Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das asiatische Problem

So wird aus dem Russentum, das Europa und Asien verbindet, beiderseits
des Ural seinen starken Einfluß ausübt, ein neuer weltgeschichtlicher Gedanke
geboren. Der Krieg, der mit dem Frieden von Versailles und den zugehörenden
Friedensschlüssen seinen vorläufigen Abschluß fand, erscheint als ein Vorspiel
einer gewaltigen Menschheitsbewegung, in der, ähnlich wie in den Zeiten der
Völkerwanderung, neue Kräfte aus den weiten Landmassen Asiens hervor¬
brechen, die europäischen Mächte, insbesondere Englands asiatisches Imperium
schwer bedrohend. Asien bäumt sich auf gegen die Vorherrschaft seiner kleinen
Halbinsel Europa. Und das Wort vom Selbstbestimmungsrecht der Völker,
von den Siegern nur dort angewandt, wo es galt, politischen Einfluß zu er¬
werben und den Besiegten ohne Rücksicht auf historische und wirtschaftliche
Zusammenhänge zu verstümmeln oder zu vernichten, wurde nun zum einigenden
Programm, das die asiatischen Völker mehr und mehr unter sich und mit Moskau
verknüpfte.

So finden wir in der vom Bolschewismus verheißenen Erlösung der breiten
Massen von den Mühen ihres Daseins, in dem Kampf gegen die Vorherrschaft
europäischer Mächte über Asien und im Streben nach Selbstbestimmung der
Völker die Gedanken, mit denen die Unterschiede sich früher bekämpfender Na¬
tionalitäten und Religionen überwunden werden. Und die Politik der Sieger
im Weltkriege, vor allem Englands, tut das ihre, um diese Einheitlichkeit zu
fördern und die Kräfte in Asien, die sich früher die Wage hielten, zu einen.
Einst fürchteten die Türken den Russen, es bestand Feindschaft zwischen Türken
und Bulgaren, Türken und Arabern, Türken und Persern. Englands Herrschaft
in Indien fand ihre stärkste Stütze in der Uneinigkeit der indischen Völker. Früher
konnte britische Politik einen Staat gegen den anderen ausspielen. Jetzt sind
sie alle vereint, weil sie alle von der Politik der siegreichen Westmächte bedroht
sind.

Von den islamischen Völkern wird Englands Politik als treulos erkannt
und als schwerste Verletzung der heiligsten Gefühle der islamischen Welt
empfunden. Den indischen Mohammedanern wurde im Anfang des Krieges
durch Lord Hardinge, den damaligen Vizekönig, feierlich versichert, daß der
Krieg gegen die Türken nur das Ziel habe, die Stellung des türkischen Sultans
und sein erhabenes Amt als Kauf zu stützen und zu stärken, durch Befreiung
der Türken vom Joch der Jungtürken. Der Krieg richte sich auch nicht gegen
das türkische Volk und die heiligen Stätten des Islam. Noch aM S. Januar 1918
erklärte Lloyd George, daß England die Türkei nicht bekriege, um sie ihrer
Hauptstadt, Kleinasiens oder Thraziens zu berauben. So blieben die indischen
Mohammedaner England treu und leisteten ihm im Weltkriege die größten
Dienste. England aber arbeitete entgegen allen Versprechungen während des
Krieges an der inneren Zersetzung der Türkei, um dann, nachdem die Entscheidung
gefallen war, in dem am 11. Mai 1920 der türkischen Regierung übergebenen
Friedensverträge den alten türkischen Staat zu zerschlagen und einen nur dem
Namen nach selbständigen, in Wirklichkeit unter Vormundschaft stehenden
Torso bestehen zu lassen.

