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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr.

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Betrachtungen zur Frage der deutschen Auswanderung

Betrachtungen zur Frage der deutschen
Auswanderung, besonders nach Südamerika
Ol-. jur. Hartwig. von /

er Erzbergersche Friedensvertrag legt als unmittelbare Folge dem
deutschen Volke eine Auswanderung von 20 Millionen Volks¬
genossen auf.

Der Zug der Auswanderung geht nach Westen, nach den
Staaten Südamerikas, einschließlich derjenigen, die bislang mit
Deutschland im Kriege gestanden oder nur die diplomatischen Beziehungen ab¬
gebrochen hatten.

Aber wie haben sich die Bedingungen verändert, unter denen wir jetzt ins
Ausland gehenZ ^

Wir kommen nicht mehr als Gleichwertige zu den Staaten, die unsere neue
Heimat werden sollen, sondern als Werdende, als Bittende um Aufnahme. Nach
jeder Richtung hin haben sich unsere Aussichten verschlechtert.

Der Wunsch der meisten Auswanderer geht erklärlicherweise dahin, möglichst
den bisherigen Beruf im Auslande wieder ausüben zu können. Es liegt aber in der
ganzen wirtschaftlichen und sozialen Gestaltung der jungen südamerikanischen
Länder, daß nur solche Kenntnisse Aussicht auf direkte Verwendung finden werden,
die in unmittelbarer Beziehung zum täglichen Leben stehen, wie Ärzte, Apotheker,
Chemiker, Ingenieure, Landwirte, Kaufleute und Handwerker der meisten Berufs-
klassen. Je nach dem Lande wird die Aufnahmefähigkeit für den einen oder anderen
Beruf eine größere oder geringere sein. So wird z. B. Argentinien für Vauhand-
werker kein geeignetes Feld genannt werden können, weil der italienische Fach¬
arbeiter sich hier ein gewisses Monopol geschaffen hat und mit Lebensbedingungen
sich begnügt, die dem kulturell höher stehenden deutschen Arbeiter unzureichend
erscheinen.

Nur Menschen mit praktischer Auffassung und dem Willen zu einer ver¬
ständigen Anpassungsfähigkeit an die Bedürfnisse des neuen Landes nach den ver¬
schiedensten Richtungen hin haben Aussichten. Ebenso sollten Angehörige schön¬
geistiger und kultureller Berufe, wie Lehrer, Juristen, Pastoren, Philologen, Philo¬
sophen und Künstler usw., sich einer sehr eingehenden eigenen Prüfung unterziehen,
ob sie zur Umstellung für einen anderen Beruf die erforderlichen geistigen Eigen¬
schaften und Vorbildung mitbringen. Als geeignete Vorkenntnisse sind zunächst
möglichstes Verstehen und Sprechen der Landessprache erforderlich. Sodann aber
auch allgemeine Kenntnisse des Landes, sowie der Gebräuche, Gewohnheiten und des
Charakters der Bewohner.

Gesundheit ist überall erforderlich; gleichviel ob die Zukunft in den gemäßigten
oder mehr tropischen Gegenden liegt.

Das Alter spielt keine entscheidende Rolle. Solange Gesundheit und der feste
Wille vorhanden sind, mit den neuen Verhältnissen sich abzufinden und in ihnen


Betrachtungen zur Frage der deutschen Auswanderung

Betrachtungen zur Frage der deutschen
Auswanderung, besonders nach Südamerika
Ol-. jur. Hartwig. von /

er Erzbergersche Friedensvertrag legt als unmittelbare Folge dem
deutschen Volke eine Auswanderung von 20 Millionen Volks¬
genossen auf.

Der Zug der Auswanderung geht nach Westen, nach den
Staaten Südamerikas, einschließlich derjenigen, die bislang mit
Deutschland im Kriege gestanden oder nur die diplomatischen Beziehungen ab¬
gebrochen hatten.

Aber wie haben sich die Bedingungen verändert, unter denen wir jetzt ins
Ausland gehenZ ^

Wir kommen nicht mehr als Gleichwertige zu den Staaten, die unsere neue
Heimat werden sollen, sondern als Werdende, als Bittende um Aufnahme. Nach
jeder Richtung hin haben sich unsere Aussichten verschlechtert.

Der Wunsch der meisten Auswanderer geht erklärlicherweise dahin, möglichst
den bisherigen Beruf im Auslande wieder ausüben zu können. Es liegt aber in der
ganzen wirtschaftlichen und sozialen Gestaltung der jungen südamerikanischen
Länder, daß nur solche Kenntnisse Aussicht auf direkte Verwendung finden werden,
die in unmittelbarer Beziehung zum täglichen Leben stehen, wie Ärzte, Apotheker,
Chemiker, Ingenieure, Landwirte, Kaufleute und Handwerker der meisten Berufs-
klassen. Je nach dem Lande wird die Aufnahmefähigkeit für den einen oder anderen
Beruf eine größere oder geringere sein. So wird z. B. Argentinien für Vauhand-
werker kein geeignetes Feld genannt werden können, weil der italienische Fach¬
arbeiter sich hier ein gewisses Monopol geschaffen hat und mit Lebensbedingungen
sich begnügt, die dem kulturell höher stehenden deutschen Arbeiter unzureichend
erscheinen.

