Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr.Das Berliner Bühnenelend blutige Kritiker, die das letzte bißchen künstlerische Anstandsgefühl über Bord Unermüdliche kritische Arbeit, an großen Blättern ausgeübt, und so klug aus¬ Aber alle diese Dichter und Schriftsteller, so heftig sie an den Zäunen des Sie darf wahrhaftig nicht aus den veränderten sozialen Bedingungen, der Das Berliner Bühnenelend blutige Kritiker, die das letzte bißchen künstlerische Anstandsgefühl über Bord Unermüdliche kritische Arbeit, an großen Blättern ausgeübt, und so klug aus¬ Aber alle diese Dichter und Schriftsteller, so heftig sie an den Zäunen des Sie darf wahrhaftig nicht aus den veränderten sozialen Bedingungen, der <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0112" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/337753"/> <fw type="header" place="top"> Das Berliner Bühnenelend</fw><lb/> <p xml:id="ID_388" prev="#ID_387"> blutige Kritiker, die das letzte bißchen künstlerische Anstandsgefühl über Bord<lb/> werfen, sobald der Dämon Zufall sie einmal zur Führung einer Bühne beruft.</p><lb/> <p xml:id="ID_389"> Unermüdliche kritische Arbeit, an großen Blättern ausgeübt, und so klug aus¬<lb/> geübt, daß sie der. billettbezahlenden Masse glatt eingeht, ist imstande, sogar für echte<lb/> Kunst Stimmung zu machen und die widerstrebenden Theatergänger vorübergehend<lb/> in ihren Bann zu zwingen, Wenn es Brahm gelang, Ibsen in Mode zu bringen,<lb/> so verdankt er und die deutsche Gemeinschaft dies hauptsächlich der unermüdlichen<lb/> Werbetätigkeit brahmbefreundeter Rezensenten, die jahrelang nicht locker ließen,<lb/> Herr und Frau Omnes sperrten sich zuerst verzweifelt gegen das bittere Futter, lasen<lb/> aber die geschickt an gar nicht vorhandene Ltteraturinstinkte appellierenden<lb/> Feuilletons so oft, daß sie schließlich ihrer Neugier folgten. Ibsen gehörte zur<lb/> Bildung, nachdem sein Name unterm Strich zehntausendmal genannt worden war.<lb/> Da in den meisten seiner Dramen genug vorgeht und die Sardoutechnik mit allerlei<lb/> verzwickten Fragestellungen, bitterbösen („unanständigen") Anklagereden versöhnte,<lb/> kam eigentliche Langeweile beim Parkettspießer nicht aus, Oder er wagte es doch<lb/> nicht, sie und damit sich zu verraten. Über Ibsen — ich spreche hier weniger<lb/> literaturgeschichtlich als kulturgeschichtlich — ist dann auch Hauptmann, Strindberg,<lb/> Wedekind der Weg zum früheren oder späteren Erfolg gebahnt worden. Ihre Ge¬<lb/> sellschafts- und Sittenkritik allein, diese just im „goldenen" Zeitalter<lb/> unbequeme Mahnerin, hätte ihnen nun und nimmer die Bühne erschlossen, keine<lb/> Hunderterserie ermöglicht. Auch sie siegten in der Hauptsache dank ihren kritischen<lb/> Pionieren, wurden mit Gewalt, gegen sehr zähen Widerstand, durchgesetzt, obgleich<lb/> zugegeben werden soll, daß die kulturelle Verfallsepoche von 1890 bis 191-1 oppositio¬<lb/> neller Standartenträger ihrer Art bedürfte und ihnen eine rasch wachsende Schar<lb/> von Anhängern schuf.</p><lb/> <p xml:id="ID_390"> Aber alle diese Dichter und Schriftsteller, so heftig sie an den Zäunen des<lb/> Herkömmlichen rüttelten und die urewtg scheinenden Theatergesetze erschüttern<lb/> wollten, gaben dem Reiche zwischen Pappendeckel und Leinewand doch zuguderletzt<lb/> stets, was sein war. Gerhardt Hauptmanns größter Publikumserfolg ist sein größter<lb/> Kitsch, die „Versunkene Glocke". Entfernte er sich zu weit von der nun einmal ab¬<lb/> gesteckten Straße, so verließen sie ihn; jedes Wagnis mußte er mit einem heulenden<lb/> Durchfall bezahlen. Das Rollen der Begebenheiten, in eindringlicher Steigerung<lb/> dargestellt, die üblichen Bühnenüberraschungen und Pointen trösteten dagegen das<lb/> Volk über den Naturalismus, Symbolismus usw. der Sprache. Es blieb dem<lb/> Theater treu, weil das Theater sich im Grunde, trotz aller Neuerungsvorstöße, selber<lb/> treu blieb. Erst der vollkommene Umsturz aller Tradition, rücksichtslose Ex¬<lb/> perimentierwut und damit verbundene Verachtung sämtlicher lieben Publikums-<lb/> gewohnheitm und -Neigungen führten die Berliner Bühnenkrise herauf.</p><lb/> <p xml:id="ID_391" next="#ID_392"> Sie darf wahrhaftig nicht aus den veränderten sozialen Bedingungen, der<lb/> Friedensmißstimmung, der Unbehaglichkeit und Unruhe unserer Zeit erklärt werden.<lb/> Gerade Revolutionen und schwere staatliche Erschütterungen überhaupt haben von<lb/> jeher die Theater gefüllt. Mit Vorliebe, fast mit fieberischer Gier sieht des Abends<lb/> ein festliches Haus voll geputzter, scheinbar müßiggehender, unbeschwertem Genuß<lb/> fröhnender Menschen, wer tagsüber niemandem trauen möchte, tagsüber von Stunde<lb/> zu Stunde den Zusammenbruch, die Panik erwartet. Daß alle Nachtlokale, Bars,<lb/> Kabarette überfüllt sind, ist ein sozusagen natürlicher Ausfluß dieses krankhaften</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0112]
Das Berliner Bühnenelend
blutige Kritiker, die das letzte bißchen künstlerische Anstandsgefühl über Bord
werfen, sobald der Dämon Zufall sie einmal zur Führung einer Bühne beruft.