Starke Erregung durchzittert die islamische Welt. In Indien hat der
Wortbruch Englands heftige Erbitterung bei den mohammedanischen Indern


Das asiatische Problem

So wird aus dem Russentum, das Europa und Asien verbindet, beiderseits
des Ural seinen starken Einfluß ausübt, ein neuer weltgeschichtlicher Gedanke
geboren. Der Krieg, der mit dem Frieden von Versailles und den zugehörenden
Friedensschlüssen seinen vorläufigen Abschluß fand, erscheint als ein Vorspiel
einer gewaltigen Menschheitsbewegung, in der, ähnlich wie in den Zeiten der
Völkerwanderung, neue Kräfte aus den weiten Landmassen Asiens hervor¬
brechen, die europäischen Mächte, insbesondere Englands asiatisches Imperium
schwer bedrohend. Asien bäumt sich auf gegen die Vorherrschaft seiner kleinen
Halbinsel Europa. Und das Wort vom Selbstbestimmungsrecht der Völker,
von den Siegern nur dort angewandt, wo es galt, politischen Einfluß zu er¬
werben und den Besiegten ohne Rücksicht auf historische und wirtschaftliche
Zusammenhänge zu verstümmeln oder zu vernichten, wurde nun zum einigenden
Programm, das die asiatischen Völker mehr und mehr unter sich und mit Moskau
verknüpfte.

So finden wir in der vom Bolschewismus verheißenen Erlösung der breiten
Massen von den Mühen ihres Daseins, in dem Kampf gegen die Vorherrschaft
europäischer Mächte über Asien und im Streben nach Selbstbestimmung der
Völker die Gedanken, mit denen die Unterschiede sich früher bekämpfender Na¬
tionalitäten und Religionen überwunden werden. Und die Politik der Sieger
im Weltkriege, vor allem Englands, tut das ihre, um diese Einheitlichkeit zu
fördern und die Kräfte in Asien, die sich früher die Wage hielten, zu einen.
Einst fürchteten die Türken den Russen, es bestand Feindschaft zwischen Türken
und Bulgaren, Türken und Arabern, Türken und Persern. Englands Herrschaft
in Indien fand ihre stärkste Stütze in der Uneinigkeit der indischen Völker. Früher
konnte britische Politik einen Staat gegen den anderen ausspielen. Jetzt sind
sie alle vereint, weil sie alle von der Politik der siegreichen Westmächte bedroht
sind.

Von den islamischen Völkern wird Englands Politik als treulos erkannt
und als schwerste Verletzung der heiligsten Gefühle der islamischen Welt
empfunden. Den indischen Mohammedanern wurde im Anfang des Krieges
durch Lord Hardinge, den damaligen Vizekönig, feierlich versichert, daß der
Krieg gegen die Türken nur das Ziel habe, die Stellung des türkischen Sultans
und sein erhabenes Amt als Kauf zu stützen und zu stärken, durch Befreiung
der Türken vom Joch der Jungtürken. Der Krieg richte sich auch nicht gegen
das türkische Volk und die heiligen Stätten des Islam. Noch aM S. Januar 1918
erklärte Lloyd George, daß England die Türkei nicht bekriege, um sie ihrer
Hauptstadt, Kleinasiens oder Thraziens zu berauben. So blieben die indischen
Mohammedaner England treu und leisteten ihm im Weltkriege die größten
Dienste. England aber arbeitete entgegen allen Versprechungen während des
Krieges an der inneren Zersetzung der Türkei, um dann, nachdem die Entscheidung
gefallen war, in dem am 11. Mai 1920 der türkischen Regierung übergebenen
Friedensverträge den alten türkischen Staat zu zerschlagen und einen nur dem
Namen nach selbständigen, in Wirklichkeit unter Vormundschaft stehenden
Torso bestehen zu lassen.