Nur Menschen mit praktischer Auffassung und dem Willen zu einer ver¬
ständigen Anpassungsfähigkeit an die Bedürfnisse des neuen Landes nach den ver¬
schiedensten Richtungen hin haben Aussichten. Ebenso sollten Angehörige schön¬
geistiger und kultureller Berufe, wie Lehrer, Juristen, Pastoren, Philologen, Philo¬
sophen und Künstler usw., sich einer sehr eingehenden eigenen Prüfung unterziehen,
ob sie zur Umstellung für einen anderen Beruf die erforderlichen geistigen Eigen¬
schaften und Vorbildung mitbringen. Als geeignete Vorkenntnisse sind zunächst
möglichstes Verstehen und Sprechen der Landessprache erforderlich. Sodann aber
auch allgemeine Kenntnisse des Landes, sowie der Gebräuche, Gewohnheiten und des
Charakters der Bewohner.

Gesundheit ist überall erforderlich; gleichviel ob die Zukunft in den gemäßigten
oder mehr tropischen Gegenden liegt.

Das Alter spielt keine entscheidende Rolle. Solange Gesundheit und der feste
Wille vorhanden sind, mit den neuen Verhältnissen sich abzufinden und in ihnen


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[0310] Betrachtungen zur Frage der deutschen Auswanderung Betrachtungen zur Frage der deutschen Auswanderung, besonders nach Südamerika Ol-. jur. Hartwig. von / er Erzbergersche Friedensvertrag legt als unmittelbare Folge dem deutschen Volke eine Auswanderung von 20 Millionen Volks¬ genossen auf. Der Zug der Auswanderung geht nach Westen, nach den Staaten Südamerikas, einschließlich derjenigen, die bislang mit Deutschland im Kriege gestanden oder nur die diplomatischen Beziehungen ab¬ gebrochen hatten. Aber wie haben sich die Bedingungen verändert, unter denen wir jetzt ins Ausland gehenZ ^ Wir kommen nicht mehr als Gleichwertige zu den Staaten, die unsere neue Heimat werden sollen, sondern als Werdende, als Bittende um Aufnahme. Nach jeder Richtung hin haben sich unsere Aussichten verschlechtert. Der Wunsch der meisten Auswanderer geht erklärlicherweise dahin, möglichst den bisherigen Beruf im Auslande wieder ausüben zu können. Es liegt aber in der ganzen wirtschaftlichen und sozialen Gestaltung der jungen südamerikanischen Länder, daß nur solche Kenntnisse Aussicht auf direkte Verwendung finden werden, die in unmittelbarer Beziehung zum täglichen Leben stehen, wie Ärzte, Apotheker, Chemiker, Ingenieure, Landwirte, Kaufleute und Handwerker der meisten Berufs- klassen. Je nach dem Lande wird die Aufnahmefähigkeit für den einen oder anderen Beruf eine größere oder geringere sein. So wird z. B. Argentinien für Vauhand- werker kein geeignetes Feld genannt werden können, weil der italienische Fach¬ arbeiter sich hier ein gewisses Monopol geschaffen hat und mit Lebensbedingungen sich begnügt, die dem kulturell höher stehenden deutschen Arbeiter unzureichend erscheinen. Nur Menschen mit praktischer Auffassung und dem Willen zu einer ver¬ ständigen Anpassungsfähigkeit an die Bedürfnisse des neuen Landes nach den ver¬ schiedensten Richtungen hin haben Aussichten. Ebenso sollten Angehörige schön¬ geistiger und kultureller Berufe, wie Lehrer, Juristen, Pastoren, Philologen, Philo¬ sophen und Künstler usw., sich einer sehr eingehenden eigenen Prüfung unterziehen, ob sie zur Umstellung für einen anderen Beruf die erforderlichen geistigen Eigen¬ schaften und Vorbildung mitbringen. Als geeignete Vorkenntnisse sind zunächst möglichstes Verstehen und Sprechen der Landessprache erforderlich. Sodann aber auch allgemeine Kenntnisse des Landes, sowie der Gebräuche, Gewohnheiten und des Charakters der Bewohner. Gesundheit ist überall erforderlich; gleichviel ob die Zukunft in den gemäßigten oder mehr tropischen Gegenden liegt. Das Alter spielt keine entscheidende Rolle. Solange Gesundheit und der feste Wille vorhanden sind, mit den neuen Verhältnissen sich abzufinden und in ihnen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/310>, abgerufen am 22.07.2024.