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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr.

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die Analyse des Spenglerschen Denkens und
der aus ihm erwachsenen Idee des Sozialismus,
sodann die Analyse des geschichtlichen
Sozialismus wird mit hervorragender Gründ¬
lichkeit und Präzision gelöst. Dafür mögen
einige zusammenfassende Formulierungen als
Zeugnis dienen: Über Spenglers geistige
Herkunft: "Nachklänge von Klassizismus und
Romantik, in Verbindung mit stärksten Ein¬
schlagen naturwissenschaftlichen Denkens und
rein diesseitiger moderner Lebensphilosophie
schießen geistig in eine Synthese zusammen,
deren Kennzeichen absolute Diesseitigkeit,
Sinn- und Zielverneinung des Lebens,
Naturalismus der Kulturbetrachtung, Dog¬
matismus der Geschichtsbetrachtung, Relativis¬
mus aller Äußerungen in Geist, Sittlichkeit
und Kultur darstellen" (S. 44.) Zur Analyse
des deutschen Sozialismus: "Ein plötzlich
hervorbrechender, hochgeschraubter, arbeits¬
intensivster Kapitalismus im Verein mit
gewaltigen Bevölkerungs- und Berufsum-
schichtungcn stößt zusammen mit rückständigen
politischen Lebensformen, mit bedenklicher
Sozialmoral von oben bei stärkstem Gemein¬
schaftsverlangen der unteren Volksschichten,
mit starker Neigung zu rücksichtsloser Interessen-
Wahrung in den wirtschaftlich leitenden
Schichten, und in die Gunst dieser Vor¬
bedingungen schlägt die Flamme des moralisch
und intcrefscnmäßig den Massen gleich
entgegenkommenden Marxismus." (S. 69. f.)

Die letzten Sätze nehmen Bezug auf den
höchst bemerkenswerten und wertvollen Nach¬
weis (S. 47 bis S3), in wie großem Umfang
Spenglers Gedanken von F. Tönnies'
klassischem Werke "Gemeinschaft und Gesell¬
schaft" abhängig sind. Diese Abhängigkeit ist
so unmittelbar einsichtig, daß man kaum ver¬
steht, weswegen sie nicht schon längst und
überall erkannt worden ist. Zugleich aber
erhellt daraus die ungeheure Einseitigkeit der
Spenglerschen Gleichsetzung von Abendlands
Zivilisation-- Sozialismus, welche die Korrelat¬
erscheinung dieses Sozialismus (der der
Tvnniesschen "Gesellschaft" entspricht), nämlich
den extremen Individualismus, gänzlich ver¬
nachlässigt.

Wenn von Briefs' Kritik an Spenglers
SozialiSmusidce gesagt werden kann, daß sie
uno ausgesprochen werden mußte, um jene

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Idee aufzuheben, so gilt dasselbe, nur in viel
höherem Maße und im Hinblick auf das Ganze
der Spenglerschen Geschichtsbetrachtung, von
dem Schlußteile der Schrift, der in sorgfältiger
induktiver Beweisführung zeigt, daß Spengler
das wichtigste Moment der abendländischen
Geschichte völlig übersehen bzw. verkannt hat:
den Geist des Christentums. Dieser Geist
ist es, der die Struktur des abendländischen
Bewußtseins bestimmt und somit alle Aus¬
wirkungen dieses Bewußtseins, die ethischen
und sozialen in erster Linie, trägt. Wer diesen
Geist nicht kennt oder nicht kennen will, der
stellt sich, wie der Verfasser mit unnachsicht-
licher Schärfe ausführt, "jenseits des wirk¬
lichen Abendlandes". Wer ihn aber kennt,
das heißt, wer sich als Christ bekennt, dem
kann das Schreckbild vom Untergang des
Abendlandes nichts anhaben, der kennt Wege
und Ziele der Erneuerung des Abendlandes.

