Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Zweites Vierteljahr.Die Proletarisierung der geistigen Arbeit Arbeit schwanken je nach dem Individuum, dessen Herkunft und Bedürfnissen, Dennoch wird der Satz, daß die Werthöhen der geistigen Leistung sich pro¬ Die Verteilung der Nahrungsmittel nach dem Maße des Muskelverbrauchs Wichtiger und grundsätzlicher in der Erörterung der Produktionskosten der Die Proletarisierung der geistigen Arbeit Arbeit schwanken je nach dem Individuum, dessen Herkunft und Bedürfnissen, Dennoch wird der Satz, daß die Werthöhen der geistigen Leistung sich pro¬ Die Verteilung der Nahrungsmittel nach dem Maße des Muskelverbrauchs Wichtiger und grundsätzlicher in der Erörterung der Produktionskosten der <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0053" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/337290"/> <fw type="header" place="top"> Die Proletarisierung der geistigen Arbeit</fw><lb/> <p xml:id="ID_191" prev="#ID_190"> Arbeit schwanken je nach dem Individuum, dessen Herkunft und Bedürfnissen,<lb/> nach der Kraft und Fülle seiner sittlichen Einstellung zur Umwelt, nach dem<lb/> Maße und dem Vorhandensein seiner egoistischen oder altruistischen Potenzen.<lb/> Wilhelm Osimald erwähnt einmal an einer Stelle seines Buches „Große Männer",<lb/> daß jede wichtige Entdeckung mit einem Menschenleben bezahlt werde. Wollte<lb/> man diese zweifellose Tatsache auf die Produktionskostenberechnung geistiger<lb/> Arbeit beziehen, '.so ergäbe sie die volle Lächerlichkeit solchen Gebarens. Die<lb/> unmeßbare Größe des Geistes, seines Werdens und Wirkens ist aus materiellen<lb/> Berechnungen niemals abzuleiten.</p><lb/> <p xml:id="ID_192"> Dennoch wird der Satz, daß die Werthöhen der geistigen Leistung sich pro¬<lb/> portional verhalten zu den Werten der Unterhaltsmittel, daß also die Produktions¬<lb/> faktoren der geistigen Arbeit in ihrer zahlenmüßigen Größe irgendwie zu<lb/> fassen sind, nicht völlig zu bestreiten sein. Es ist zweifellos, daß die psychische<lb/> Tätigkeit, von der Seile ihres physischen Korrelats her gesehen, sehr viel organische.<lb/> Kraft verbraucht. Die Wiederersetzung dieser Kraft geht nun beim Geistesarbeiter<lb/> nicht in der gleichen Weise vor sich wie beim Muskelarbeiter: dnrch Aufnahme<lb/> von Ernährungskalorien in einer bestimmten Menge. Einmal deshalb, weil die<lb/> Aufnahmefähigkeit des Körpers bei überwiegend geistiger Arbeit im Verhältnis zu<lb/> jener der körperlichen Arbeit herabgesetzt und ziemlich eng begrenzt ist. Sodann,<lb/> weil der Kraftersatz bei geistiger Arbeit in der Regel nur durch die besondere<lb/> Angepaßtheit des Lebensunterhaltes um die Bedürfnisse, durch Individualisierung<lb/> des Konsums, durch eine überdurchschnittliche Verfeinerung der Darbietung, durch<lb/> ^onzsntrierung der benötigten Mengen des Konsums vor sich geht. Hieraus er¬<lb/> hellt und folgt zweierlei: Erstens, daß es ein Widersinn in sich selber war<lb/> und ist, die Nahrungsvcrteilung nach dem Verbrauch der Muskel¬<lb/> kräfte zu klassifizieren und vorzunehmen; zweitens, daß der Arbeiter der<lb/> geistigen, also der differenzierten Berufe mit vollem Rechte für sich differenzierte<lb/> Ernährung fordern kann.</p><lb/> <p xml:id="ID_193"> Die Verteilung der Nahrungsmittel nach dem Maße des Muskelverbrauchs<lb/> ^schätz und geschieht heute noch zu Unrecht. Sie beleuchtet grell die Stellung<lb/> und Wertschätzung, die die Allgemeinheit des Volkes der geistigen Arbeit nn-<lb/> gedeihm läßt. Die Rationierung der Lebensmittel, gemessen an der Skala der<lb/> Reicht-, Schwer- und Schwerstarbeiter wird stets kennzeichnend bleiben für den<lb/> „Geist", in dein die Heimatsfront die Kriegsnotwendigkeiten angesehen hat.</p><lb/> <p xml:id="ID_194"> Wichtiger und grundsätzlicher in der Erörterung der Produktionskosten der<lb/> saftigen Arbeit erscheint die zweite Folgerung: Es muß der Öffentlichkeit mit<lb/> allem Nachdruck stets wieder von neuem gesagt werden, daß die höhere Entlohnung<lb/> ^ geistigen Arbeiters allein schon durch die physiologischen Bedingungen<lb/> seiner Tätigkeit gerechtfertigt erscheint. Es ist nötig, den Handarbeitenden darauf<lb/> ^ verweisen, daß das ganze komplizierte System der körperlich-geistigen Stimmungen,<lb/> Andrücke, Anregungen, dessen der geistige Arbeiter als einer notwendigen Voraus¬<lb/> ging seiner Leistungen bedarf, eine untrennbare Einheit ist, und daß der geistige<lb/> Arbeiter nach dieser Einheit seine „Lohnansprüche" orientieren muß. Es sollte<lb/> Alast mehr unterlaufen können, daß der körperlich Arbeitende den Kopfarbeiter<lb/> nur deshalb zum Faulenzer stempelt, weil dieser sein Schaffen nicht quantitativ,<lb/> wildem qualitativ bemißt.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0053]
Die Proletarisierung der geistigen Arbeit
Arbeit schwanken je nach dem Individuum, dessen Herkunft und Bedürfnissen,
nach der Kraft und Fülle seiner sittlichen Einstellung zur Umwelt, nach dem
Maße und dem Vorhandensein seiner egoistischen oder altruistischen Potenzen.
