aufruf des Vollzugsaus¬ schusses der zweiten Internationale, dessen Sitz bezeichnenderweise nach London ver¬ legt worden und damit unter Einfluß der englischen Labour Party geraten ist, weist darauf hin, daß die Arbeiter, ebenso wie der Kapitalismus, ihrerseits Weltpolitik treiben müßten, um ihre Ziele zu erreichen. Möglich, daß auch hier Ansätze zu einer gesamteuropäischen Politik liegen, die über kurz oder lang unumgänglich ist, falls der alte Erdteil die Herrschaft über die Welt nicht einfach an den neuen abtreten will. Nenenius

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_338022/313>, abgerufen am 22.07.2024.