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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Viertes Vierteljahr.

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gemacht haben, und es darf angenommen werden, daß Italien jetzt überall aus¬
gleichend, vermittelnd, mäßigend auftritt. Italiens politische Kraft ist eben in den
letzten Wochen außerordentlich gewachsen, nicht zum wenigsten durch Giolittis kluge
Innenpolitik, die die Bestrebungen der extremen Sozialisten mit scheinbarer
Passivität entschlossen ani absuräuro. führen ließ, und die ganze Torheit außen¬
politischer deutscher Schmücke, die auf die unverantwortliche, nur in Deutschland
mögliche Falschmeldung vom Rücktritt Graf Sforzas hin, diesen Rücktritt schon "seit
langem vorausgesehen" hatten, wird durch diese ganze Entwicklung ins rechte Licht
gesetzt. (Nur der deutsche Zeitungsleser läßt es sich bieten, daß ein Redakteur, nach¬
dem er derartigen Unsinn verzapft hat, sein Referat noch weiter ausübt, ganz ab¬
gesehen davon, daß derartige Vorkommnisse die Italiener sehr viel mehr verstimmen,
als man bei uns glaubt.)

Fest steht, daß die katastrophale Niederlage der venizelistischen Negierung Eng¬
ländern und Franzosen gleicherweise, selbst denen, die an Ort und Stelle waren,
gänzlich überraschend gekommen ist. Es scheint sich nicht nur um ein großartig
organisiertes Wahlkomplott, sondern um einen vollständigen und ziemlich plötzlich
erfolgten, durch Venizelos' Gewaltregime hervorgerufenen Umschwung der öffent¬
lichen Meinung zu handeln. Den Franzosen aber ist die Wendung trotz aller Proteste
gegen den hauptsächlich wegen seiner Potsdamer Rede 1913 und infolge der durch
die feindliche Propaganda breit ausgeschlachteten Vorgänge während des Welt¬
krieges natürlich zu Unrecht als aktiv deutschfreundlich geltenden König Konstantin
insofem nicht unerwünscht gekommen, als sie dadurch Gelegenheit bekamen, gegen
die schon seit langem mit größtem Mißbehagen beobachtete englische Türkenpolitik
Stellung zu nehmen. Der Vertrag von Sövres, hieß es, dessen Ratifizierung von
feiten der Türkei die Engländer seit Monaten vergebens anstreben, müsse revidiert
werden. (Wenn die deutsche Tagespresse begriffen hätte, um was es ginge, hätte
sie im Anschluß daran sofort in größter Aufmachung behaupten müssen, damit wäre,
besonders da die Franzosen und die ententefreundlichen Vertreter der zentral¬
europäischen Staaten immer behauptet haben, die fünf Friedensverträge ^Versailles,
Se. Germain, Trianon, Neuilly, SevresZ bildeten ein Ganzes, grundsätzlich auch die
Möglichkeit einer Revision des Versailler Vertrages ausgesprochen. Dadurch hätte
man die Franzosen genötigt, bescheidener auszutreten und der englischen Politik im
deutschen Interesse wertvolle Dienste leisten können.) Ja, nach einer Meldung des
Lokal-Anzeigers haben die Franzosen in London noch weit mehr gefordert, nämlich
nicht nur die Rückgabe Smyrnas an die Türkei unter italienischer (!) Kontrolle,
Errichtung eines autonomen Staates in Thrazien unter der Kontrolle einer noch zu
bezeichnenden Macht (wahrscheinlich Rumäniens oder Amerikas), Verzicht der Schutz¬
mächte auf die Gewährleistung der Unabhängigkeit Griechenlands sowie Aufhebung
jeder finanziellen Unterstützung an Griechenland und Erlaß einer Erklärung an
das griechische Volk, die es auf diese Folgen einer Rückberufung Konstantins hin¬
weist, sondern auch Rückgabe des Dodekcmes an Italien und Abänderung der neuen
Grenzen Griechenlands zugunsten Serbiens und Bulgariens. Selbstverständlich
mußte England, wenn es auch auf Natifizierung des Sövresvertrags nicht bestand,
diese Forderungen, die die ganze Balkanfrage noch einmal wieder aufrollen, ab¬
lehnen, um so mehr, als es fürchten mußte, daß, wenn man den anatolischen Natio¬
nalisten gar zu weit entgegenkäme, dadurch auch seine Stellung in Konstantinopel,
wo erst unlängst der Einfluß des französischen Militärs mit sanfter Gewaltsamkeit
zurückgedrängt worden ist, in Mitleidenschaft gezogen würde. Und es ist bezeichnend,
daß die englischen Gegenforderungen weit mehr darauf hinauskommen, aus Griechen¬
land ein neues Portugal zu machen, als den Türken Zugeständnisse zu bringen.¬