Die Schrift von Scholz, deren erste
Hälste eine gut disponierte Zusammenfassung
der Spenglerschen Gedanken ist, bringt in der
zweiten Hälste allgemeine kulturphilosophische
Erwägungen und gelangt zur Anerkennung
einzelner, zur bedingten oder unbedingten Ab¬
lehnung anderer von diesen Gedanken. Im
ersten Teil ist die Reproduktion deS Speng¬
lerschen Zeitbegriffs (der den Ergebnissen
Minkowskis und Einsteins gegenüber unhalt¬
bar ist -- es nimmt Wunder, wie wenig
Rücksicht Spengler auf die Resultate der
speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie
nimmt) und die Abgrenzung seines Homologie-
begriffes gegen den Begriff einer nur assoziativ
vermittelten, nicht wesensmäßig zugeordneten
Analogie bedeutungsvoll. (Daß Spengler
eine wissenschaftliche Bestimmung des Homo¬
logiebegriffes gelungen wäre, wird dennoch
bezweifelt werden müssen.) Die kritischen
Ausführungen des zweiten Teiles sind weniger
grundsätzlich-sachlich, als vielmehr ack doiniinzm
gerichtet. So sind sie, trotz ethischer Kraft,
nicht so zwingend wie etwa die wissenschaft¬
lichen Gedankengänge in der Schrift von
Briefs. Allerdings scheint der Verfasser den
Wert spezialwissenschaftlicher Auseinander¬
setzung nicht allzu hoch zu bemessen, wenn er
folgendes Urteil über das von Spengler ver¬
arbeitete Wissen abgibt: "Das sind nicht die
Kenntnisse eines Gelehrten, der den Wert des

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die Analyse des Spenglerschen Denkens und
der aus ihm erwachsenen Idee des Sozialismus,
sodann die Analyse des geschichtlichen
Sozialismus wird mit hervorragender Gründ¬
lichkeit und Präzision gelöst. Dafür mögen
einige zusammenfassende Formulierungen als
Zeugnis dienen: Über Spenglers geistige
Herkunft: „Nachklänge von Klassizismus und
Romantik, in Verbindung mit stärksten Ein¬
schlagen naturwissenschaftlichen Denkens und
rein diesseitiger moderner Lebensphilosophie
schießen geistig in eine Synthese zusammen,
deren Kennzeichen absolute Diesseitigkeit,
Sinn- und Zielverneinung des Lebens,
Naturalismus der Kulturbetrachtung, Dog¬
matismus der Geschichtsbetrachtung, Relativis¬
mus aller Äußerungen in Geist, Sittlichkeit
und Kultur darstellen" (S. 44.) Zur Analyse
des deutschen Sozialismus: „Ein plötzlich
hervorbrechender, hochgeschraubter, arbeits¬
intensivster Kapitalismus im Verein mit
gewaltigen Bevölkerungs- und Berufsum-
schichtungcn stößt zusammen mit rückständigen
politischen Lebensformen, mit bedenklicher
Sozialmoral von oben bei stärkstem Gemein¬
schaftsverlangen der unteren Volksschichten,
mit starker Neigung zu rücksichtsloser Interessen-
Wahrung in den wirtschaftlich leitenden
Schichten, und in die Gunst dieser Vor¬
bedingungen schlägt die Flamme des moralisch
und intcrefscnmäßig den Massen gleich
entgegenkommenden Marxismus." (S. 69. f.)

Die letzten Sätze nehmen Bezug auf den
höchst bemerkenswerten und wertvollen Nach¬
weis (S. 47 bis S3), in wie großem Umfang
Spenglers Gedanken von F. Tönnies'
klassischem Werke „Gemeinschaft und Gesell¬
schaft" abhängig sind. Diese Abhängigkeit ist
so unmittelbar einsichtig, daß man kaum ver¬
steht, weswegen sie nicht schon längst und
überall erkannt worden ist. Zugleich aber
erhellt daraus die ungeheure Einseitigkeit der
Spenglerschen Gleichsetzung von Abendlands
Zivilisation— Sozialismus, welche die Korrelat¬
erscheinung dieses Sozialismus (der der
Tvnniesschen „Gesellschaft" entspricht), nämlich
den extremen Individualismus, gänzlich ver¬
nachlässigt.