Unermüdliche kritische Arbeit, an großen Blättern ausgeübt, und so klug aus¬
geübt, daß sie der. billettbezahlenden Masse glatt eingeht, ist imstande, sogar für echte
Kunst Stimmung zu machen und die widerstrebenden Theatergänger vorübergehend
in ihren Bann zu zwingen, Wenn es Brahm gelang, Ibsen in Mode zu bringen,
so verdankt er und die deutsche Gemeinschaft dies hauptsächlich der unermüdlichen
Werbetätigkeit brahmbefreundeter Rezensenten, die jahrelang nicht locker ließen,
Herr und Frau Omnes sperrten sich zuerst verzweifelt gegen das bittere Futter, lasen
aber die geschickt an gar nicht vorhandene Ltteraturinstinkte appellierenden
Feuilletons so oft, daß sie schließlich ihrer Neugier folgten. Ibsen gehörte zur
Bildung, nachdem sein Name unterm Strich zehntausendmal genannt worden war.
Da in den meisten seiner Dramen genug vorgeht und die Sardoutechnik mit allerlei
verzwickten Fragestellungen, bitterbösen („unanständigen") Anklagereden versöhnte,
kam eigentliche Langeweile beim Parkettspießer nicht aus, Oder er wagte es doch
nicht, sie und damit sich zu verraten. Über Ibsen — ich spreche hier weniger
literaturgeschichtlich als kulturgeschichtlich — ist dann auch Hauptmann, Strindberg,
Wedekind der Weg zum früheren oder späteren Erfolg gebahnt worden. Ihre Ge¬
sellschafts- und Sittenkritik allein, diese just im „goldenen" Zeitalter
unbequeme Mahnerin, hätte ihnen nun und nimmer die Bühne erschlossen, keine
Hunderterserie ermöglicht. Auch sie siegten in der Hauptsache dank ihren kritischen
Pionieren, wurden mit Gewalt, gegen sehr zähen Widerstand, durchgesetzt, obgleich
zugegeben werden soll, daß die kulturelle Verfallsepoche von 1890 bis 191-1 oppositio¬
neller Standartenträger ihrer Art bedürfte und ihnen eine rasch wachsende Schar
von Anhängern schuf.
Aber alle diese Dichter und Schriftsteller, so heftig sie an den Zäunen des
Herkömmlichen rüttelten und die urewtg scheinenden Theatergesetze erschüttern
wollten, gaben dem Reiche zwischen Pappendeckel und Leinewand doch zuguderletzt
stets, was sein war. Gerhardt Hauptmanns größter Publikumserfolg ist sein größter
Kitsch, die „Versunkene Glocke". Entfernte er sich zu weit von der nun einmal ab¬
gesteckten Straße, so verließen sie ihn; jedes Wagnis mußte er mit einem heulenden
Durchfall bezahlen. Das Rollen der Begebenheiten, in eindringlicher Steigerung
dargestellt, die üblichen Bühnenüberraschungen und Pointen trösteten dagegen das
Volk über den Naturalismus, Symbolismus usw. der Sprache. Es blieb dem
Theater treu, weil das Theater sich im Grunde, trotz aller Neuerungsvorstöße, selber
treu blieb. Erst der vollkommene Umsturz aller Tradition, rücksichtslose Ex¬
perimentierwut und damit verbundene Verachtung sämtlicher lieben Publikums-
gewohnheitm und -Neigungen führten die Berliner Bühnenkrise herauf.
Sie darf wahrhaftig nicht aus den veränderten sozialen Bedingungen, der
Friedensmißstimmung, der Unbehaglichkeit und Unruhe unserer Zeit erklärt werden.
Gerade Revolutionen und schwere staatliche Erschütterungen überhaupt haben von
jeher die Theater gefüllt. Mit Vorliebe, fast mit fieberischer Gier sieht des Abends
ein festliches Haus voll geputzter, scheinbar müßiggehender, unbeschwertem Genuß
fröhnender Menschen, wer tagsüber niemandem trauen möchte, tagsüber von Stunde
zu Stunde den Zusammenbruch, die Panik erwartet. Daß alle Nachtlokale, Bars,
Kabarette überfüllt sind, ist ein sozusagen natürlicher Ausfluß dieses krankhaften
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |