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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Zweites Vierteljahr.

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[Beginn Spaltensatz]

zeigt der Verfasser, daß er dieses Tatsachen¬
material beherrscht; freilich flössen für das
Jahr 1917 die Quellen hierüber nach weit
reichlicher als später. Gut herausgearbeitet
ist aus der Fülle der Details bei Freytagh-
Loringhoven der Gegensatz zwischen
Negierung und Sowjets, der in seinem
unheilvollen Dualismus die Revolution von
ihrem Beginn an begleitete und dessen Un¬
überbrückbarkeit dem Emporkommen des
Bolschewismus den Boden chüele.

An der rein sachlichen Darstellung des
Verfassers, der Stoffgliederung und Dis¬
position ist Kritik kaum zu üben; ernsthafien
Widerspruch fordert hier eigentlich nur die
kurz skizzierte Entwicklung der politischen
Stimmung der Polen heraus, in der -- um
nur einige Namen zu nennen -- neben dem
erst nach der Revolution zu Polnischer Be¬
deutung gelangten Lcdwicki Leute wie
Dmowski, Harusewicz, Szebeko, Pilsudski
und die von ihnen vertretenen Richtungen
nicht fehlen durften. Doch ist dies für das
Werk als Ganzes nicht wesentlich. Wohl
aber scheint mir eine Lücke in der Dar¬
stellung von Freytags-Loringhoven in seiner
Vernachlässigung der Einwirkungen der
äußeren Politik zu liegen. Der Verfasser
schildert überwiegend die Entwicklung im
Innern, seinem politischen Standpunkt ent¬
sprechend, durchweg in der Auffassung, daß
ein starker Einzelwille fehlte, der den
elementaren Zersetzungsprozeß in Rußland
Hütte aushalten tonnen. Bedenkt man, daß
dieser Prozeß eine dreijährige Entwicklungs¬
geschichte hatte, so erscheint es zweifelhaft,
ob ein Einzelner hier mit eiserner Hand
hätte Einhalt tun können. Vor allem aber
wirkte ja die Hauptursache dieses Zersetzungs-
prozesses noch: der Krieg. Daß vie Nsvo-
lulionsregierung dem Lande nicht den Frieden
brachte, war für sie mindestens in gleichem
Maße verhängnisvoll wie die Nebenregierung
der Sowjets. Die Enttäuschung über das
Ausbleiben des Friedensschlusses trieb die
Massen dem Bolschewismus mit seiner Losung
des Friedens um jeden Preis in die Arme.
Schon dieser unmittelbare Zusammenhang der
FnedenSfrage mit der Entwicklung der Revo¬
lution hätte ein Eingehen auf die außerpoliti-
Ichen Beziehungen nötig gemacht. Hierbei

[Spaltenumbruch]

kommt nicht nur das Bestreben der Entente
in Frage, mit Hilfe ihrer getreuen Trabanten,
der Kadetten, Rußland als Bundesgenossen
zu erhalten -- ein Bestreben, das eine Be¬
teiligung des englischen Botschafters Bucha-
nan am Ausbruch der Revolution selbst
wahrscheinlich macht --, sondern auch der
verzweifelte Versuch wirklich demokratischer
Kreise in Nußland, vor allem des Wohl zu
hart kritisierten Kerenski, dem Schlngwort
"Friede ohne Annexionenund Kontributionen"
zur Durchsetzung zu verhelfen. Daß die
hierin liegende Möglichkeit eines allge¬
meinen Friedens verpaßt wurde, liegtauch
mit an der Haltung Deutschlands. Denn
wenn auch von Berlin aus offizielle Worte
über eine Friedensbereitschaft nach Peters¬
burg gerichtet wurden, bestand die praktische
Dokumentierung dieser Friedensbereitschaft in
Sonderfriedensangeboten, die vor vilen
von TruPPensuhrern der Ostfront ausgingen.
Wer aber nur ein wenig über die damalige
Lage in Nußland orientiert war, mußte wissen,
daß solche Sonderfriedensangebote, die die
ehrliche Demokratie in Rußland als Verrat
ihrer eigenen Sache zurückwies, unmittelbar
die kadettische Kriegspartei, mittelbar die
Bolschewisten stärken würde.

Der Wertmaßstav, den von Freytagh-
Loringhoven in seiner historischen Kritik an
Dinge und Menschen anlegt, erhellt unter
anderen aus der Bemerkung, daß Nikolaus I-
und Alexander III. "einheitliche, in sich ge¬
schlossene Naturen", "ganze Männer" waren,
die das Regiment in Nußland führten, dessen
es bedürfte; eine Auffassung freilich, mit der
sich jede zielbewußte Diktatur, letzten Endes
auch die eines Lenin, rechtfertigen läßt.

Grcicchns
Die Neste der russische" Volkswirtschaft-

Unter diesem Titel hat der ausgezeichnete
Rußlaudkenner Dr. Bernhard Treuenfels
vor kurzem eine Schrift^) erscheinen lassen,
deren Wert nicht nur in dem zusammen¬
hängenden Überblick liegt, den sie auf
Grund authentischen Materials über die

[Ende Spaltensatz]
') In der Sammlung "Finanz- mio
volkswirtschaftliche Zeitfragen", 6t. Heft,
Verlag von Ferdinand Ente, Stuttgart, 1S20.
Bücherschau

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zeigt der Verfasser, daß er dieses Tatsachen¬
material beherrscht; freilich flössen für das
Jahr 1917 die Quellen hierüber nach weit
reichlicher als später. Gut herausgearbeitet
ist aus der Fülle der Details bei Freytagh-
Loringhoven der Gegensatz zwischen
Negierung und Sowjets, der in seinem
unheilvollen Dualismus die Revolution von
ihrem Beginn an begleitete und dessen Un¬
überbrückbarkeit dem Emporkommen des
Bolschewismus den Boden chüele.

An der rein sachlichen Darstellung des
Verfassers, der Stoffgliederung und Dis¬
position ist Kritik kaum zu üben; ernsthafien
Widerspruch fordert hier eigentlich nur die
kurz skizzierte Entwicklung der politischen
Stimmung der Polen heraus, in der — um
nur einige Namen zu nennen — neben dem
erst nach der Revolution zu Polnischer Be¬
deutung gelangten Lcdwicki Leute wie
Dmowski, Harusewicz, Szebeko, Pilsudski
und die von ihnen vertretenen Richtungen
nicht fehlen durften. Doch ist dies für das
Werk als Ganzes nicht wesentlich. Wohl
aber scheint mir eine Lücke in der Dar¬
stellung von Freytags-Loringhoven in seiner
Vernachlässigung der Einwirkungen der
äußeren Politik zu liegen. Der Verfasser
schildert überwiegend die Entwicklung im
Innern, seinem politischen Standpunkt ent¬
sprechend, durchweg in der Auffassung, daß
ein starker Einzelwille fehlte, der den
elementaren Zersetzungsprozeß in Rußland
Hütte aushalten tonnen. Bedenkt man, daß
dieser Prozeß eine dreijährige Entwicklungs¬
geschichte hatte, so erscheint es zweifelhaft,
ob ein Einzelner hier mit eiserner Hand
hätte Einhalt tun können. Vor allem aber
wirkte ja die Hauptursache dieses Zersetzungs-
prozesses noch: der Krieg. Daß vie Nsvo-
lulionsregierung dem Lande nicht den Frieden
brachte, war für sie mindestens in gleichem
Maße verhängnisvoll wie die Nebenregierung
der Sowjets. Die Enttäuschung über das
Ausbleiben des Friedensschlusses trieb die
Massen dem Bolschewismus mit seiner Losung
des Friedens um jeden Preis in die Arme.
Schon dieser unmittelbare Zusammenhang der
FnedenSfrage mit der Entwicklung der Revo¬
lution hätte ein Eingehen auf die außerpoliti-
Ichen Beziehungen nötig gemacht. Hierbei

