Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Viertes Vierteljahr.Die mangelnde Solidarität der Menschheit, wie sie Nieders an dem Mord- Wird sich der einzelne endlich darüber klar, daß nicht mehr die Teuerung, Vor dem Krieg hatte der Direktor einer Hypothekenbank etwa 10 000 Dollar,, Was heißt denn eigentlich "teuer" und "billig"? Weshalb war das Leben Der Vorkriegswohlstand war insbesondere ein Paradies des Mittelstandes. *) Vgl. Literaturangaben am Schluß.
Die mangelnde Solidarität der Menschheit, wie sie Nieders an dem Mord- Wird sich der einzelne endlich darüber klar, daß nicht mehr die Teuerung, Vor dem Krieg hatte der Direktor einer Hypothekenbank etwa 10 000 Dollar,, Was heißt denn eigentlich „teuer" und „billig"? Weshalb war das Leben Der Vorkriegswohlstand war insbesondere ein Paradies des Mittelstandes. *) Vgl. Literaturangaben am Schluß.
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Die mangelnde Solidarität der Menschheit, wie sie Nieders an dem Mord-
instrument von Versailles erläutert, und die mangelnde Solidarität innerhalb des
deutschen Volkes, wie sie kürzlich Solmszen geschildert hat,*) dies weltgeschichtliche
Paradigma vom Zerfall eines Volkes erfährt durch das Calwersche Programm von
der privatwirtschaftlich-sozialen Seite her eine grelle, aufrüttelnde Beleuchtung.
Wird sich der einzelne endlich darüber klar, daß nicht mehr die Teuerung,
sondern die Verarmung das Wesentliche an seiner Not geworden ist, so kann er
dies für die einzelnen Stände des Volkes an folgendem Beispiel überblicken:
Vor dem Krieg hatte der Direktor einer Hypothekenbank etwa 10 000 Dollar,,
ein deutscher Professor etwa 2500 Dollar, ein deutscher Arbeiter etwa 500 Dollar,
die Mark in amerikanisches Geld ungerechnet, zu verzehren. Heute bezieht der
Hhpothckenbankdirektor etwa 1000 Dollar, der Professor 400 Dollar und der Arbeiter
300 Dollar. Das bedeutet, daß der Hypothekenbankdirektor ein Zclmtel, der
Professor ein Achtel und der Arbeiter mehr als die Hälfte seines Vorkriegsein-
kommcns an Goldwert bekommt. Da, an der Goldparität gemessen, das Leben, z. B.
die Mieter, in Deutschland heute noch bedeutend billiger ist als vor dem Krieg,
so kann, im Durchschnitt aller Lebensbedürfnisse gerechnet, der Arbeiter heute reichlich
die Hälfte seiner früheren Lebensbedürfnisse, der Professor etwa ein Viertel, der
Hypothckenbankdirektor ein Achtel befriedigen, wenn man die Steuern außer acht
läßt. Die Steuerbelastung ist aber bei allen drei Kategorien, und zwar progressiv,
um das Vielfache gestiegen. Mit anderen Worten, der vierte Stand hat sich dem
Mittelstand stark angenähert, jedoch so, daß beide an wirklichen Einnahmen außer¬
ordentlich zurückgegangen sind. Das überdurchschnittliche Einkommen spielt im
privatwirtschaftlich-sozialen Gesamtbild eine geringere Rolle, und wir werden unser
Augenmerk hauptsächlich auf die Entwicklung des, Mittelstandes und des vierten
Standes zu richten haben. Zwischen Mittelstand und vierten Stand sind also
heute die Lebensgüter erheblich gleichmäßiger verteilt, aber die Substanz,
die es zu verteilen gilt, hat sich in einem unerhörten Maße verringert.
Was heißt denn eigentlich „teuer" und „billig"? Weshalb war das Leben
in Deutschland vor dem Krieg so billig? Nur deshalb, w e i l w i r r e i es w a r e n.
Der Vorkriegswohlstand war insbesondere ein Paradies des Mittelstandes.
Ein ganz geringer Überschuß über das Daseinsminimum befähigte damals schon
den Europäer, insbesondere den Nordeueropäer, vor allem den Engländer oder
Deutschen, sich als Teilhaber der Weltherrschaft der weißen Rasse zu fühlen. Denn
es war ja alles so billig für ihn. Billigkeit der Verbrauchsgüter ist nur ein anderer
Ausdruck für Kaufkraft, d. h. Wohlstand der betreffenden Verbraucherschicht. Wenn
man sich z, B. schon für 20 einen vollständigen Goethe kaufen konnte, so war
das billig sür den deutschen Mittelstand und sogar für den deutschen Arbeiter, weil
so ziemlich jeder leicht über diese Summe zum Zweck eines solchen Vücherkaufs
verfügen konnte. Und was für einen Goethe galt, das galt auch für einen anderen
Genußgegenstand, eine Familienreise an den Rhein usw. Teuer war die „Kultur"
und „Zivilisation" schon damals für den chinesischen Kuli, der nur wenige Pfennige
am Tage verdiente, oder für einen Armenhäusler in Deutschland. Heute kostet
derselbe Goethe 200 --^ — 20 Fr., ist also gerade so billig oder billiger für den
*) Vgl. Literaturangaben am Schluß.
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