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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Zweites Vierteljahr.

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Der elsaß-lothringische und der französische Regionalismus

zum Opfer brachten, bitier empfunden, weil der übertriebene Zentralismus mit
seiner Perfektenwirtschaft eine vernünftige Selbstverwaltung unmöglich macht. Die
Vertreter des Regionalismus in Jnnerfrankreich wollen dem Geist der provinziellen
Selbstverwaltung -- von dem sie hoffen, daß er trotz der zentralistischen Knebe¬
lung von vier Menschenaltern noch unter der Asche glimme -- durch eine ent¬
sprechende Gesetzgebung wieder zum Leben verhelfen. Es ist für Frankreich, wie-
der "Elsässer Kurier" in seiner Nummer 40 vom 17. Februar sagt, "eine mehr
prinzipielle und theoretische Frage".

In Elsaß-Lothringen aber handelt es sich um eine praktische Frage von
größter aktueller Bedeutung, "um eine Forderung drs Volksempfindens".
"Wir sind an ein gewisses Maß von Selbstbewegung gewöhnt aus d^r Zeit
des elsaß-lothringischen Freiheitsstrebens, wo alles Ringen darauf hinan-ging,
den Nahmen dieser Bewegungsfreiheit zu erweitern." ("Eis. Kurier" ebenda.)
Und so fordern denn die Vertreter des portikularistischen Gedankens in Elsaß-
Lothringen eine "demokratische Reform": "Die Bevölkerung muß die
Fragen der Neuordnung entscheiden." Dem Generalkommissar sei Vollmacht ge¬
geben, durch Verordnung die französische Gesetzgebung stückweise in Elsaß-Loth¬
ringen einzuführen unter Abschaffung des Bestehenden. Das sei ein weitgehendes
Vorrecht, "wie es die freiere Diktatur in Elsaß-Lothringen nicht darstellte". Es
legt ein großes Stück legislativer Gewalt in die Hand eines Mannes. Wir
wüßten nicht, wo sonst irgendwo dergleichen noch zu finden wäre. Dieser Stand
der Dinge ist sehr anfechtbar. Er erscheint als moderner, demokratischer und re¬
publikanischer Gesinnung widersprechend und dem Gedanken der Volkssouveränität
zuwiderlaufend." ("Eis. Kurier" ebenda.)

Es handelt sich also in Elsaß-Lothringen um die Selbstbehauptung eigen-^
artig entwickelten, vom Gedanken eigenstaatlichen Lebens erfaßten, kulturell nicht
französischen Volkstums gegen den Zentralismus des bisherigen Frankreich, nicht
um die Einführung einer provinziellen Verfassung, die den Geist der Selbste
Verwaltung erst wieder zur rechten Entfaltung bringen soll.

Die Frage des Regionalismus für Jnnerfrankreich und die Frage der
Autonomie Elsaß-Lothringens sind daher zwei grundverschiedene Probleme. Des¬
halb auch wird vom Elsaß aus die Verkoppelung der beiden abgelehnt. Jean
Hennessy, der Präsident der Regionalistengruppe in der Kammer, hat seinen
.Kollsgen, gleichzeitig mit Millerands Vorlage über die regionalistische Ausgestaltung
Elsaß-Lothringens, einen Entwurf für die entsprechende Umformung des fran¬
zösischen Staates zugehen lassen. Der "Elsässer Kurier" bemerkt dazu: "Es liegt
nahe, daß die beiden Entwürfe in der Kammer auf gleichem Fuße behandelt
werden könnten, und dies erscheint uns als nicht wünschenswert. Es würde die
Gefahr der Verschleppung unserer elsaß-lothringischen Forderungen mit sich
bringen und zugleich die Gefahr einer gleichen Behandlung von zwei Problemen"
die ein sehr verschiedenes Gesicht zeigen."




Der elsaß-lothringische und der französische Regionalismus

zum Opfer brachten, bitier empfunden, weil der übertriebene Zentralismus mit
seiner Perfektenwirtschaft eine vernünftige Selbstverwaltung unmöglich macht. Die
Vertreter des Regionalismus in Jnnerfrankreich wollen dem Geist der provinziellen
Selbstverwaltung — von dem sie hoffen, daß er trotz der zentralistischen Knebe¬
lung von vier Menschenaltern noch unter der Asche glimme — durch eine ent¬
sprechende Gesetzgebung wieder zum Leben verhelfen. Es ist für Frankreich, wie-
der „Elsässer Kurier" in seiner Nummer 40 vom 17. Februar sagt, „eine mehr
prinzipielle und theoretische Frage".

In Elsaß-Lothringen aber handelt es sich um eine praktische Frage von
größter aktueller Bedeutung, „um eine Forderung drs Volksempfindens".
„Wir sind an ein gewisses Maß von Selbstbewegung gewöhnt aus d^r Zeit
des elsaß-lothringischen Freiheitsstrebens, wo alles Ringen darauf hinan-ging,
den Nahmen dieser Bewegungsfreiheit zu erweitern." („Eis. Kurier" ebenda.)
Und so fordern denn die Vertreter des portikularistischen Gedankens in Elsaß-
Lothringen eine „demokratische Reform": „Die Bevölkerung muß die
Fragen der Neuordnung entscheiden." Dem Generalkommissar sei Vollmacht ge¬
geben, durch Verordnung die französische Gesetzgebung stückweise in Elsaß-Loth¬
ringen einzuführen unter Abschaffung des Bestehenden. Das sei ein weitgehendes
Vorrecht, „wie es die freiere Diktatur in Elsaß-Lothringen nicht darstellte". Es
legt ein großes Stück legislativer Gewalt in die Hand eines Mannes. Wir
wüßten nicht, wo sonst irgendwo dergleichen noch zu finden wäre. Dieser Stand
der Dinge ist sehr anfechtbar. Er erscheint als moderner, demokratischer und re¬
publikanischer Gesinnung widersprechend und dem Gedanken der Volkssouveränität
zuwiderlaufend." („Eis. Kurier" ebenda.)

Es handelt sich also in Elsaß-Lothringen um die Selbstbehauptung eigen-^
artig entwickelten, vom Gedanken eigenstaatlichen Lebens erfaßten, kulturell nicht
französischen Volkstums gegen den Zentralismus des bisherigen Frankreich, nicht
um die Einführung einer provinziellen Verfassung, die den Geist der Selbste
Verwaltung erst wieder zur rechten Entfaltung bringen soll.

Die Frage des Regionalismus für Jnnerfrankreich und die Frage der
Autonomie Elsaß-Lothringens sind daher zwei grundverschiedene Probleme. Des¬
halb auch wird vom Elsaß aus die Verkoppelung der beiden abgelehnt. Jean
Hennessy, der Präsident der Regionalistengruppe in der Kammer, hat seinen
.Kollsgen, gleichzeitig mit Millerands Vorlage über die regionalistische Ausgestaltung
Elsaß-Lothringens, einen Entwurf für die entsprechende Umformung des fran¬
zösischen Staates zugehen lassen. Der „Elsässer Kurier" bemerkt dazu: „Es liegt
nahe, daß die beiden Entwürfe in der Kammer auf gleichem Fuße behandelt
werden könnten, und dies erscheint uns als nicht wünschenswert. Es würde die
Gefahr der Verschleppung unserer elsaß-lothringischen Forderungen mit sich
bringen und zugleich die Gefahr einer gleichen Behandlung von zwei Problemen»
die ein sehr verschiedenes Gesicht zeigen."




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337236/136>, abgerufen am 22.07.2024.