[Spaltenumbruch]

kommt nicht nur das Bestreben der Entente
in Frage, mit Hilfe ihrer getreuen Trabanten,
der Kadetten, Rußland als Bundesgenossen
zu erhalten — ein Bestreben, das eine Be¬
teiligung des englischen Botschafters Bucha-
nan am Ausbruch der Revolution selbst
wahrscheinlich macht —, sondern auch der
verzweifelte Versuch wirklich demokratischer
Kreise in Nußland, vor allem des Wohl zu
hart kritisierten Kerenski, dem Schlngwort
„Friede ohne Annexionenund Kontributionen"
zur Durchsetzung zu verhelfen. Daß die
hierin liegende Möglichkeit eines allge¬
meinen Friedens verpaßt wurde, liegtauch
mit an der Haltung Deutschlands. Denn
wenn auch von Berlin aus offizielle Worte
über eine Friedensbereitschaft nach Peters¬
burg gerichtet wurden, bestand die praktische
Dokumentierung dieser Friedensbereitschaft in
Sonderfriedensangeboten, die vor vilen
von TruPPensuhrern der Ostfront ausgingen.
Wer aber nur ein wenig über die damalige
Lage in Nußland orientiert war, mußte wissen,
daß solche Sonderfriedensangebote, die die
ehrliche Demokratie in Rußland als Verrat
ihrer eigenen Sache zurückwies, unmittelbar
die kadettische Kriegspartei, mittelbar die
Bolschewisten stärken würde.

Der Wertmaßstav, den von Freytagh-
Loringhoven in seiner historischen Kritik an
Dinge und Menschen anlegt, erhellt unter
anderen aus der Bemerkung, daß Nikolaus I-
und Alexander III. „einheitliche, in sich ge¬
schlossene Naturen", „ganze Männer" waren,
die das Regiment in Nußland führten, dessen
es bedürfte; eine Auffassung freilich, mit der
sich jede zielbewußte Diktatur, letzten Endes
auch die eines Lenin, rechtfertigen läßt.

Grcicchns
Die Neste der russische» Volkswirtschaft-

Unter diesem Titel hat der ausgezeichnete
Rußlaudkenner Dr. Bernhard Treuenfels
vor kurzem eine Schrift^) erscheinen lassen,
deren Wert nicht nur in dem zusammen¬
hängenden Überblick liegt, den sie auf
Grund authentischen Materials über die