Verlauf und Ergebnisse der Londoner Konferenz lassen sich noch nicht voll
ständig überblicken. So viel aber ist sicher, daß in diesem Augenblick, vielleicht
im Hinblick auf die im Januar bevorstehenden neuen Senatswahlen, von denen
die Linke eine Stärkung ihres Einflusses erhofft, vielleicht infolge von enttäuschten
Hoffnungen auf kräftigere Unterstützung durch die Vereinigten Staaten, vtelleich-
in der Befürchtung, daß die neue französische Anleihe ungenügende Ergebnisse zeitigt,


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gemacht haben, und es darf angenommen werden, daß Italien jetzt überall aus¬
gleichend, vermittelnd, mäßigend auftritt. Italiens politische Kraft ist eben in den
letzten Wochen außerordentlich gewachsen, nicht zum wenigsten durch Giolittis kluge
Innenpolitik, die die Bestrebungen der extremen Sozialisten mit scheinbarer
Passivität entschlossen ani absuräuro. führen ließ, und die ganze Torheit außen¬
politischer deutscher Schmücke, die auf die unverantwortliche, nur in Deutschland
mögliche Falschmeldung vom Rücktritt Graf Sforzas hin, diesen Rücktritt schon „seit
langem vorausgesehen" hatten, wird durch diese ganze Entwicklung ins rechte Licht
gesetzt. (Nur der deutsche Zeitungsleser läßt es sich bieten, daß ein Redakteur, nach¬
dem er derartigen Unsinn verzapft hat, sein Referat noch weiter ausübt, ganz ab¬
gesehen davon, daß derartige Vorkommnisse die Italiener sehr viel mehr verstimmen,
als man bei uns glaubt.)

