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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr.

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nungsformen der Weltkrankheit herumdoktern,
sondern ihre Ursachen wissenschaftlich er¬
forschen und sie praktisch zu heilen versuchen.

Der Verfasser der vorliegenden Schrift
versucht, das kranke, sterbende Europa nach
der zweiten Methode zu retten. Als Aus¬
gangspunkt seiner Untersuchung nimmt Clcinow
den Endgedanken seiner ersten Schrift ("Rettet
Europa!", siehe die "Grenzboten" Ur. 27).

Seine Gedankengänge sind, in großen
Linien wiedergegeben, folgende: Der Bolsche¬
wismus steht an Europas Grenzen. Europa,
anstatt der roten Sturmflut gegenüber einen
festen Damm aufzubauen, ist schutzlos, weil
in sich zerfallen. Daher ist der Zusammen¬
schluß dieses Erdteils Gebot der Stunde.
Dieser kann aber zunächst nur ein loser,
wirtschaftlicher sein. Der erste Schritt hier¬
zu ist nicht etwa ein utopischer Völker¬
bund, sondern die Aufhebung der inner-
europäischen Zollgrenzen. Hierdurch entzieht
man zugleich dem Krieg seine biologischen
Gründe. C. vergleicht dann eingehend Europa
wirtschaftlich, politisch und sozial in seiner
jetzigen Gestaltung mit jenem Ideal des
geeinten Europas. Als Ergebnis des Ver"

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glcichs zwischen dem in seinen letzten Zuckungen
liegenden greisenhafter Europa der Gegen¬
wart wird als sieghafter Rivale das "kommende
Europa" aus der Taufe gehoben. Freilich
lebt es zunächst noch im schönen Reiche der
Gedanken und ist ein Sorgens- und Schmerzens¬
kind. Der Verfasser sieht klar die entsetzliche
Gefahr, das, "die Geißel des Hungers und
die Furie des Brudermordes" -- wie er den
Bolschewismus anschaulich personifiziert --
das zarte Gebilde des neuen Europas mit
mordgeübter, sicherer Hand erdrosseln könnte.

Es ist ohne weiteres klar, daß die
Meinungen über die Rettung des jetzigen Eu¬
ropa auseinandergehen. Man denke nur an
das Kriegsprogramm der "Mittcleuropäcr"!
Daher ist es schwer, restlos alle Cleinowschen
Schlußforderungen zu unterschreiben. Dies
gilt u. a. von seiner These, daß sich in ab-
sehbarer Zeit das nationale Empfinden von
einem Kollektivgefühl zum Privatcrleben ent¬
wickeln würde. Wen jedoch echte Sehn¬
sucht nach Erlösung aus "dem großen Narren¬
haus Europa" treibt, der liest die geistreichen
Ausführungen mit atemloser Spannung.

Der Grundgedanke der Schrift: Der Wirt-

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Bücherschau

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nungsformen der Weltkrankheit herumdoktern,
sondern ihre Ursachen wissenschaftlich er¬
forschen und sie praktisch zu heilen versuchen.

Der Verfasser der vorliegenden Schrift
versucht, das kranke, sterbende Europa nach
der zweiten Methode zu retten. Als Aus¬
gangspunkt seiner Untersuchung nimmt Clcinow
den Endgedanken seiner ersten Schrift („Rettet
Europa!", siehe die „Grenzboten" Ur. 27).

Seine Gedankengänge sind, in großen
Linien wiedergegeben, folgende: Der Bolsche¬
wismus steht an Europas Grenzen. Europa,
anstatt der roten Sturmflut gegenüber einen
festen Damm aufzubauen, ist schutzlos, weil
in sich zerfallen. Daher ist der Zusammen¬
schluß dieses Erdteils Gebot der Stunde.
Dieser kann aber zunächst nur ein loser,
wirtschaftlicher sein. Der erste Schritt hier¬
zu ist nicht etwa ein utopischer Völker¬
bund, sondern die Aufhebung der inner-
europäischen Zollgrenzen. Hierdurch entzieht
man zugleich dem Krieg seine biologischen
Gründe. C. vergleicht dann eingehend Europa
wirtschaftlich, politisch und sozial in seiner
jetzigen Gestaltung mit jenem Ideal des
geeinten Europas. Als Ergebnis des Ver»