Wenn von Briefs' Kritik an Spenglers
SozialiSmusidce gesagt werden kann, daß sie
uno ausgesprochen werden mußte, um jene

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Idee aufzuheben, so gilt dasselbe, nur in viel
höherem Maße und im Hinblick auf das Ganze
der Spenglerschen Geschichtsbetrachtung, von
dem Schlußteile der Schrift, der in sorgfältiger
induktiver Beweisführung zeigt, daß Spengler
das wichtigste Moment der abendländischen
Geschichte völlig übersehen bzw. verkannt hat:
den Geist des Christentums. Dieser Geist
ist es, der die Struktur des abendländischen
Bewußtseins bestimmt und somit alle Aus¬
wirkungen dieses Bewußtseins, die ethischen
und sozialen in erster Linie, trägt. Wer diesen
Geist nicht kennt oder nicht kennen will, der
stellt sich, wie der Verfasser mit unnachsicht-
licher Schärfe ausführt, „jenseits des wirk¬
lichen Abendlandes". Wer ihn aber kennt,
das heißt, wer sich als Christ bekennt, dem
kann das Schreckbild vom Untergang des
Abendlandes nichts anhaben, der kennt Wege
und Ziele der Erneuerung des Abendlandes.

Die Schrift von Scholz, deren erste
Hälste eine gut disponierte Zusammenfassung
der Spenglerschen Gedanken ist, bringt in der
zweiten Hälste allgemeine kulturphilosophische
Erwägungen und gelangt zur Anerkennung
einzelner, zur bedingten oder unbedingten Ab¬
lehnung anderer von diesen Gedanken. Im
ersten Teil ist die Reproduktion deS Speng¬
lerschen Zeitbegriffs (der den Ergebnissen
Minkowskis und Einsteins gegenüber unhalt¬
bar ist — es nimmt Wunder, wie wenig
Rücksicht Spengler auf die Resultate der
speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie
nimmt) und die Abgrenzung seines Homologie-
begriffes gegen den Begriff einer nur assoziativ
vermittelten, nicht wesensmäßig zugeordneten
Analogie bedeutungsvoll. (Daß Spengler
eine wissenschaftliche Bestimmung des Homo¬
logiebegriffes gelungen wäre, wird dennoch
bezweifelt werden müssen.) Die kritischen
Ausführungen des zweiten Teiles sind weniger
grundsätzlich-sachlich, als vielmehr ack doiniinzm
gerichtet. So sind sie, trotz ethischer Kraft,
nicht so zwingend wie etwa die wissenschaft¬
lichen Gedankengänge in der Schrift von
Briefs. Allerdings scheint der Verfasser den
Wert spezialwissenschaftlicher Auseinander¬
setzung nicht allzu hoch zu bemessen, wenn er
folgendes Urteil über das von Spengler ver¬
arbeitete Wissen abgibt: „Das sind nicht die
Kenntnisse eines Gelehrten, der den Wert des

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[0165] Bücherschau die Analyse des Spenglerschen Denkens und der aus ihm erwachsenen Idee des Sozialismus, sodann die Analyse des geschichtlichen Sozialismus wird mit hervorragender Gründ¬ lichkeit und Präzision gelöst. Dafür mögen einige zusammenfassende Formulierungen als Zeugnis dienen: Über Spenglers geistige Herkunft: „Nachklänge von Klassizismus und Romantik, in Verbindung mit stärksten Ein¬ schlagen naturwissenschaftlichen Denkens und rein diesseitiger moderner Lebensphilosophie schießen geistig in eine Synthese zusammen, deren Kennzeichen absolute Diesseitigkeit, Sinn- und Zielverneinung des Lebens, Naturalismus der Kulturbetrachtung, Dog¬ matismus der Geschichtsbetrachtung, Relativis¬ mus aller Äußerungen in Geist, Sittlichkeit und Kultur darstellen" (S. 44.) Zur Analyse des deutschen Sozialismus: „Ein plötzlich hervorbrechender, hochgeschraubter, arbeits¬ intensivster Kapitalismus im Verein mit gewaltigen Bevölkerungs- und Berufsum- schichtungcn stößt zusammen mit rückständigen politischen Lebensformen, mit bedenklicher Sozialmoral von oben bei stärkstem Gemein¬ schaftsverlangen der unteren Volksschichten, mit starker Neigung zu rücksichtsloser Interessen- Wahrung in den wirtschaftlich leitenden Schichten, und in die Gunst dieser Vor¬ bedingungen schlägt die Flamme des moralisch und intcrefscnmäßig den Massen gleich entgegenkommenden Marxismus." (S. 69. f.) Die letzten Sätze nehmen Bezug auf den höchst bemerkenswerten und wertvollen Nach¬ weis (S. 47 bis S3), in wie großem Umfang Spenglers Gedanken von F. Tönnies' klassischem Werke „Gemeinschaft und Gesell¬ schaft" abhängig sind. Diese Abhängigkeit ist so unmittelbar einsichtig, daß man kaum ver¬ steht, weswegen sie nicht schon längst und überall erkannt worden ist. Zugleich aber erhellt daraus die ungeheure Einseitigkeit der Spenglerschen Gleichsetzung von Abendlands Zivilisation— Sozialismus, welche die Korrelat¬ erscheinung dieses Sozialismus (der der Tvnniesschen „Gesellschaft" entspricht), nämlich den extremen Individualismus, gänzlich ver¬ nachlässigt. Wenn von Briefs' Kritik an Spenglers SozialiSmusidce gesagt werden kann, daß sie uno ausgesprochen werden mußte, um jene Idee aufzuheben, so gilt dasselbe, nur in viel höherem Maße und im Hinblick auf das Ganze der Spenglerschen Geschichtsbetrachtung, von dem Schlußteile der Schrift, der in sorgfältiger induktiver Beweisführung zeigt, daß Spengler das wichtigste Moment der abendländischen Geschichte völlig übersehen bzw. verkannt hat: den Geist des Christentums. Dieser Geist ist es, der die Struktur des abendländischen Bewußtseins bestimmt und somit alle Aus¬ wirkungen dieses Bewußtseins, die ethischen und sozialen in erster Linie, trägt. Wer diesen Geist nicht kennt oder nicht kennen will, der stellt sich, wie der Verfasser mit unnachsicht- licher Schärfe ausführt, „jenseits des wirk¬ lichen Abendlandes". Wer ihn aber kennt, das heißt, wer sich als Christ bekennt, dem kann das Schreckbild vom Untergang des Abendlandes nichts anhaben, der kennt Wege und Ziele der Erneuerung des Abendlandes. Die Schrift von Scholz, deren erste Hälste eine gut disponierte Zusammenfassung der Spenglerschen Gedanken ist, bringt in der zweiten Hälste allgemeine kulturphilosophische Erwägungen und gelangt zur Anerkennung einzelner, zur bedingten oder unbedingten Ab¬ lehnung anderer von diesen Gedanken. Im ersten Teil ist die Reproduktion deS Speng¬ lerschen Zeitbegriffs (der den Ergebnissen Minkowskis und Einsteins gegenüber unhalt¬ bar ist — es nimmt Wunder, wie wenig Rücksicht Spengler auf die Resultate der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie nimmt) und die Abgrenzung seines Homologie- begriffes gegen den Begriff einer nur assoziativ vermittelten, nicht wesensmäßig zugeordneten Analogie bedeutungsvoll. (Daß Spengler eine wissenschaftliche Bestimmung des Homo¬ logiebegriffes gelungen wäre, wird dennoch bezweifelt werden müssen.) Die kritischen Ausführungen des zweiten Teiles sind weniger grundsätzlich-sachlich, als vielmehr ack doiniinzm gerichtet. So sind sie, trotz ethischer Kraft, nicht so zwingend wie etwa die wissenschaft¬ lichen Gedankengänge in der Schrift von Briefs. Allerdings scheint der Verfasser den Wert spezialwissenschaftlicher Auseinander¬ setzung nicht allzu hoch zu bemessen, wenn er folgendes Urteil über das von Spengler ver¬ arbeitete Wissen abgibt: „Das sind nicht die Kenntnisse eines Gelehrten, der den Wert des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/165>, abgerufen am 22.07.2024.