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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr.

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Neichsspiegel

Glieder empörten sich gegen den Magen. Aber im ganzen war doch der Kopf. d. h.
der römische Nationalgeist, so einflußreich, Glieder und Magen zusammenzuhalten.

Die Klassenpolitik der englischen Massen ist dem Staat nie gefährlich geworden.
Jeder Engländer ist eben Mitglied einer gutgehenden Erwerbsgesellschaft zur Welt¬
beherrschung, ein kleiner Dschingiskhan auf Aktien. Das bindet. Ferner hat in
England die regierende Schicht stets den Mittelstand zu sich herangezogen, in sich
aufgesaugt, während in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert eine genügend große
Schicht von Literaten, Politikern, Gebildeten aller Art lebte, die sich im Gegensatz
zu der herrschenden Schicht fühlten. Sie gaben den deutschen Massen die ätzenden,
oppositionellen Führer, ohne welche die Massen keine gefährliche Klassenpolitik zu
treiben vermögen. Sie erwecken immer aufs neue in den Millionen kleiner, die
Politik nicht im ganzen überblickender Wähler den Wahn, als könnte durch Umsturz
oder radikalen Umbau das Los der Mühseligen und Beladenen grundsätzlich verbessert
werden. Da sie immer nur opponieren und Paradiese schildern, ohne je in grauer
Wirklichkeit zu regieren und den Bankerott ihrer Utopien vordemonstrieren zu
müssen, so werden die gläubigen Schäflein nicht alle. Und da der deutschen herrschen¬
den Schicht die kluge Höflichkeit fehlte, womit Engländer und Franzosen seit langer
Zeit den Unterworfenen die Bittemis einzuwickeln geschult sind, so wurde, obwohl
wir im alten Deutschland das beste, uneigennützigste und für die Massen goldenste
Regieren besaßen, welches die Weltgeschichte je gesehen hat, der Klassenhaß bei uns
weniger übertüncht als anderswo. Vor allem, weil der nationale Instinkt bet uns
jung und unentwickelt war. Der Sozialist vertrat die eine der beiden national
instinktlosen Spielarten des Deutschen, die kosmopolitische, am reinsten. Wenn er
die andere Spielart, den Partikularisten, verwarf und dadurch vorübergehend sogar
zur Stütze zentralistisch-unitarischer Bestrebungen werden konnte, so teilte er doch
mit dem Partikularisten die Gabe, den Deutschen anderer Couleur gründlicher zu,
hassen und zu bekämpfen als den nichtdeutschen. Er sah über das Nationale hinweg
und mißachtete die Schranken zwischen Volk und Volk ebenso wie die Schranken
zwischen Stamm und Stamm oder Konfession und Konfession. Solange er in der
Opposition war und andere, national empfindende Kreise regierten, mochte das mit
Mangel an Erfahrung entschuldigt werden, obwohl es tiefer, nämlich im Charakter
des halbgebildeter Deutschen liegt. Aber nachdem der Frieden von Versailles und
eigene Regierungserfahrung die harte nationalistische Wirklichkeit aufgezeigt und
den Untergang einer klassenverhetzten, in Arbeit und Abwehr nicht einigen Nation
erwiesen haben, wie soll man es nennen, wenn die Sozialdemokratie noch heute
Klassenhaß auf Kosten des Volksganzen treibt, heute fanatischer, eigenbeschränkter
als je?

In einer deutschnationalen Volksversammlung saß ich neben Arbeiterfrauen.
Der Redner verlangte, daß Oberschlesien und das Rheinland dem Reich erhalten
bleiben müßten. Die Frauen neben mir riefen entrüstet: "Bluthund! Kriegshund!",
und ihre Genossen klatschten und lachten. Sie wußten ja bei ihrer eintönig klassen¬
mäßigen Politisierung überhaupt nicht, daß diese Länder noch deutsch waren, sie
sahen nur in jedem, der von nationalem Besitzstand sprach, einen Annexionisten,
Kriegstreiber und natürlich auch Kapitalisten, dem man nur niedrige Beweggründe
zutraut und demgegenüber man auch, ob Deutschland zugrunde gehe oder nicht, den
niedrigen Gefühlen des Hasses und des Besitzneides nachgeben darf.

An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Jene armseligen Weibletn, die
Frucht sozialdemokratischer Agitatoren, sind nicht dümmer als ihre Lehrmeister selbst.
Denn auch diese vermeiden jeden Gedankengang, der nicht den Klassenkampf direkt
angeht. Denn das würde die monomane Energie des Klassenhasses schwächen. Das
Nationale würde ja sogar Gemeinsamkeit zwischen Kapital und Proletarier spinnen.
Das darf um alles in der Welt nicht sein. Daß das Kapital, soweit es deutsch ist,
erhalten werden muß gerade um des Arbeiters willen, und daß wir bei deutschem
Kapitalreichtum vor dem Krieg auch glückliche Arbeiter hatten, jetzt dagegen alle¬
samt Lohnsklaven ausländischen Kapitals geworden sind: solche Wirklichkeiten
existieren im Agitatorengehtrn nicht. Dort darf keine Wirklichkeit existieren, kein


Neichsspiegel

Glieder empörten sich gegen den Magen. Aber im ganzen war doch der Kopf. d. h.
der römische Nationalgeist, so einflußreich, Glieder und Magen zusammenzuhalten.

Die Klassenpolitik der englischen Massen ist dem Staat nie gefährlich geworden.
Jeder Engländer ist eben Mitglied einer gutgehenden Erwerbsgesellschaft zur Welt¬
beherrschung, ein kleiner Dschingiskhan auf Aktien. Das bindet. Ferner hat in
England die regierende Schicht stets den Mittelstand zu sich herangezogen, in sich
aufgesaugt, während in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert eine genügend große
Schicht von Literaten, Politikern, Gebildeten aller Art lebte, die sich im Gegensatz
zu der herrschenden Schicht fühlten. Sie gaben den deutschen Massen die ätzenden,
oppositionellen Führer, ohne welche die Massen keine gefährliche Klassenpolitik zu
treiben vermögen. Sie erwecken immer aufs neue in den Millionen kleiner, die
Politik nicht im ganzen überblickender Wähler den Wahn, als könnte durch Umsturz
oder radikalen Umbau das Los der Mühseligen und Beladenen grundsätzlich verbessert
werden. Da sie immer nur opponieren und Paradiese schildern, ohne je in grauer
Wirklichkeit zu regieren und den Bankerott ihrer Utopien vordemonstrieren zu
müssen, so werden die gläubigen Schäflein nicht alle. Und da der deutschen herrschen¬
den Schicht die kluge Höflichkeit fehlte, womit Engländer und Franzosen seit langer
Zeit den Unterworfenen die Bittemis einzuwickeln geschult sind, so wurde, obwohl
wir im alten Deutschland das beste, uneigennützigste und für die Massen goldenste
Regieren besaßen, welches die Weltgeschichte je gesehen hat, der Klassenhaß bei uns
weniger übertüncht als anderswo. Vor allem, weil der nationale Instinkt bet uns
jung und unentwickelt war. Der Sozialist vertrat die eine der beiden national
instinktlosen Spielarten des Deutschen, die kosmopolitische, am reinsten. Wenn er
die andere Spielart, den Partikularisten, verwarf und dadurch vorübergehend sogar
zur Stütze zentralistisch-unitarischer Bestrebungen werden konnte, so teilte er doch
mit dem Partikularisten die Gabe, den Deutschen anderer Couleur gründlicher zu,
hassen und zu bekämpfen als den nichtdeutschen. Er sah über das Nationale hinweg
und mißachtete die Schranken zwischen Volk und Volk ebenso wie die Schranken
zwischen Stamm und Stamm oder Konfession und Konfession. Solange er in der
Opposition war und andere, national empfindende Kreise regierten, mochte das mit
Mangel an Erfahrung entschuldigt werden, obwohl es tiefer, nämlich im Charakter
des halbgebildeter Deutschen liegt. Aber nachdem der Frieden von Versailles und
eigene Regierungserfahrung die harte nationalistische Wirklichkeit aufgezeigt und
den Untergang einer klassenverhetzten, in Arbeit und Abwehr nicht einigen Nation
erwiesen haben, wie soll man es nennen, wenn die Sozialdemokratie noch heute
Klassenhaß auf Kosten des Volksganzen treibt, heute fanatischer, eigenbeschränkter
als je?

In einer deutschnationalen Volksversammlung saß ich neben Arbeiterfrauen.
Der Redner verlangte, daß Oberschlesien und das Rheinland dem Reich erhalten
bleiben müßten. Die Frauen neben mir riefen entrüstet: „Bluthund! Kriegshund!",
und ihre Genossen klatschten und lachten. Sie wußten ja bei ihrer eintönig klassen¬
mäßigen Politisierung überhaupt nicht, daß diese Länder noch deutsch waren, sie
sahen nur in jedem, der von nationalem Besitzstand sprach, einen Annexionisten,
Kriegstreiber und natürlich auch Kapitalisten, dem man nur niedrige Beweggründe
zutraut und demgegenüber man auch, ob Deutschland zugrunde gehe oder nicht, den
niedrigen Gefühlen des Hasses und des Besitzneides nachgeben darf.

An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Jene armseligen Weibletn, die
Frucht sozialdemokratischer Agitatoren, sind nicht dümmer als ihre Lehrmeister selbst.
Denn auch diese vermeiden jeden Gedankengang, der nicht den Klassenkampf direkt
angeht. Denn das würde die monomane Energie des Klassenhasses schwächen. Das
Nationale würde ja sogar Gemeinsamkeit zwischen Kapital und Proletarier spinnen.
Das darf um alles in der Welt nicht sein. Daß das Kapital, soweit es deutsch ist,
erhalten werden muß gerade um des Arbeiters willen, und daß wir bei deutschem
Kapitalreichtum vor dem Krieg auch glückliche Arbeiter hatten, jetzt dagegen alle¬
samt Lohnsklaven ausländischen Kapitals geworden sind: solche Wirklichkeiten
existieren im Agitatorengehtrn nicht. Dort darf keine Wirklichkeit existieren, kein


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[0034] Neichsspiegel Glieder empörten sich gegen den Magen. Aber im ganzen war doch der Kopf. d. h. der römische Nationalgeist, so einflußreich, Glieder und Magen zusammenzuhalten. Die Klassenpolitik der englischen Massen ist dem Staat nie gefährlich geworden. Jeder Engländer ist eben Mitglied einer gutgehenden Erwerbsgesellschaft zur Welt¬ beherrschung, ein kleiner Dschingiskhan auf Aktien. Das bindet. Ferner hat in England die regierende Schicht stets den Mittelstand zu sich herangezogen, in sich aufgesaugt, während in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert eine genügend große Schicht von Literaten, Politikern, Gebildeten aller Art lebte, die sich im Gegensatz zu der herrschenden Schicht fühlten. Sie gaben den deutschen Massen die ätzenden, oppositionellen Führer, ohne welche die Massen keine gefährliche Klassenpolitik zu treiben vermögen. Sie erwecken immer aufs neue in den Millionen kleiner, die Politik nicht im ganzen überblickender Wähler den Wahn, als könnte durch Umsturz oder radikalen Umbau das Los der Mühseligen und Beladenen grundsätzlich verbessert werden. Da sie immer nur opponieren und Paradiese schildern, ohne je in grauer Wirklichkeit zu regieren und den Bankerott ihrer Utopien vordemonstrieren zu müssen, so werden die gläubigen Schäflein nicht alle. Und da der deutschen herrschen¬ den Schicht die kluge Höflichkeit fehlte, womit Engländer und Franzosen seit langer Zeit den Unterworfenen die Bittemis einzuwickeln geschult sind, so wurde, obwohl wir im alten Deutschland das beste, uneigennützigste und für die Massen goldenste Regieren besaßen, welches die Weltgeschichte je gesehen hat, der Klassenhaß bei uns weniger übertüncht als anderswo. Vor allem, weil der nationale Instinkt bet uns jung und unentwickelt war. Der Sozialist vertrat die eine der beiden national instinktlosen Spielarten des Deutschen, die kosmopolitische, am reinsten. Wenn er die andere Spielart, den Partikularisten, verwarf und dadurch vorübergehend sogar zur Stütze zentralistisch-unitarischer Bestrebungen werden konnte, so teilte er doch mit dem Partikularisten die Gabe, den Deutschen anderer Couleur gründlicher zu, hassen und zu bekämpfen als den nichtdeutschen. Er sah über das Nationale hinweg und mißachtete die Schranken zwischen Volk und Volk ebenso wie die Schranken zwischen Stamm und Stamm oder Konfession und Konfession. Solange er in der Opposition war und andere, national empfindende Kreise regierten, mochte das mit Mangel an Erfahrung entschuldigt werden, obwohl es tiefer, nämlich im Charakter des halbgebildeter Deutschen liegt. Aber nachdem der Frieden von Versailles und eigene Regierungserfahrung die harte nationalistische Wirklichkeit aufgezeigt und den Untergang einer klassenverhetzten, in Arbeit und Abwehr nicht einigen Nation erwiesen haben, wie soll man es nennen, wenn die Sozialdemokratie noch heute Klassenhaß auf Kosten des Volksganzen treibt, heute fanatischer, eigenbeschränkter als je? In einer deutschnationalen Volksversammlung saß ich neben Arbeiterfrauen. Der Redner verlangte, daß Oberschlesien und das Rheinland dem Reich erhalten bleiben müßten. Die Frauen neben mir riefen entrüstet: „Bluthund! Kriegshund!", und ihre Genossen klatschten und lachten. Sie wußten ja bei ihrer eintönig klassen¬ mäßigen Politisierung überhaupt nicht, daß diese Länder noch deutsch waren, sie sahen nur in jedem, der von nationalem Besitzstand sprach, einen Annexionisten, Kriegstreiber und natürlich auch Kapitalisten, dem man nur niedrige Beweggründe zutraut und demgegenüber man auch, ob Deutschland zugrunde gehe oder nicht, den niedrigen Gefühlen des Hasses und des Besitzneides nachgeben darf. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Jene armseligen Weibletn, die Frucht sozialdemokratischer Agitatoren, sind nicht dümmer als ihre Lehrmeister selbst. Denn auch diese vermeiden jeden Gedankengang, der nicht den Klassenkampf direkt angeht. Denn das würde die monomane Energie des Klassenhasses schwächen. Das Nationale würde ja sogar Gemeinsamkeit zwischen Kapital und Proletarier spinnen. Das darf um alles in der Welt nicht sein. Daß das Kapital, soweit es deutsch ist, erhalten werden muß gerade um des Arbeiters willen, und daß wir bei deutschem Kapitalreichtum vor dem Krieg auch glückliche Arbeiter hatten, jetzt dagegen alle¬ samt Lohnsklaven ausländischen Kapitals geworden sind: solche Wirklichkeiten existieren im Agitatorengehtrn nicht. Dort darf keine Wirklichkeit existieren, kein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/34>, abgerufen am 03.07.2024.