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glcichs zwischen dem in seinen letzten Zuckungen
liegenden greisenhafter Europa der Gegen¬
wart wird als sieghafter Rivale das „kommende
Europa" aus der Taufe gehoben. Freilich
lebt es zunächst noch im schönen Reiche der
Gedanken und ist ein Sorgens- und Schmerzens¬
kind. Der Verfasser sieht klar die entsetzliche
Gefahr, das, „die Geißel des Hungers und
die Furie des Brudermordes" — wie er den
Bolschewismus anschaulich personifiziert —
das zarte Gebilde des neuen Europas mit
mordgeübter, sicherer Hand erdrosseln könnte.

Es ist ohne weiteres klar, daß die
Meinungen über die Rettung des jetzigen Eu¬
ropa auseinandergehen. Man denke nur an
das Kriegsprogramm der „Mittcleuropäcr"!
Daher ist es schwer, restlos alle Cleinowschen
Schlußforderungen zu unterschreiben. Dies
gilt u. a. von seiner These, daß sich in ab-
sehbarer Zeit das nationale Empfinden von
einem Kollektivgefühl zum Privatcrleben ent¬
wickeln würde. Wen jedoch echte Sehn¬
sucht nach Erlösung aus „dem großen Narren¬
haus Europa" treibt, der liest die geistreichen
Ausführungen mit atemloser Spannung.

Der Grundgedanke der Schrift: Der Wirt-

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[0120] Bücherschau nungsformen der Weltkrankheit herumdoktern, sondern ihre Ursachen wissenschaftlich er¬ forschen und sie praktisch zu heilen versuchen. Der Verfasser der vorliegenden Schrift versucht, das kranke, sterbende Europa nach der zweiten Methode zu retten. Als Aus¬ gangspunkt seiner Untersuchung nimmt Clcinow den Endgedanken seiner ersten Schrift („Rettet Europa!", siehe die „Grenzboten" Ur. 27). Seine Gedankengänge sind, in großen Linien wiedergegeben, folgende: Der Bolsche¬ wismus steht an Europas Grenzen. Europa, anstatt der roten Sturmflut gegenüber einen festen Damm aufzubauen, ist schutzlos, weil in sich zerfallen. Daher ist der Zusammen¬ schluß dieses Erdteils Gebot der Stunde. Dieser kann aber zunächst nur ein loser, wirtschaftlicher sein. Der erste Schritt hier¬ zu ist nicht etwa ein utopischer Völker¬ bund, sondern die Aufhebung der inner- europäischen Zollgrenzen. Hierdurch entzieht man zugleich dem Krieg seine biologischen Gründe. C. vergleicht dann eingehend Europa wirtschaftlich, politisch und sozial in seiner jetzigen Gestaltung mit jenem Ideal des geeinten Europas. Als Ergebnis des Ver» glcichs zwischen dem in seinen letzten Zuckungen liegenden greisenhafter Europa der Gegen¬ wart wird als sieghafter Rivale das „kommende Europa" aus der Taufe gehoben. Freilich lebt es zunächst noch im schönen Reiche der Gedanken und ist ein Sorgens- und Schmerzens¬ kind. Der Verfasser sieht klar die entsetzliche Gefahr, das, „die Geißel des Hungers und die Furie des Brudermordes" — wie er den Bolschewismus anschaulich personifiziert — das zarte Gebilde des neuen Europas mit mordgeübter, sicherer Hand erdrosseln könnte. Es ist ohne weiteres klar, daß die Meinungen über die Rettung des jetzigen Eu¬ ropa auseinandergehen. Man denke nur an das Kriegsprogramm der „Mittcleuropäcr"! Daher ist es schwer, restlos alle Cleinowschen Schlußforderungen zu unterschreiben. Dies gilt u. a. von seiner These, daß sich in ab- sehbarer Zeit das nationale Empfinden von einem Kollektivgefühl zum Privatcrleben ent¬ wickeln würde. Wen jedoch echte Sehn¬ sucht nach Erlösung aus „dem großen Narren¬ haus Europa" treibt, der liest die geistreichen Ausführungen mit atemloser Spannung. Der Grundgedanke der Schrift: Der Wirt-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/120>, abgerufen am 24.08.2024.