Starke Erregung durchzittert die islamische Welt. In Indien hat der
Wortbruch Englands heftige Erbitterung bei den mohammedanischen Indern


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0104" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/337745"/>
          <fw type="header" place="top"> Das asiatische Problem</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_353"> So wird aus dem Russentum, das Europa und Asien verbindet, beiderseits<lb/>
des Ural seinen starken Einfluß ausübt, ein neuer weltgeschichtlicher Gedanke<lb/>
geboren. Der Krieg, der mit dem Frieden von Versailles und den zugehörenden<lb/>
Friedensschlüssen seinen vorläufigen Abschluß fand, erscheint als ein Vorspiel<lb/>
einer gewaltigen Menschheitsbewegung, in der, ähnlich wie in den Zeiten der<lb/>
Völkerwanderung, neue Kräfte aus den weiten Landmassen Asiens hervor¬<lb/>
brechen, die europäischen Mächte, insbesondere Englands asiatisches Imperium<lb/>
schwer bedrohend. Asien bäumt sich auf gegen die Vorherrschaft seiner kleinen<lb/>
Halbinsel Europa. Und das Wort vom Selbstbestimmungsrecht der Völker,<lb/>
von den Siegern nur dort angewandt, wo es galt, politischen Einfluß zu er¬<lb/>
werben und den Besiegten ohne Rücksicht auf historische und wirtschaftliche<lb/>
Zusammenhänge zu verstümmeln oder zu vernichten, wurde nun zum einigenden<lb/>
Programm, das die asiatischen Völker mehr und mehr unter sich und mit Moskau<lb/>
verknüpfte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_354"> So finden wir in der vom Bolschewismus verheißenen Erlösung der breiten<lb/>
Massen von den Mühen ihres Daseins, in dem Kampf gegen die Vorherrschaft<lb/>
europäischer Mächte über Asien und im Streben nach Selbstbestimmung der<lb/>
Völker die Gedanken, mit denen die Unterschiede sich früher bekämpfender Na¬<lb/>
tionalitäten und Religionen überwunden werden. Und die Politik der Sieger<lb/>
im Weltkriege, vor allem Englands, tut das ihre, um diese Einheitlichkeit zu<lb/>
fördern und die Kräfte in Asien, die sich früher die Wage hielten, zu einen.<lb/>
Einst fürchteten die Türken den Russen, es bestand Feindschaft zwischen Türken<lb/>
und Bulgaren, Türken und Arabern, Türken und Persern. Englands Herrschaft<lb/>
in Indien fand ihre stärkste Stütze in der Uneinigkeit der indischen Völker. Früher<lb/>
konnte britische Politik einen Staat gegen den anderen ausspielen. Jetzt sind<lb/>
sie alle vereint, weil sie alle von der Politik der siegreichen Westmächte bedroht<lb/>
sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_355"> Von den islamischen Völkern wird Englands Politik als treulos erkannt<lb/>
und als schwerste Verletzung der heiligsten Gefühle der islamischen Welt<lb/>
empfunden. Den indischen Mohammedanern wurde im Anfang des Krieges<lb/>
durch Lord Hardinge, den damaligen Vizekönig, feierlich versichert, daß der<lb/>
Krieg gegen die Türken nur das Ziel habe, die Stellung des türkischen Sultans<lb/>
und sein erhabenes Amt als Kauf zu stützen und zu stärken, durch Befreiung<lb/>
der Türken vom Joch der Jungtürken. Der Krieg richte sich auch nicht gegen<lb/>
das türkische Volk und die heiligen Stätten des Islam. Noch aM S. Januar 1918<lb/>
erklärte Lloyd George, daß England die Türkei nicht bekriege, um sie ihrer<lb/>
Hauptstadt, Kleinasiens oder Thraziens zu berauben. So blieben die indischen<lb/>
Mohammedaner England treu und leisteten ihm im Weltkriege die größten<lb/>
Dienste. England aber arbeitete entgegen allen Versprechungen während des<lb/>
Krieges an der inneren Zersetzung der Türkei, um dann, nachdem die Entscheidung<lb/>
gefallen war, in dem am 11. Mai 1920 der türkischen Regierung übergebenen<lb/>
Friedensverträge den alten türkischen Staat zu zerschlagen und einen nur dem<lb/>
Namen nach selbständigen, in Wirklichkeit unter Vormundschaft stehenden<lb/>
Torso bestehen zu lassen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_356" next="#ID_357"> Starke Erregung durchzittert die islamische Welt. In Indien hat der<lb/>
Wortbruch Englands heftige Erbitterung bei den mohammedanischen Indern</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0104] Das asiatische Problem So wird aus dem Russentum, das Europa und Asien verbindet, beiderseits des Ural seinen starken Einfluß ausübt, ein neuer weltgeschichtlicher Gedanke geboren. Der Krieg, der mit dem Frieden von Versailles und den zugehörenden Friedensschlüssen seinen vorläufigen Abschluß fand, erscheint als ein Vorspiel einer gewaltigen Menschheitsbewegung, in der, ähnlich wie in den Zeiten der Völkerwanderung, neue Kräfte aus den weiten Landmassen Asiens hervor¬ brechen, die europäischen Mächte, insbesondere Englands asiatisches Imperium schwer bedrohend. Asien bäumt sich auf gegen die Vorherrschaft seiner kleinen Halbinsel Europa. Und das Wort vom Selbstbestimmungsrecht der Völker, von den Siegern nur dort angewandt, wo es galt, politischen Einfluß zu er¬ werben und den Besiegten ohne Rücksicht auf historische und wirtschaftliche Zusammenhänge zu verstümmeln oder zu vernichten, wurde nun zum einigenden Programm, das die asiatischen Völker mehr und mehr unter sich und mit Moskau verknüpfte. So finden wir in der vom Bolschewismus verheißenen Erlösung der breiten Massen von den Mühen ihres Daseins, in dem Kampf gegen die Vorherrschaft europäischer Mächte über Asien und im Streben nach Selbstbestimmung der Völker die Gedanken, mit denen die Unterschiede sich früher bekämpfender Na¬ tionalitäten und Religionen überwunden werden. Und die Politik der Sieger im Weltkriege, vor allem Englands, tut das ihre, um diese Einheitlichkeit zu fördern und die Kräfte in Asien, die sich früher die Wage hielten, zu einen. Einst fürchteten die Türken den Russen, es bestand Feindschaft zwischen Türken und Bulgaren, Türken und Arabern, Türken und Persern. Englands Herrschaft in Indien fand ihre stärkste Stütze in der Uneinigkeit der indischen Völker. Früher konnte britische Politik einen Staat gegen den anderen ausspielen. Jetzt sind sie alle vereint, weil sie alle von der Politik der siegreichen Westmächte bedroht sind. Von den islamischen Völkern wird Englands Politik als treulos erkannt und als schwerste Verletzung der heiligsten Gefühle der islamischen Welt empfunden. Den indischen Mohammedanern wurde im Anfang des Krieges durch Lord Hardinge, den damaligen Vizekönig, feierlich versichert, daß der Krieg gegen die Türken nur das Ziel habe, die Stellung des türkischen Sultans und sein erhabenes Amt als Kauf zu stützen und zu stärken, durch Befreiung der Türken vom Joch der Jungtürken. Der Krieg richte sich auch nicht gegen das türkische Volk und die heiligen Stätten des Islam. Noch aM S. Januar 1918 erklärte Lloyd George, daß England die Türkei nicht bekriege, um sie ihrer Hauptstadt, Kleinasiens oder Thraziens zu berauben. So blieben die indischen Mohammedaner England treu und leisteten ihm im Weltkriege die größten Dienste. England aber arbeitete entgegen allen Versprechungen während des Krieges an der inneren Zersetzung der Türkei, um dann, nachdem die Entscheidung gefallen war, in dem am 11. Mai 1920 der türkischen Regierung übergebenen Friedensverträge den alten türkischen Staat zu zerschlagen und einen nur dem Namen nach selbständigen, in Wirklichkeit unter Vormundschaft stehenden Torso bestehen zu lassen. Starke Erregung durchzittert die islamische Welt. In Indien hat der Wortbruch Englands heftige Erbitterung bei den mohammedanischen Indern

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/104
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/104>, abgerufen am 03.07.2024.