Fest steht, daß die katastrophale Niederlage der venizelistischen Negierung Eng¬
ländern und Franzosen gleicherweise, selbst denen, die an Ort und Stelle waren,
gänzlich überraschend gekommen ist. Es scheint sich nicht nur um ein großartig
organisiertes Wahlkomplott, sondern um einen vollständigen und ziemlich plötzlich
erfolgten, durch Venizelos' Gewaltregime hervorgerufenen Umschwung der öffent¬
lichen Meinung zu handeln. Den Franzosen aber ist die Wendung trotz aller Proteste
gegen den hauptsächlich wegen seiner Potsdamer Rede 1913 und infolge der durch
die feindliche Propaganda breit ausgeschlachteten Vorgänge während des Welt¬
krieges natürlich zu Unrecht als aktiv deutschfreundlich geltenden König Konstantin
insofem nicht unerwünscht gekommen, als sie dadurch Gelegenheit bekamen, gegen
die schon seit langem mit größtem Mißbehagen beobachtete englische Türkenpolitik
Stellung zu nehmen. Der Vertrag von Sövres, hieß es, dessen Ratifizierung von
feiten der Türkei die Engländer seit Monaten vergebens anstreben, müsse revidiert
werden. (Wenn die deutsche Tagespresse begriffen hätte, um was es ginge, hätte
sie im Anschluß daran sofort in größter Aufmachung behaupten müssen, damit wäre,
besonders da die Franzosen und die ententefreundlichen Vertreter der zentral¬
europäischen Staaten immer behauptet haben, die fünf Friedensverträge ^Versailles,
Se. Germain, Trianon, Neuilly, SevresZ bildeten ein Ganzes, grundsätzlich auch die
Möglichkeit einer Revision des Versailler Vertrages ausgesprochen. Dadurch hätte
man die Franzosen genötigt, bescheidener auszutreten und der englischen Politik im
deutschen Interesse wertvolle Dienste leisten können.) Ja, nach einer Meldung des
Lokal-Anzeigers haben die Franzosen in London noch weit mehr gefordert, nämlich
nicht nur die Rückgabe Smyrnas an die Türkei unter italienischer (!) Kontrolle,
Errichtung eines autonomen Staates in Thrazien unter der Kontrolle einer noch zu
bezeichnenden Macht (wahrscheinlich Rumäniens oder Amerikas), Verzicht der Schutz¬
mächte auf die Gewährleistung der Unabhängigkeit Griechenlands sowie Aufhebung
jeder finanziellen Unterstützung an Griechenland und Erlaß einer Erklärung an
das griechische Volk, die es auf diese Folgen einer Rückberufung Konstantins hin¬
weist, sondern auch Rückgabe des Dodekcmes an Italien und Abänderung der neuen
Grenzen Griechenlands zugunsten Serbiens und Bulgariens. Selbstverständlich
mußte England, wenn es auch auf Natifizierung des Sövresvertrags nicht bestand,
diese Forderungen, die die ganze Balkanfrage noch einmal wieder aufrollen, ab¬
lehnen, um so mehr, als es fürchten mußte, daß, wenn man den anatolischen Natio¬
nalisten gar zu weit entgegenkäme, dadurch auch seine Stellung in Konstantinopel,
wo erst unlängst der Einfluß des französischen Militärs mit sanfter Gewaltsamkeit
zurückgedrängt worden ist, in Mitleidenschaft gezogen würde. Und es ist bezeichnend,
daß die englischen Gegenforderungen weit mehr darauf hinauskommen, aus Griechen¬
land ein neues Portugal zu machen, als den Türken Zugeständnisse zu bringen.¬

Verlauf und Ergebnisse der Londoner Konferenz lassen sich noch nicht voll
ständig überblicken. So viel aber ist sicher, daß in diesem Augenblick, vielleicht
im Hinblick auf die im Januar bevorstehenden neuen Senatswahlen, von denen
die Linke eine Stärkung ihres Einflusses erhofft, vielleicht infolge von enttäuschten
Hoffnungen auf kräftigere Unterstützung durch die Vereinigten Staaten, vtelleich-
in der Befürchtung, daß die neue französische Anleihe ungenügende Ergebnisse zeitigt,


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[0312] Weltspiegel gemacht haben, und es darf angenommen werden, daß Italien jetzt überall aus¬ gleichend, vermittelnd, mäßigend auftritt. Italiens politische Kraft ist eben in den letzten Wochen außerordentlich gewachsen, nicht zum wenigsten durch Giolittis kluge Innenpolitik, die die Bestrebungen der extremen Sozialisten mit scheinbarer Passivität entschlossen ani absuräuro. führen ließ, und die ganze Torheit außen¬ politischer deutscher Schmücke, die auf die unverantwortliche, nur in Deutschland mögliche Falschmeldung vom Rücktritt Graf Sforzas hin, diesen Rücktritt schon „seit langem vorausgesehen" hatten, wird durch diese ganze Entwicklung ins rechte Licht gesetzt. (Nur der deutsche Zeitungsleser läßt es sich bieten, daß ein Redakteur, nach¬ dem er derartigen Unsinn verzapft hat, sein Referat noch weiter ausübt, ganz ab¬ gesehen davon, daß derartige Vorkommnisse die Italiener sehr viel mehr verstimmen, als man bei uns glaubt.) Fest steht, daß die katastrophale Niederlage der venizelistischen Negierung Eng¬ ländern und Franzosen gleicherweise, selbst denen, die an Ort und Stelle waren, gänzlich überraschend gekommen ist. Es scheint sich nicht nur um ein großartig organisiertes Wahlkomplott, sondern um einen vollständigen und ziemlich plötzlich erfolgten, durch Venizelos' Gewaltregime hervorgerufenen Umschwung der öffent¬ lichen Meinung zu handeln. Den Franzosen aber ist die Wendung trotz aller Proteste gegen den hauptsächlich wegen seiner Potsdamer Rede 1913 und infolge der durch die feindliche Propaganda breit ausgeschlachteten Vorgänge während des Welt¬ krieges natürlich zu Unrecht als aktiv deutschfreundlich geltenden König Konstantin insofem nicht unerwünscht gekommen, als sie dadurch Gelegenheit bekamen, gegen die schon seit langem mit größtem Mißbehagen beobachtete englische Türkenpolitik Stellung zu nehmen. Der Vertrag von Sövres, hieß es, dessen Ratifizierung von feiten der Türkei die Engländer seit Monaten vergebens anstreben, müsse revidiert werden. (Wenn die deutsche Tagespresse begriffen hätte, um was es ginge, hätte sie im Anschluß daran sofort in größter Aufmachung behaupten müssen, damit wäre, besonders da die Franzosen und die ententefreundlichen Vertreter der zentral¬ europäischen Staaten immer behauptet haben, die fünf Friedensverträge ^Versailles, Se. Germain, Trianon, Neuilly, SevresZ bildeten ein Ganzes, grundsätzlich auch die Möglichkeit einer Revision des Versailler Vertrages ausgesprochen. Dadurch hätte man die Franzosen genötigt, bescheidener auszutreten und der englischen Politik im deutschen Interesse wertvolle Dienste leisten können.) Ja, nach einer Meldung des Lokal-Anzeigers haben die Franzosen in London noch weit mehr gefordert, nämlich nicht nur die Rückgabe Smyrnas an die Türkei unter italienischer (!) Kontrolle, Errichtung eines autonomen Staates in Thrazien unter der Kontrolle einer noch zu bezeichnenden Macht (wahrscheinlich Rumäniens oder Amerikas), Verzicht der Schutz¬ mächte auf die Gewährleistung der Unabhängigkeit Griechenlands sowie Aufhebung jeder finanziellen Unterstützung an Griechenland und Erlaß einer Erklärung an das griechische Volk, die es auf diese Folgen einer Rückberufung Konstantins hin¬ weist, sondern auch Rückgabe des Dodekcmes an Italien und Abänderung der neuen Grenzen Griechenlands zugunsten Serbiens und Bulgariens. Selbstverständlich mußte England, wenn es auch auf Natifizierung des Sövresvertrags nicht bestand, diese Forderungen, die die ganze Balkanfrage noch einmal wieder aufrollen, ab¬ lehnen, um so mehr, als es fürchten mußte, daß, wenn man den anatolischen Natio¬ nalisten gar zu weit entgegenkäme, dadurch auch seine Stellung in Konstantinopel, wo erst unlängst der Einfluß des französischen Militärs mit sanfter Gewaltsamkeit zurückgedrängt worden ist, in Mitleidenschaft gezogen würde. Und es ist bezeichnend, daß die englischen Gegenforderungen weit mehr darauf hinauskommen, aus Griechen¬ land ein neues Portugal zu machen, als den Türken Zugeständnisse zu bringen.¬ Verlauf und Ergebnisse der Londoner Konferenz lassen sich noch nicht voll ständig überblicken. So viel aber ist sicher, daß in diesem Augenblick, vielleicht im Hinblick auf die im Januar bevorstehenden neuen Senatswahlen, von denen die Linke eine Stärkung ihres Einflusses erhofft, vielleicht infolge von enttäuschten Hoffnungen auf kräftigere Unterstützung durch die Vereinigten Staaten, vtelleich- in der Befürchtung, daß die neue französische Anleihe ungenügende Ergebnisse zeitigt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_338022/312>, abgerufen am 22.07.2024.