Wilhelm Osimald erwähnt einmal an einer Stelle seines Buches „Große Männer",
daß jede wichtige Entdeckung mit einem Menschenleben bezahlt werde. Wollte
man diese zweifellose Tatsache auf die Produktionskostenberechnung geistiger
Arbeit beziehen, '.so ergäbe sie die volle Lächerlichkeit solchen Gebarens. Die
unmeßbare Größe des Geistes, seines Werdens und Wirkens ist aus materiellen
Berechnungen niemals abzuleiten.
Dennoch wird der Satz, daß die Werthöhen der geistigen Leistung sich pro¬
portional verhalten zu den Werten der Unterhaltsmittel, daß also die Produktions¬
faktoren der geistigen Arbeit in ihrer zahlenmüßigen Größe irgendwie zu
fassen sind, nicht völlig zu bestreiten sein. Es ist zweifellos, daß die psychische
Tätigkeit, von der Seile ihres physischen Korrelats her gesehen, sehr viel organische.
Kraft verbraucht. Die Wiederersetzung dieser Kraft geht nun beim Geistesarbeiter
nicht in der gleichen Weise vor sich wie beim Muskelarbeiter: dnrch Aufnahme
von Ernährungskalorien in einer bestimmten Menge. Einmal deshalb, weil die
Aufnahmefähigkeit des Körpers bei überwiegend geistiger Arbeit im Verhältnis zu
jener der körperlichen Arbeit herabgesetzt und ziemlich eng begrenzt ist. Sodann,
weil der Kraftersatz bei geistiger Arbeit in der Regel nur durch die besondere
Angepaßtheit des Lebensunterhaltes um die Bedürfnisse, durch Individualisierung
des Konsums, durch eine überdurchschnittliche Verfeinerung der Darbietung, durch
^onzsntrierung der benötigten Mengen des Konsums vor sich geht. Hieraus er¬
hellt und folgt zweierlei: Erstens, daß es ein Widersinn in sich selber war
und ist, die Nahrungsvcrteilung nach dem Verbrauch der Muskel¬
kräfte zu klassifizieren und vorzunehmen; zweitens, daß der Arbeiter der
geistigen, also der differenzierten Berufe mit vollem Rechte für sich differenzierte
Ernährung fordern kann.
Die Verteilung der Nahrungsmittel nach dem Maße des Muskelverbrauchs
^schätz und geschieht heute noch zu Unrecht. Sie beleuchtet grell die Stellung
und Wertschätzung, die die Allgemeinheit des Volkes der geistigen Arbeit nn-
gedeihm läßt. Die Rationierung der Lebensmittel, gemessen an der Skala der
Reicht-, Schwer- und Schwerstarbeiter wird stets kennzeichnend bleiben für den
„Geist", in dein die Heimatsfront die Kriegsnotwendigkeiten angesehen hat.
Wichtiger und grundsätzlicher in der Erörterung der Produktionskosten der
saftigen Arbeit erscheint die zweite Folgerung: Es muß der Öffentlichkeit mit
allem Nachdruck stets wieder von neuem gesagt werden, daß die höhere Entlohnung
^ geistigen Arbeiters allein schon durch die physiologischen Bedingungen
seiner Tätigkeit gerechtfertigt erscheint. Es ist nötig, den Handarbeitenden darauf
^ verweisen, daß das ganze komplizierte System der körperlich-geistigen Stimmungen,
Andrücke, Anregungen, dessen der geistige Arbeiter als einer notwendigen Voraus¬
ging seiner Leistungen bedarf, eine untrennbare Einheit ist, und daß der geistige
Arbeiter nach dieser Einheit seine „Lohnansprüche" orientieren muß. Es sollte
Alast mehr unterlaufen können, daß der körperlich Arbeitende den Kopfarbeiter
nur deshalb zum Faulenzer stempelt, weil dieser sein Schaffen nicht quantitativ,
wildem qualitativ bemißt.
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