Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Viertes Vierteljahr.arbeit. Man kann sich nicht mehr aufeinander verlassen, man besinnt sich aber Der Krieg mit seiner Auflösung der europäischen Solidarität wurde sofort Wie ist es denn überhaupt zu der Teuerung während des Krieges gekommen, Inmitten dieser Auflösung der Solidarität stehen wir nun und gewahren Wir erleben es in diesem Augenblick beispielsweise an der Steuerscheu, was Fritz Kern, Die neue Armut und die neuen Armen Z
arbeit. Man kann sich nicht mehr aufeinander verlassen, man besinnt sich aber Der Krieg mit seiner Auflösung der europäischen Solidarität wurde sofort Wie ist es denn überhaupt zu der Teuerung während des Krieges gekommen, Inmitten dieser Auflösung der Solidarität stehen wir nun und gewahren Wir erleben es in diesem Augenblick beispielsweise an der Steuerscheu, was Fritz Kern, Die neue Armut und die neuen Armen Z
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0257" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/338280"/> <p xml:id="ID_934" prev="#ID_933"> arbeit. Man kann sich nicht mehr aufeinander verlassen, man besinnt sich aber<lb/> beim Verlust so vieler Güter auf die im Ich noch lebende Genußfähigkeit und<lb/> lockert in Verschwendung und Austoben immer weitere Soli^aritätsbande gegen<lb/> Familie und Staat. Der Zwang des Krieges hatte die (vielfach zu mechanisiert<lb/> aufgefaßte) Anspannung des einzelnen fürs Ganze auf die Spitze getrieben. Die<lb/> Revolution legitimierte die individuelle Freiheit. Die Flucht vor dem Staat ist<lb/> jetzt auf einem Punkt angelangt, wo sie bald in den Schrei nach dem Staat<lb/> umschlagen muß.</p><lb/> <p xml:id="ID_935"> Der Krieg mit seiner Auflösung der europäischen Solidarität wurde sofort<lb/> auch zum Prüfstein der innerdeutschen Solidarität. Betrachten wir diese noch<lb/> einmal an dem oben gebrauchten Beispiel des Markverfalls.</p><lb/> <p xml:id="ID_936"> Wie ist es denn überhaupt zu der Teuerung während des Krieges gekommen,<lb/> welche der Ausgangspunkt unserer heutigen Geldentwertung geworden ist? Der<lb/> Nationalökonom sagt: infolge Warenmangels, Übersteigen des Angebots durch die<lb/> Nachfrage und Schaffung künstlicher Kaufkraft durch Inflation mit Papiergeld.<lb/> Aber wir hatten doch im ganzen Krieg genug Nahrungsmittel und sonstige Be¬<lb/> dürfnisware im Lande, um bei völlig gleichmäßiger Einschränkung ganz ohne<lb/> Teuerung durchzukommen. Ein heldenhaftes Zusammenhalten aller für einen<lb/> und eines für alle hätte das hintanhalten können, was wir erlebt haben. Aber<lb/> der Erzeuger verbrauchte mehr als auf seine gerechte Kopfquote enifiel. Der<lb/> reiche Verbraucher trieb selbst die Preise und entwickelte den Schleichhandel. Die<lb/> Staats- und Jndustriebeamten steigerten willfährig die Löhne und damit die Preise,<lb/> weil der Staat ja durch die Notenpresse zaubern gelernt hatte. So wurden die<lb/> Rationen tatsächlich auch für den redlichen Patrioten zum Leben zu knapp, und so<lb/> entstand jener Zustand, da die Guten scheinbar die Dummen geworden waren<lb/> und wo einer unserer obersten deutschen Richter, von seinem Gewissen getrieben,<lb/> sagte: „Ich lebe von Gesetzesübertretungen (weil ich sonst verhungere)". In<lb/> Wirklichkeit aber waren doch die ersten Übertreter die Dummen, d. h. dieser Abfall<lb/> von der Staatsvernunft und dem Gemeinsinn wurde der notwendige Anfang der<lb/> drückenden Not, Kriegsverdrossenheit, inneren Verzanktheit, kurz, der Katastrophe.<lb/> Wenn das Individuum den Staat als Feind betrachtet, sich ihm entzieht und ihn<lb/> betrügt, wo es kann, wie der Neapolitaner vor 1860, so entzieht jeder sich selbst<lb/> die Lebenskraft, und wenn der Staat seinen inneren Kredit einbüßt, ist auch das<lb/> Volk verloren.</p><lb/> <p xml:id="ID_937"> Inmitten dieser Auflösung der Solidarität stehen wir nun und gewahren<lb/> erst leise Anfänge dafür, daß sich eine neue bildet. Vor allem ist die Autorität<lb/> der Gesetze und des' Gesetzgebers, des Staates überhaupt auf den Nullpunkt<lb/> gesunken. In einer dichten Kette von Ursache und Wirkung können wir heute,<lb/> selbst wenn wir wollten, gar nicht mehr aus dem Kampf aller gegen alle heraus.<lb/> Wir können uns nicht mehr voll auf den Staat und unseren Nächsten verlassen.