[Ende Spaltensatz]
') In der Sammlung „Finanz- mio
volkswirtschaftliche Zeitfragen", 6t. Heft,
Verlag von Ferdinand Ente, Stuttgart, 1S20.
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[0240] Bücherschau 234 zeigt der Verfasser, daß er dieses Tatsachen¬ material beherrscht; freilich flössen für das Jahr 1917 die Quellen hierüber nach weit reichlicher als später. Gut herausgearbeitet ist aus der Fülle der Details bei Freytagh- Loringhoven der Gegensatz zwischen Negierung und Sowjets, der in seinem unheilvollen Dualismus die Revolution von ihrem Beginn an begleitete und dessen Un¬ überbrückbarkeit dem Emporkommen des Bolschewismus den Boden chüele. An der rein sachlichen Darstellung des Verfassers, der Stoffgliederung und Dis¬ position ist Kritik kaum zu üben; ernsthafien Widerspruch fordert hier eigentlich nur die kurz skizzierte Entwicklung der politischen Stimmung der Polen heraus, in der — um nur einige Namen zu nennen — neben dem erst nach der Revolution zu Polnischer Be¬ deutung gelangten Lcdwicki Leute wie Dmowski, Harusewicz, Szebeko, Pilsudski und die von ihnen vertretenen Richtungen nicht fehlen durften. Doch ist dies für das Werk als Ganzes nicht wesentlich. Wohl aber scheint mir eine Lücke in der Dar¬ stellung von Freytags-Loringhoven in seiner Vernachlässigung der Einwirkungen der äußeren Politik zu liegen. Der Verfasser schildert überwiegend die Entwicklung im Innern, seinem politischen Standpunkt ent¬ sprechend, durchweg in der Auffassung, daß ein starker Einzelwille fehlte, der den elementaren Zersetzungsprozeß in Rußland Hütte aushalten tonnen. Bedenkt man, daß dieser Prozeß eine dreijährige Entwicklungs¬ geschichte hatte, so erscheint es zweifelhaft, ob ein Einzelner hier mit eiserner Hand hätte Einhalt tun können. Vor allem aber wirkte ja die Hauptursache dieses Zersetzungs- prozesses noch: der Krieg. Daß vie Nsvo- lulionsregierung dem Lande nicht den Frieden brachte, war für sie mindestens in gleichem Maße verhängnisvoll wie die Nebenregierung der Sowjets. Die Enttäuschung über das Ausbleiben des Friedensschlusses trieb die Massen dem Bolschewismus mit seiner Losung des Friedens um jeden Preis in die Arme. Schon dieser unmittelbare Zusammenhang der FnedenSfrage mit der Entwicklung der Revo¬ lution hätte ein Eingehen auf die außerpoliti- Ichen Beziehungen nötig gemacht. Hierbei kommt nicht nur das Bestreben der Entente in Frage, mit Hilfe ihrer getreuen Trabanten, der Kadetten, Rußland als Bundesgenossen zu erhalten — ein Bestreben, das eine Be¬ teiligung des englischen Botschafters Bucha- nan am Ausbruch der Revolution selbst wahrscheinlich macht —, sondern auch der verzweifelte Versuch wirklich demokratischer Kreise in Nußland, vor allem des Wohl zu hart kritisierten Kerenski, dem Schlngwort „Friede ohne Annexionenund Kontributionen" zur Durchsetzung zu verhelfen. Daß die hierin liegende Möglichkeit eines allge¬ meinen Friedens verpaßt wurde, liegtauch mit an der Haltung Deutschlands. Denn wenn auch von Berlin aus offizielle Worte über eine Friedensbereitschaft nach Peters¬ burg gerichtet wurden, bestand die praktische Dokumentierung dieser Friedensbereitschaft in Sonderfriedensangeboten, die vor vilen von TruPPensuhrern der Ostfront ausgingen. Wer aber nur ein wenig über die damalige Lage in Nußland orientiert war, mußte wissen, daß solche Sonderfriedensangebote, die die ehrliche Demokratie in Rußland als Verrat ihrer eigenen Sache zurückwies, unmittelbar die kadettische Kriegspartei, mittelbar die Bolschewisten stärken würde. Der Wertmaßstav, den von Freytagh- Loringhoven in seiner historischen Kritik an Dinge und Menschen anlegt, erhellt unter anderen aus der Bemerkung, daß Nikolaus I- und Alexander III. „einheitliche, in sich ge¬ schlossene Naturen", „ganze Männer" waren, die das Regiment in Nußland führten, dessen es bedürfte; eine Auffassung freilich, mit der sich jede zielbewußte Diktatur, letzten Endes auch die eines Lenin, rechtfertigen läßt. Grcicchns Die Neste der russische» Volkswirtschaft- Unter diesem Titel hat der ausgezeichnete Rußlaudkenner Dr. Bernhard Treuenfels vor kurzem eine Schrift^) erscheinen lassen, deren Wert nicht nur in dem zusammen¬ hängenden Überblick liegt, den sie auf Grund authentischen Materials über die ') In der Sammlung „Finanz- mio volkswirtschaftliche Zeitfragen", 6t. Heft, Verlag von Ferdinand Ente, Stuttgart, 1S20.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337236/240>, abgerufen am 22.07.2024.