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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Viertes Vierteljahr.

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Die wirtschaftliche Lage Deutschlands nack dem Friedensschluß

nat-oralen korporativ unterhandelt Gesamtkultur durchringen, die aus der bunten
Vielfalt deutscher Stnmmescharaktere lebendige schöpferische Kräfte entbindet. Wir
sollen uns von der kulturellen Vormundschaft des Staates befreien. Was soll
dies gebrochene Reich, das seine zerrüttete Verwaltung aus kleinsten Zellen neu¬
erbauen muß, jener Hälfte unserer Nation, die in fremder Staatlichkeit gebunden ist?
Dies Reich wird noch auf lange hin an innerer Werbekraft einbüßen. Die An-
ziehungs- und Bindekraft der Nation aber wird wachsen, je mehr sie büreaukratische
Fesseln abstreift und inneres stammlich freies Leben gewinnt.

In Elsaß-Lothringen wohnen Alemannen und Franken. staatlich-neudeutsch
sind das versunkene geschichtlich gewordene Gestalten. In ihren Dialekten, in
ihren Sitten, in der Sprache ihres Blutes sind sie noch immer lebendig. Aus
diesen Kräften müssen wir Kultur und kulturellen Lebenslvillen holen. Das Blut
des deutschen Volks, das im Dienste des Reiches sieglos vergossen wurde, muß
wieder zu reden beginnen. Auf diese Stimme wird deutsches Volkes aufhorchen,
wohin immer es durch politische Schicksale verschlagen ist. Vo^k muß wieder Leib
werden. Leib ist Wille. Und Wille ist Zukunft.

Glaube an die Bindekraft von Bolksrum und Sprache: darin liegt heute
mehr als je die elsaß-lothringische Lehre beschlossen.




Die wirtschaftliche Lage Deutschlands
nach dem Friedensschluß*)
Geh. Reg.-Rat Dr. Nieder? von

Am Baum der Menschheit drängt sich Blut' an Blüte,
Nach co'gen Regeln wiegen sie sich drauf,
Wenn hier die eine matt und welk verglühte.
Springt dort die andre voll und Prächtig auf.
Ein ewig Kommen und ein ewig Gehen,
Und nie und nimmer träger Stillestand!
Wir seh'n sie auf-, wir seh'n sie niederwehen
Und j<'de Blüte ist ein Volk, ein Land!
Wir seh'n sie auf-, wir sed'n sie niedcrwehcn
Und ihre Lose rud'n in Gottes Hand!

^it diesen Worten beginnt und schließt Ferdinand Freiligratlj im
Jahre 1844 ein Gedicht an Deutschland. Das dichterische Bild dieser
Strophe spiegelt auch das Geschick unseres Vaterlandes wieder. In"
Auf und Ab des Völkergeschehcns ist Deutschland durch den Krieg
und seine Folgen von einer bisher unerreichten politischen und wirt¬
schaftlichen Höhe herabgestürzt und auf einem Tiefstand angekommen, den noch vor
wenigen Jahren niemand im In- und Auslande für möglich gehalten hätte. ES



*" Vortrag gehalten am 21, Oktober 1920 in Düsseldorf auf dem VII. Landeskirchlichw
sozialen Kursus.
Die wirtschaftliche Lage Deutschlands nack dem Friedensschluß

nat-oralen korporativ unterhandelt Gesamtkultur durchringen, die aus der bunten
Vielfalt deutscher Stnmmescharaktere lebendige schöpferische Kräfte entbindet. Wir
sollen uns von der kulturellen Vormundschaft des Staates befreien. Was soll
dies gebrochene Reich, das seine zerrüttete Verwaltung aus kleinsten Zellen neu¬
erbauen muß, jener Hälfte unserer Nation, die in fremder Staatlichkeit gebunden ist?
Dies Reich wird noch auf lange hin an innerer Werbekraft einbüßen. Die An-
ziehungs- und Bindekraft der Nation aber wird wachsen, je mehr sie büreaukratische
Fesseln abstreift und inneres stammlich freies Leben gewinnt.

In Elsaß-Lothringen wohnen Alemannen und Franken. staatlich-neudeutsch
sind das versunkene geschichtlich gewordene Gestalten. In ihren Dialekten, in
ihren Sitten, in der Sprache ihres Blutes sind sie noch immer lebendig. Aus
diesen Kräften müssen wir Kultur und kulturellen Lebenslvillen holen. Das Blut
des deutschen Volks, das im Dienste des Reiches sieglos vergossen wurde, muß
wieder zu reden beginnen. Auf diese Stimme wird deutsches Volkes aufhorchen,
wohin immer es durch politische Schicksale verschlagen ist. Vo^k muß wieder Leib
werden. Leib ist Wille. Und Wille ist Zukunft.

Glaube an die Bindekraft von Bolksrum und Sprache: darin liegt heute
mehr als je die elsaß-lothringische Lehre beschlossen.




Die wirtschaftliche Lage Deutschlands
nach dem Friedensschluß*)
Geh. Reg.-Rat Dr. Nieder? von

Am Baum der Menschheit drängt sich Blut' an Blüte,
Nach co'gen Regeln wiegen sie sich drauf,
Wenn hier die eine matt und welk verglühte.
Springt dort die andre voll und Prächtig auf.
Ein ewig Kommen und ein ewig Gehen,
Und nie und nimmer träger Stillestand!
Wir seh'n sie auf-, wir seh'n sie niederwehen
Und j<'de Blüte ist ein Volk, ein Land!
Wir seh'n sie auf-, wir sed'n sie niedcrwehcn
Und ihre Lose rud'n in Gottes Hand!

^it diesen Worten beginnt und schließt Ferdinand Freiligratlj im
Jahre 1844 ein Gedicht an Deutschland. Das dichterische Bild dieser
Strophe spiegelt auch das Geschick unseres Vaterlandes wieder. In»
Auf und Ab des Völkergeschehcns ist Deutschland durch den Krieg
und seine Folgen von einer bisher unerreichten politischen und wirt¬
schaftlichen Höhe herabgestürzt und auf einem Tiefstand angekommen, den noch vor
wenigen Jahren niemand im In- und Auslande für möglich gehalten hätte. ES



*» Vortrag gehalten am 21, Oktober 1920 in Düsseldorf auf dem VII. Landeskirchlichw
sozialen Kursus.
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[0196] Die wirtschaftliche Lage Deutschlands nack dem Friedensschluß nat-oralen korporativ unterhandelt Gesamtkultur durchringen, die aus der bunten Vielfalt deutscher Stnmmescharaktere lebendige schöpferische Kräfte entbindet. Wir sollen uns von der kulturellen Vormundschaft des Staates befreien. Was soll dies gebrochene Reich, das seine zerrüttete Verwaltung aus kleinsten Zellen neu¬ erbauen muß, jener Hälfte unserer Nation, die in fremder Staatlichkeit gebunden ist? Dies Reich wird noch auf lange hin an innerer Werbekraft einbüßen. Die An- ziehungs- und Bindekraft der Nation aber wird wachsen, je mehr sie büreaukratische Fesseln abstreift und inneres stammlich freies Leben gewinnt. In Elsaß-Lothringen wohnen Alemannen und Franken. staatlich-neudeutsch sind das versunkene geschichtlich gewordene Gestalten. In ihren Dialekten, in ihren Sitten, in der Sprache ihres Blutes sind sie noch immer lebendig. Aus diesen Kräften müssen wir Kultur und kulturellen Lebenslvillen holen. Das Blut des deutschen Volks, das im Dienste des Reiches sieglos vergossen wurde, muß wieder zu reden beginnen. Auf diese Stimme wird deutsches Volkes aufhorchen, wohin immer es durch politische Schicksale verschlagen ist. Vo^k muß wieder Leib werden. Leib ist Wille. Und Wille ist Zukunft. Glaube an die Bindekraft von Bolksrum und Sprache: darin liegt heute mehr als je die elsaß-lothringische Lehre beschlossen. Die wirtschaftliche Lage Deutschlands nach dem Friedensschluß*) Geh. Reg.-Rat Dr. Nieder? von Am Baum der Menschheit drängt sich Blut' an Blüte, Nach co'gen Regeln wiegen sie sich drauf, Wenn hier die eine matt und welk verglühte. Springt dort die andre voll und Prächtig auf. Ein ewig Kommen und ein ewig Gehen, Und nie und nimmer träger Stillestand! Wir seh'n sie auf-, wir seh'n sie niederwehen Und j<'de Blüte ist ein Volk, ein Land! Wir seh'n sie auf-, wir sed'n sie niedcrwehcn Und ihre Lose rud'n in Gottes Hand! ^it diesen Worten beginnt und schließt Ferdinand Freiligratlj im Jahre 1844 ein Gedicht an Deutschland. Das dichterische Bild dieser Strophe spiegelt auch das Geschick unseres Vaterlandes wieder. In» Auf und Ab des Völkergeschehcns ist Deutschland durch den Krieg und seine Folgen von einer bisher unerreichten politischen und wirt¬ schaftlichen Höhe herabgestürzt und auf einem Tiefstand angekommen, den noch vor wenigen Jahren niemand im In- und Auslande für möglich gehalten hätte. ES *» Vortrag gehalten am 21, Oktober 1920 in Düsseldorf auf dem VII. Landeskirchlichw sozialen Kursus.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_338022/196>, abgerufen am 22.07.2024.