<lb/> Zu oft ist dieses Vertrauen getäuscht worden. „Sauvs qui xeut": diese Parole der<lb/> Fahnenflucht hat zu oft die einzige Maxime des Individuums gebildet. Zu oft<lb/> haben die Hunde den letzten gebissen, der treu bei der allgemeinen Sache aushielt.</p><lb/> <p xml:id="ID_938" next="#ID_939"> Wir erleben es in diesem Augenblick beispielsweise an der Steuerscheu, was<lb/> es heißt, einem zerrütteten, vor allem auch moralisch zerrütteten Gemeinwesen<lb/> anzugehören. Steuern, zu spät und ohne tieferen Verstand, dilettantisch, nur</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Fritz Kern, Die neue Armut und die neuen Armen Z</fw><lb/> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0257]
arbeit. Man kann sich nicht mehr aufeinander verlassen, man besinnt sich aber
beim Verlust so vieler Güter auf die im Ich noch lebende Genußfähigkeit und
lockert in Verschwendung und Austoben immer weitere Soli^aritätsbande gegen
Familie und Staat. Der Zwang des Krieges hatte die (vielfach zu mechanisiert
aufgefaßte) Anspannung des einzelnen fürs Ganze auf die Spitze getrieben. Die
Revolution legitimierte die individuelle Freiheit. Die Flucht vor dem Staat ist
jetzt auf einem Punkt angelangt, wo sie bald in den Schrei nach dem Staat
umschlagen muß.
Der Krieg mit seiner Auflösung der europäischen Solidarität wurde sofort
auch zum Prüfstein der innerdeutschen Solidarität. Betrachten wir diese noch
einmal an dem oben gebrauchten Beispiel des Markverfalls.
Wie ist es denn überhaupt zu der Teuerung während des Krieges gekommen,
welche der Ausgangspunkt unserer heutigen Geldentwertung geworden ist? Der
Nationalökonom sagt: infolge Warenmangels, Übersteigen des Angebots durch die
Nachfrage und Schaffung künstlicher Kaufkraft durch Inflation mit Papiergeld.
Aber wir hatten doch im ganzen Krieg genug Nahrungsmittel und sonstige Be¬
dürfnisware im Lande, um bei völlig gleichmäßiger Einschränkung ganz ohne
Teuerung durchzukommen. Ein heldenhaftes Zusammenhalten aller für einen
und eines für alle hätte das hintanhalten können, was wir erlebt haben. Aber
der Erzeuger verbrauchte mehr als auf seine gerechte Kopfquote enifiel. Der
reiche Verbraucher trieb selbst die Preise und entwickelte den Schleichhandel. Die
Staats- und Jndustriebeamten steigerten willfährig die Löhne und damit die Preise,
weil der Staat ja durch die Notenpresse zaubern gelernt hatte. So wurden die
Rationen tatsächlich auch für den redlichen Patrioten zum Leben zu knapp, und so
entstand jener Zustand, da die Guten scheinbar die Dummen geworden waren
und wo einer unserer obersten deutschen Richter, von seinem Gewissen getrieben,
sagte: „Ich lebe von Gesetzesübertretungen (weil ich sonst verhungere)". In
Wirklichkeit aber waren doch die ersten Übertreter die Dummen, d. h. dieser Abfall
von der Staatsvernunft und dem Gemeinsinn wurde der notwendige Anfang der
drückenden Not, Kriegsverdrossenheit, inneren Verzanktheit, kurz, der Katastrophe.
Wenn das Individuum den Staat als Feind betrachtet, sich ihm entzieht und ihn
betrügt, wo es kann, wie der Neapolitaner vor 1860, so entzieht jeder sich selbst
die Lebenskraft, und wenn der Staat seinen inneren Kredit einbüßt, ist auch das
Volk verloren.
Inmitten dieser Auflösung der Solidarität stehen wir nun und gewahren
erst leise Anfänge dafür, daß sich eine neue bildet. Vor allem ist die Autorität
der Gesetze und des' Gesetzgebers, des Staates überhaupt auf den Nullpunkt
gesunken. In einer dichten Kette von Ursache und Wirkung können wir heute,
selbst wenn wir wollten, gar nicht mehr aus dem Kampf aller gegen alle heraus.
Wir können uns nicht mehr voll auf den Staat und unseren Nächsten verlassen.
Zu oft ist dieses Vertrauen getäuscht worden. „Sauvs qui xeut": diese Parole der
Fahnenflucht hat zu oft die einzige Maxime des Individuums gebildet. Zu oft
haben die Hunde den letzten gebissen, der treu bei der allgemeinen Sache aushielt.
Wir erleben es in diesem Augenblick beispielsweise an der Steuerscheu, was
es heißt, einem zerrütteten, vor allem auch moralisch zerrütteten Gemeinwesen
anzugehören. Steuern, zu spät und ohne tieferen Verstand, dilettantisch, nur
Fritz Kern, Die neue Armut und die neuen Armen Z
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |