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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Viertes Vierteljahr.

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alles nur irgendwie in den Grenzen des Möglichen Liegende zu tun, dies Be¬
streben in ersprießliche Bahnen zu lenken, mit allen zur Verfügung stehenden
Kräften wachzuhalten, zu Pflegen und fruchtbar zu gestalten. Nur mache man sich
von der Illusion los, daß es mit ein paar Vorträgen getan sei, nur hüte man sich,
beim Volke der unheilvollen Verwechslung von Wissen und Bildung Vorschub
zu leisten.

Das Ideal der Volksbildungsarbeit kann nicht in einem schematischen
Massenbetrieb, sondern muß in einer sorgfältig dezentralisierten, den Ver¬
schiedenheiten einzelner Berufs- und Altersklassen, der sozialen Schichtung und
ethnographischen Differenzierung Rechnung tragenden organischen Ausbildung
von Gruppen liegen. Soll Bildungsarbeit nicht nur "aufklärend", sondern
wirklich kulturbildend wirken, so hat sie an die kulturellen Grundlagen wie jede
deutsche Landschaft, jeder Volksstamm, jede Berufs- und Altersschicht sie in
ganz verschiedener Weise bieten, sorgfältig anzuknüpfen. Kultur ist kein Massen¬
produkt, sondern bodenständig in bestimmten Schranken organisch erwachsene
Form. Wer diese Schranken niederreißt oder durch ein Zuviel an Bildungsstoff
verwischt oder verkleidet, wirkt nicht kulturbildend. Kulturentwicklung ist keine
Fabrik-, sondern im höchsten Grade Qualitätsarbeit. Es kann nicht darauf an¬
kommen, daß der Einzelne in den Stand gesetzt wird, eine Masse Kenntnisse mit
sich herumzuschleppen, mit denen er im Grunde nicht das mindeste anfangen
kann, sondern daß alle diese Dinge oder auch nur ganz wenige zu seinem eigent¬
lichen Lebenszentrum in lebendige Beziehung gesetzt werden, daß sich der Um¬
kreis seines Lebens und Sehensgefühls wohl erweitere, vor allem aber erhelle
und klare und daß die Erweiterung nie in einem Maße ausgedehnt wird, daß
die Peripherie den organischen, vom inneren Kern aus erleuchteten und durch¬
wärmten Zusammenhang mit dem Zentrum verliert.

In diesem Sinne wird es die Volksbildungsarbeit peinlich vermeiden
müssen, dem Ideal einer sogenannten "allgemeinen" Bildung nachzujagen,
sondern von dem Grundsatz auszugehen haben, daß, eines gründlich erfaßt zu
haben, das Fundament aller Bildung sein und daß dies eine dann möglichst zM
Universalität ausgeweidet werden'muß, daß mit andern Worten das Allgemeine
seinen Nährboden im Einzelnen haben muß, nicht aber das Allgemeine eine
formale Decke über ein in sich mangelhaft beherrschtes Einzelne sein darf. Die
Universalität des Individuums, bekanntlich auch eine ideale Forderung Lenins,
und wahrscheinlich bestimmt, das mechanische Ideal der arbeitsteilenden Speziali¬
sierung abzulösen, muß wachsen wie die Laubkrone aus dem festen Stamm-
Gleich mit der Laubkrone anfangen, das ergibt nur unfruchtbares Gestrüpp
und Unterholz.




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alles nur irgendwie in den Grenzen des Möglichen Liegende zu tun, dies Be¬
streben in ersprießliche Bahnen zu lenken, mit allen zur Verfügung stehenden
Kräften wachzuhalten, zu Pflegen und fruchtbar zu gestalten. Nur mache man sich
von der Illusion los, daß es mit ein paar Vorträgen getan sei, nur hüte man sich,
beim Volke der unheilvollen Verwechslung von Wissen und Bildung Vorschub
zu leisten.

Das Ideal der Volksbildungsarbeit kann nicht in einem schematischen
Massenbetrieb, sondern muß in einer sorgfältig dezentralisierten, den Ver¬
schiedenheiten einzelner Berufs- und Altersklassen, der sozialen Schichtung und
ethnographischen Differenzierung Rechnung tragenden organischen Ausbildung
von Gruppen liegen. Soll Bildungsarbeit nicht nur „aufklärend", sondern
wirklich kulturbildend wirken, so hat sie an die kulturellen Grundlagen wie jede
deutsche Landschaft, jeder Volksstamm, jede Berufs- und Altersschicht sie in
ganz verschiedener Weise bieten, sorgfältig anzuknüpfen. Kultur ist kein Massen¬
produkt, sondern bodenständig in bestimmten Schranken organisch erwachsene
Form. Wer diese Schranken niederreißt oder durch ein Zuviel an Bildungsstoff
verwischt oder verkleidet, wirkt nicht kulturbildend. Kulturentwicklung ist keine
Fabrik-, sondern im höchsten Grade Qualitätsarbeit. Es kann nicht darauf an¬
kommen, daß der Einzelne in den Stand gesetzt wird, eine Masse Kenntnisse mit
sich herumzuschleppen, mit denen er im Grunde nicht das mindeste anfangen
kann, sondern daß alle diese Dinge oder auch nur ganz wenige zu seinem eigent¬
lichen Lebenszentrum in lebendige Beziehung gesetzt werden, daß sich der Um¬
kreis seines Lebens und Sehensgefühls wohl erweitere, vor allem aber erhelle
und klare und daß die Erweiterung nie in einem Maße ausgedehnt wird, daß
die Peripherie den organischen, vom inneren Kern aus erleuchteten und durch¬
wärmten Zusammenhang mit dem Zentrum verliert.

In diesem Sinne wird es die Volksbildungsarbeit peinlich vermeiden
müssen, dem Ideal einer sogenannten „allgemeinen" Bildung nachzujagen,
sondern von dem Grundsatz auszugehen haben, daß, eines gründlich erfaßt zu
haben, das Fundament aller Bildung sein und daß dies eine dann möglichst zM
Universalität ausgeweidet werden'muß, daß mit andern Worten das Allgemeine
seinen Nährboden im Einzelnen haben muß, nicht aber das Allgemeine eine
formale Decke über ein in sich mangelhaft beherrschtes Einzelne sein darf. Die
Universalität des Individuums, bekanntlich auch eine ideale Forderung Lenins,
und wahrscheinlich bestimmt, das mechanische Ideal der arbeitsteilenden Speziali¬
sierung abzulösen, muß wachsen wie die Laubkrone aus dem festen Stamm-
Gleich mit der Laubkrone anfangen, das ergibt nur unfruchtbares Gestrüpp
und Unterholz.




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[0156] Massenbildung alles nur irgendwie in den Grenzen des Möglichen Liegende zu tun, dies Be¬ streben in ersprießliche Bahnen zu lenken, mit allen zur Verfügung stehenden Kräften wachzuhalten, zu Pflegen und fruchtbar zu gestalten. Nur mache man sich von der Illusion los, daß es mit ein paar Vorträgen getan sei, nur hüte man sich, beim Volke der unheilvollen Verwechslung von Wissen und Bildung Vorschub zu leisten. Das Ideal der Volksbildungsarbeit kann nicht in einem schematischen Massenbetrieb, sondern muß in einer sorgfältig dezentralisierten, den Ver¬ schiedenheiten einzelner Berufs- und Altersklassen, der sozialen Schichtung und ethnographischen Differenzierung Rechnung tragenden organischen Ausbildung von Gruppen liegen. Soll Bildungsarbeit nicht nur „aufklärend", sondern wirklich kulturbildend wirken, so hat sie an die kulturellen Grundlagen wie jede deutsche Landschaft, jeder Volksstamm, jede Berufs- und Altersschicht sie in ganz verschiedener Weise bieten, sorgfältig anzuknüpfen. Kultur ist kein Massen¬ produkt, sondern bodenständig in bestimmten Schranken organisch erwachsene Form. Wer diese Schranken niederreißt oder durch ein Zuviel an Bildungsstoff verwischt oder verkleidet, wirkt nicht kulturbildend. Kulturentwicklung ist keine Fabrik-, sondern im höchsten Grade Qualitätsarbeit. Es kann nicht darauf an¬ kommen, daß der Einzelne in den Stand gesetzt wird, eine Masse Kenntnisse mit sich herumzuschleppen, mit denen er im Grunde nicht das mindeste anfangen kann, sondern daß alle diese Dinge oder auch nur ganz wenige zu seinem eigent¬ lichen Lebenszentrum in lebendige Beziehung gesetzt werden, daß sich der Um¬ kreis seines Lebens und Sehensgefühls wohl erweitere, vor allem aber erhelle und klare und daß die Erweiterung nie in einem Maße ausgedehnt wird, daß die Peripherie den organischen, vom inneren Kern aus erleuchteten und durch¬ wärmten Zusammenhang mit dem Zentrum verliert. In diesem Sinne wird es die Volksbildungsarbeit peinlich vermeiden müssen, dem Ideal einer sogenannten „allgemeinen" Bildung nachzujagen, sondern von dem Grundsatz auszugehen haben, daß, eines gründlich erfaßt zu haben, das Fundament aller Bildung sein und daß dies eine dann möglichst zM Universalität ausgeweidet werden'muß, daß mit andern Worten das Allgemeine seinen Nährboden im Einzelnen haben muß, nicht aber das Allgemeine eine formale Decke über ein in sich mangelhaft beherrschtes Einzelne sein darf. Die Universalität des Individuums, bekanntlich auch eine ideale Forderung Lenins, und wahrscheinlich bestimmt, das mechanische Ideal der arbeitsteilenden Speziali¬ sierung abzulösen, muß wachsen wie die Laubkrone aus dem festen Stamm- Gleich mit der Laubkrone anfangen, das ergibt nur unfruchtbares Gestrüpp und Unterholz.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_338022/156>, abgerufen am 22.07.2024.